Entscheidungsstichwort (Thema)
Umfang einer tarifvertraglichen Ausschlußfrist. Zur Auslegung der Verfallklausel des § 10 Ziff. 5 MTV vgl. auch die Entscheidung des Senats vom 16. Januar 1991 – 4 AZR 320/90 – AP Nr. 29 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel
Leitsatz (amtlich)
- Die Verfallklausel des § 10 Ziff. 5 des Manteltarifvertrages (MTV) für den Einzelhandel in Bayern erfaßt nicht den Anspruch eines Beschäftigten auf Nachzahlung von Gehalt oder Lohn wegen Einstufung in eine zu niedrige Tarifstufe; der Verfall dieses Anspruchs richtet sich vielmehr nach der allgemeinen Verfallklausel des § 24 Ziff. 2 Abs. 2 MTV.
- Die Spezialregelung des § 10 Ziff. 5 MTV gilt vielmehr lediglich für den Anspruch auf Nachzahlung von Gehalt oder Lohn wegen Eingruppierung in eine zu niedrige Tarifgruppe.
Normenkette
TVG § 1 Tarifverträge: Einzelhandel; Manteltarifvertrag vom 11. Juli 1989 für den Einzelhandel in Bayern (MTV) § 10 Ziff. 5
Verfahrensgang
LAG München (Urteil vom 15.12.1993; Aktenzeichen 9 Sa 464/93) |
ArbG Rosenheim (Urteil vom 15.12.1992; Aktenzeichen 4 Ca 149/92) |
Tenor
- Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts München vom 15. Dezember 1993 – 9 Sa 464/93 – aufgehoben, soweit es die Klage in Höhe von 1.639,00 DM nebst 4 % Zinsen auf den sich daraus ergebenden Nettobetrag abgewiesen hat.
- Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Rosenheim vom 15. Dezember 1992 – 4 Ca 149/92 – Mü wird im Umfang der Aufhebung des Urteils des Landesarbeitsgerichts zurückgewiesen.
Das Urteil des Arbeitsgerichts wird zur Klarstellung wie folgt neu gefaßt:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.782,00 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich daraus ergebenden Nettobetrag seit dem 22. Februar 1992 zu zahlen.
- Die Beklagte hat auch die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Klägerin nimmt, soweit es für das Revisionsverfahren noch von Interesse ist, die Beklagte auf Zahlung restlichen Gehalts für die Monate April 1990 bis März 1991 in Anspruch. Dabei geht der Streit der Parteien allein darum, ob die Vergütungsansprüche der Klägerin nach § 10 Ziff. 5 des Manteltarifvertrages vom 11. Juli 1989 für den Einzelhandel in Bayern (MTV) erloschen sind.
Die am 17. September 1950 geborene Klägerin hat vor ihrem Eintritt in die Dienste der Beklagten bei verschiedenen Unternehmen der Privatwirtschaft außerhalb des Einzelhandels als kaufmännische Angestellte, Phonotypistin und Datentypistin gearbeitet. Seit dem 19. März 1990 ist sie bei der Beklagten, einem Unternehmen des Einzelhandels, das Verbrauchermärkte betreibt, in dem Warenannahmebüro in deren Filiale in A… beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis richtet sich nach dem schriftlichen Arbeitsvertrag vom 31. Januar 1990. Unter Ziff. 4 dieses Vertrages ist ein monatliches Bruttogehalt von 2.200,00 DM vereinbart und bestimmt, daß die Klägerin “in die Gehaltsgruppe G II des Gehaltstarifvertrages des Einzelhandels eingruppiert” werde. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit die Tarifverträge für den Einzelhandel in Bayern Anwendung. Ab Mai 1991 belief sich das monatliche Bruttogehalt der Klägerin auf 2.500,00 DM, ab Mai 1992 auf 2.532,00 DM.
