Entscheidungsstichwort (Thema)
politische Weiterbildung
Leitsatz (amtlich)
1. Der Begriff politische Weiterbildung in § 1 Abs. 2 Satz 1 AWbG ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der in der Revisionsinstanz nur der eingeschränkten Prüfung unterliegt, ob das Landesarbeitsgericht vom zutreffenden Rechtsbegriff ausgegangen ist, ob es diesen bei der Subsumtion beibehalten hat, ob ihm bei seiner Anwendung Verstöße gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze unterlaufen sind und ob es alle entscheidungserheblichen Tatumstände berücksichtigt hat (Bestätigung der Senatsurteile vom 19. Mai 1998 – 9 AZR 395/97 – und – 9 AZR 396/97 – beide n.v.).
2. Eine Bildungsveranstaltung dient auch dann der politischen Weiterbildung i.S.v. § 1 Abs. 2 Satz 1 AWbG, wenn sie nicht auf die spezifischen Bedürfnisse und Interessen von Arbeitnehmern ausgerichtet ist (Bestätigung des Senatsurteils vom 24. August 1993 – 9 AZR 240/90 – BAGE 74, 99, 107 = AP Nr. 9 zu § 1 BildungsurlaubsG NRW, zu I 2 c bb der Gründe).
Normenkette
Erstes Gesetz zur Ordnung und Förderung der Weiterbildung im Lande Nordrhein-Westfalen - Weiterbildungsgesetz - (WbG) § 2 Abs. 4; AWbG §§ 1, 7, 9; ZPO § 256
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 24. Juli 1997 – 13 Sa 775/97 – aufgehoben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an eine andere Kammer des Landesarbeitsgerichts zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Verpflichtung des beklagten Landes, dem Kläger fünf Urlaubstage aus dem Jahre 1996 nachzugewähren.
Der Kläger ist seit 1979 bei der B angestellt. Er wird in deren Rechenzentrum als Systemprogrammierer beschäftigt. Am 8. Oktober 1996 beantragte er bei dem für die Personalangelegenheiten zuständigen Kanzler, ihn für den Besuch der von der Weiterbildungseinrichtung Forum Unna für den 18. November bis 22. November 1996 ausgeschriebenen Veranstaltung „Sylt – Eine Insel in Not” von der Arbeit freizustellen. Diese Veranstaltung war als Arbeitnehmerweiterbildung von der Bildungsberatung und Bildungswerbung der Stadt Köln in der Broschüre „Bildungsurlaubsangebote in NRW” wie folgt angekündigt:
Der Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer schützt seit mehreren Jahren das größte zusammenhängende Wattengebiet der Erde. Ziel des Seminars ist es, sich einen Überblick über den Lebensraum zu verschaffen und den Zusammenhang zwischen Meeresverschmutzung, Klimaveränderungen und Zerstörung des Wattenmeers begreifbar zu machen.
Der Kanzler lehnte mit Schreiben vom 14. Oktober 1996 eine Freistellung ab. Dem widersprach der Kläger und beantragte beim Arbeitsgericht den Erlaß einer einstweiligen Verfügung. In der mündlichen Verhandlung vor dem Arbeitsgericht haben die Parteien am 12. November 1996 den Vergleich geschlossen:
- Der Kläger ist berechtigt, in der Zeit vom 18.11.-22.11.96 an der Bildungsveranstaltung „Sylt – eine Insel in Not” teilzunehmen.
- Ob diese Arbeitsbefreiung als Weiterbildung nach dem Arbeitnehmerweiterbildungsgesetz Nordrhein-Westfalen von der Beklagten unter Lohnfortzahlung zu tragen ist oder auf den Erholungsurlaub des Klägers anzurechnen ist, soll vom rechtskräftigen Ausgang des Hauptsacheverfahrens abhängig sein.
Mit der am 6. Dezember 1996 zur Hauptsache erhobenen Klage hat der Kläger beantragt
festzustellen, daß die Beklagte den Kläger in der Zeit vom 18. November bis 22. November 1996 von der Arbeit zum Zwecke der beruflichen und politischen Weiterbildung nach dem Arbeitnehmerweiterbildungsgesetz für die Bildungsurlaubsveranstaltung „Sylt – eine Insel in Not” freizustellen hat und der vorbezeichnete Zeitraum nicht auf den tariflichen Jahresurlaub des Klägers anzurechnen ist.
Das beklagte Land hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers ist vom Landesarbeitsgericht zurückgewiesen worden. Mit der zugelassenen Revision verfolgt der Kläger weiterhin seinen erstinstanzlichen Klageantrag.
Entscheidungsgründe
I. Die Revision des Klägers ist begründet. Die Begründung, mit der das Landesarbeitsgericht die begehrte Feststellung abgelehnt hat, hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Die Entscheidung stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar.
1. Die vom Kläger erhobene Feststellungsklage ist nach § 256 Abs. 1 ZPO zulässig. Zwar ist sie dem Wortlaut nach auf die Feststellung eines vergangenen Rechtsverhältnisses gerichtet. Aber erkennbares Ziel des Antrages ist die Feststellung eines gegenwärtigen Rechtsverhältnisses. Der Kläger begehrt entsprechend dem am 12. November 1996 im einstweiligen Verfügungsverfahren abgeschlossenen Vergleich eine gerichtliche Feststellung darüber, ob die vom 18. November bis 22. November 1996 besuchte Bildungsveranstaltung „Sylt – Eine Insel in Not” als anerkannt i.S.v. § 9 Satz 1 AWbG gilt und der Arbeitgeber nach § 7 AWbG für die Zeit der Weiterbildung zur Entgeltfortzahlung verpflichtet war. Für diese begehrte Feststellung besteht auch das von Amts wegen noch in der Revisionsinstanz zu prüfende Feststellungsinteresse (vgl. BAG Urteil vom 25. Februar 1987 – 8 AZR 430/84 – BAGE 54, 210 = AP Nr. 3 zu § 52 BAT; Senatsurteil vom 21. September 1993 – 9 AZR 580/90 – BAGE 74, 201 = AP Nr. 22 zu § 256 ZPO 1977). Vom Ausgang dieses Feststellungsverfahrens hängt die im Vergleich geregelte Verpflichtung der Beklagten zur Nachgewährung von Urlaub im laufenden Urlaubsjahr ab.
2. Das Landesarbeitsgericht hat festgestellt, das beklagte Land habe zu Recht die Freistellung des Klägers abgelehnt, weil die besuchte Veranstaltung nicht der politischen Weiterbildung i.S.v. § 1 Abs. 1 AWbG gedient habe. Der Veranstaltung habe jeglicher Bezug auf die Arbeitnehmereigenschaft der Teilnehmer gefehlt. Das habe bereits das Arbeitsgericht erkannt. Im übrigen enthalte das Programm der Veranstaltung allenfalls periphere politische Gesichtspunkte. Eine Interpretation, sämtliche Programmteile der Veranstaltung seien integrale Bestandteile eines einheitlichen didaktischen Konzepts sei „zu hoch angesiedelt”. Der konturenlose Gesetzesbegriff der politischen Weiterbildung vertrage keine derart extensive Auslegung. Das gelte insbesondere für Zeiten der Massenarbeitslosigkeit sowie herber Einschränkungen arbeitsrechtlicher Schutzvorschriften.
3. Dem kann nicht zugestimmt werden.
a) Das Landesarbeitsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, daß eine Freistellungs- und Entgeltfortzahlungspflicht nach § 1 Abs. 1, § 7 Satz 1 AWbG nur zum Zwecke der beruflichen und politischen Weiterbildung in anerkannten Bildungsveranstaltungen besteht. Hier ist umstritten, ob die Veranstaltung entsprechend § 1 Abs. 2 AWbG der politischen Weiterbildung dient. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats dient eine Veranstaltung dann dem Ziel der politischen Weiterbildung, wenn das Verständnis der Arbeitnehmer für gesellschaftliche, soziale und politische Zusammenhänge verbessert sowie die in einem demokratischen Gemeinwesen anzustrebende Mitsprache und Mitverantwortung in Staat, Gesellschaft und Beruf gefördert werden soll. Dazu ist erforderlich, daß nach dem didaktischen Konzept der Veranstaltung sowie der zeitlichen und sachlichen Ausrichtung der einzelnen Lerneinheiten das Erreichen dieses Ziels uneingeschränkt ermöglicht wird (BAG Urteile vom 15. Juni 1993 – 9 AZR 411/89 – AP Nr. 5 zu § 1 BildungsurlaubsG NRW; vom 9. Mai 1995 – 9 AZR 185/94 – BAGE 80, 94 = AP Nr. 14 zu § 1 BildungsurlaubsG NRW; vom 24. Oktober 1995 – 9 AZR 433/94 – BAGE 81, 185 = AP Nr. 16 zu § 1 BildungsurlaubsG NRW; vom 19. Mai 1998 – 9 AZR 395/97 – n.v.). Unter diesen Voraussetzungen hat der Senat Seminare zur Umweltschutzpolitik auch dann als politische Weiterbildung beurteilt, wenn sie sich beispielhaft mit den Verhältnissen einer bestimmten Region in Deutschland befassen (vgl. Urteile vom 24. August 1993 – 9 AZR 240/90 – BAGE 74, 99 = AP Nr. 9 zu § 1 BildungsurlaubsG NRW; vom 5. Dezember 1995 – 9 AZR 666/94 – BAGE 81, 328 = AP Nr. 22 zu § 1 BildungsurlaubsG NRW; vom 19. Mai 1998 – 9 AZR 396/97 – n.v.).
b) Das Tatbestandsmerkmal „dient der politischen Weiterbildung” ist ein unbestimmter Rechtsbegriff (vgl. Senatsurteile vom 19. Mai 1998 – 9 AZR 395/97 – und – 9 AZR 396/97 – beide n.v.). Da bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe den Tatsacheninstanzen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ein Beurteilungsspielraum zukommt (vgl. BAG Urteile vom 19. Juni 1991 – 2 AZR 127/91 – AP Nr. 53 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung; vom 11. September 1991 – 4 AZR 64/91 – AP Nr. 7 zu § 51 TVAL II; vom 17. Februar 1998 – 1 AZR 386/97 – AP Nr. 152 zu Art. 9 GG Arbeitskampf, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen), unterliegt die Anwendung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs in der Revisionsinstanz nur einer eingeschränkten Überprüfung. Es kann nur geprüft werden, ob das Landesarbeitsgericht vom zutreffenden Rechtsbegriff ausgegangen ist, ob es diesen bei der Subsumtion beibehalten hat, ob ihm bei seiner Anwendung Verstöße gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze unterlaufen sind und ob es alle entscheidungserheblichen Tatumstände berücksichtigt hat (BAG Urteile vom 18. Juni 1975 – 4 AZR 398/74 – AP Nr. 87 zu §§ 22, 23 BAT; vom 4. August 1993 – 4 AZR 511/92 – AP Nr. 38 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel; vom 29. Oktober 1997 – 5 AZR 624/96 – AP Nr. 30 zu § 554 ZPO, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen; vom 17. Februar 1998 – 1 AZR 386/97 – AP Nr. 152 zu Art. 9 GG Arbeitskampf, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen; vom 18. Februar 1998 – 4 AZR 581/96 – AP Nr. 239 zu §§ 22, 23 BAT 1975, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen).
c) Die Revision rügt zu Recht, daß das Landesarbeitsgericht nicht den Rechtsbegriff politische Weiterbildung zugrunde gelegt hat, der sich aus der ständigen Rechtsprechung des Senats ergibt. Das Landesarbeitsgericht hat die Auffassung der Vorinstanz geteilt, daß ein besonderer „Bezug auf die Arbeitnehmereigenschaft” vorausgesetzt werde. Das entspricht nicht der Senatsrechtsprechung. Eine Bildungsveranstaltung dient auch dann der politischen Weiterbildung, wenn sie nicht speziell auf die Bedürfnisse und Interessen von Arbeitnehmern ausgerichtet ist. Ein einschränkender Bezug auf die Arbeitnehmereigenschaft ergibt sich nicht aus dem Gesetz. § 1 Abs. 2 Satz 1 AWbG enthält keine Beschränkung. § 1 Abs. 2 Satz 2 AWbG erweitert den möglichen inhaltlichen Rahmen der politischen Weiterbildung auf Lehrveranstaltungen, die auf die Stellung des Arbeitnehmers in Staat, Gesellschaft, Familie oder Beruf bezogen sind (Senatsurteil vom 24. August 1993 – 9 AZR 240/90 – BAGE 74, 99, 107 = AP Nr. 9 zu § 1 BildungsurlaubsG NRW, zu I 2 c bb der Gründe).
d) Soweit das Landesarbeitsgericht in den weiteren Entscheidungsgründen von dem in der Senatsrechtsprechung entwickelten Begriff der politischen Bildung ausgegangen ist, fehlt es an der erforderlichen Subsumtion und einer nachvollziehbaren rechtlichen Würdigung. Weder hat das Landesarbeitsgericht festgestellt, welches didaktische Konzept der Planung und der Durchführung der Bildungsmaßnahme zugrunde lag, noch im einzelnen begründet, warum die zeitliche und sachliche Ausrichtung der einzelnen Lerneinheiten nicht auf das Ziel der politischen Weiterbildung, Mitsprache zu verbessern und Mitverantwortung zu erhöhen, ausgerichtet war. Die pauschalen Werturteile, das Programm enthalte „allenfalls periphere politische Gesichtspunkte”, die Annahme eines einheitlichen didaktischen Konzepts sei „zu hoch angesiedelt”, und die Erwägung, die derzeitige wirtschaftliche Situation lasse die Inanspruchnahme von Arbeitnehmerweiterbildung durch Angestellte des öffentlichen Dienstes als unverständlich erscheinen, ersetzen weder die erforderliche Subsumtion noch sind sie für eine sachgerechte Beurteilung von Bedeutung.
4. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar.
Die vom Kläger besuchte Veranstaltung erfüllt die übrigen Voraussetzungen i.S.v. § 9 Satz 1 AWbG. Sie ist durchgeführt worden von dem Forum Unna, einer anerkannten Einrichtung der Weiterbildung in anderer Trägerschaft (§ 9 Satz 1 Buchst. a 2. Alt. AWbG). Die Durchführung entsprach auch der in § 9 Satz 1 AWbG in Bezug genommenen Bestimmung des § 2 Abs. 4 des Weiterbildungsgesetzes (WbG). Da die Bildungsveranstaltung öffentlich in der von der Stadt Köln herausgegebenen Übersicht über die Bildungsurlaubsangebote in NRW angekündigt worden ist, war sie „für jedermann zugänglich”.
II. Die Sache ist nicht zur Entscheidung reif. Für eine Beurteilung der Frage, ob die besuchte Veranstaltung der politischen Weiterbildung gedient hat, fehlen die maßgeblichen Grundlagen.
1. Entgegen der Ansicht der Revision ist die Erfüllung des Merkmals „dient der politischen Weiterbildung” in § 1 Abs. 2 Satz 1 AWbG entscheidungserheblich. Die Freistellung nach § 1 Abs. 1 AWbG war nicht schon deshalb geboten, weil sich ansonsten das Land widersprüchlich verhielte. Der Kläger meint zwar, das Land habe sich selbst wegen der Genehmigung der umstrittenen Veranstaltung durch den zuständigen Minister gebunden. Der Kläger verkennt jedoch das behördliche Anerkennungsverfahrens nach dem AWbG. Die Veranstaltung ist nicht im Einzelfall geprüft und vom zuständigen Minister nach § 9 Satz 1 Buchst. d AWbG genehmigt worden. Aus dem von dem Kläger vorgelegten Schreiben des Ministerpräsidenten vom 27. Juli 1992 geht hervor, daß das Forum Unna als Einrichtung der Weiterbildung in anderer Trägerschaft nach § 9 Satz 1 Buchst. a 2. Alt. AWbG anerkannt worden ist. Somit bedurfte es keiner Einzelfallprüfung und Genehmigung der besuchten Veranstaltung. Eine mögliche Selbstbindung des beklagten Landes an eine im Genehmigungsverfahren vertretene Beurteilung als eine § 1 Abs. 2 AWbG entsprechende politische Weiterbildung scheidet schon deshalb aus.
2. Nach § 565 Abs. 1 Satz 2 ZPO war die Sache zur anderweiten Verhandlung an eine andere Kammer des Berufungsgerichts zurückzuverweisen. Das Landesarbeitsgericht wird in der erneuten Berufungsverhandlung die erforderlichen Feststellungen zum didaktischen Konzept sowie zur zeitlichen und sachlichen Ausrichtung der einzelnen Lerneinheiten zu treffen und hiernach ausgehend von dem vom Senat geprägten Begriff zu beurteilen haben, ob die Veranstaltung der politischen Weiterbildung gedient hat.
Unterschriften
Düwell, Reinecke, Friedrich, Jungermann, Klosterkemper
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 17.11.1998 durch Brüne, Reg.-Obersekretärin als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
Fundstellen
DB 1999, 2423 |
NWB 1999, 2351 |
EBE/BAG 1999, 95 |
FA 1999, 239 |
NZA 1999, 872 |
RdA 1999, 421 |