Zwischen den Parteien bestand seit Beginn des Arbeitsverhältnisses Einigkeit darüber, daß der Klägerin gegenüber der Beklagten ein tarifvertraglicher Anspruch auf Gehalt nach der Beschäftigungsgruppe II Ortsklasse II Staffel B des Gehaltstarifvertrages vom 11. Juli 1989 für den Einzelhandel in Bayern (GTV) zustand. Streitig war hingegen zwischen den Parteien, ob sich das Gehalt der Klägerin nach der Gehaltsstufe für das erste Berufsjahr oder für das sechste Berufsjahr richtete. Dieser Streit hatte seine Wurzel in der unterschiedlichen Beurteilung der Rechtsfrage, ob als Berufsjahre im Sinne des § 2 GTV auch kaufmännische Tätigkeiten außerhalb des Einzelhandels mitzuberücksichtigen sind. Die Gehaltsdifferenzen hat die Klägerin mit Schreiben vom 1. Juli 1991, der Beklagten zugegangen am 3. Juli 1991, gegenüber der Beklagten erfolglos geltend gemacht. Mit ihrer Klage hat sie die Nachzahlungsansprüche gerichtlich weiterverfolgt. Ihre Nachforderung belief sich für April 1990 auf 66,00 DM brutto und für die Monate Mai 1990 bis April 1991 auf jeweils 143,00 DM brutto.
Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, für die Bestimmung der Gehaltshöhe seien bei der Berechnung der Berufsjahre auch kaufmännische Tätigkeiten außerhalb des Einzelhandels mitzuberücksichtigen. Ihr Vergütungsanspruch sei auch nicht wegen Versäumung der Frist des § 10 Ziff. 5 MTV erloschen, denn diese Verfallfrist sei nicht einschlägig; sie betreffe nur Ansprüche wegen fehlerhafter Eingruppierung durch den Arbeitgeber. Ihre Eingruppierung sei jedoch unstreitig zutreffend. Unzutreffend sei vielmehr die Berechnung der Berufsjahre. Ansprüche wegen fehlerhafter Berechnung der Berufsjahre seien von der Verfallklausel des § 10 Ziff. 5 MTV nicht erfaßt.
Die Klägerin hat zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 1.846,00 DM brutto nebst 4 % Zinsen seit 22. Februar 1992 aus dem sich errechnenden Nettobetrag zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat geltend gemacht, kaufmännische Tätigkeiten außerhalb des Einzelhandels seien nicht als Berufsjahre im Sinne des § 2 GTV mitzuberücksichtigen. Alle Vergütungsansprüche der Klägerin, die bei der Geltendmachung am 3. Juli 1991 älter als drei Monate gewesen seien, seien gemäß § 10 Ziff. 5 MTV verfallen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage nach dem zuletzt gestellten Antrag stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat unter – teilweiser – Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts die Klage hinsichtlich des 143,00 DM brutto nebst der darauf entfallenden Zinsen übersteigenden Betrages abgewiesen und die Revision zugelassen. Mit ihrer in der Revisionsverhandlung mit Zustimmung der Beklagten eingeschränkten Revision erstrebt die Klägerin die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils bezüglich der restlichen Vergütung für die Zeit von April 1990 bis März 1991; diese beläuft sich auf 1.639,00 DM brutto. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist nach dem zuletzt in der Revisionsinstanz gestellten Antrag begründet.
I. In der Revisionsinstanz besteht zwischen den Parteien kein Streit mehr darüber, daß zugunsten der Klägerin für die Zeit ab April 1990 ein tariflicher Anspruch auf Gehalt nach der Beschäftigungsgruppe II Ortsklasse II Staffel B Stufe “ab 6. Berufsjahr” des § 2 Ziff. 2 GTV entstanden ist. Die Parteien streiten nunmehr, nachdem die Klägerin die Abweisung der Klage durch das Landesarbeitsgericht in Höhe von 64,00 DM brutto für die Monate Mai und Juni 1991 nicht mehr angreift, nur noch über die Frage, ob die Nachzahlungsansprüche der Klägerin für die Zeit von April 1990 bis März 1991 nach § 10 Ziff. 5 MTV wegen Versäumung der dort geregelten Ausschlußfrist erloschen sind. Das ist nicht der Fall. Ihr waren daher – weitere – 1.639,00 DM brutto nebst den geforderten Zinsen zuzusprechen; dies ist – trotz einer auf einem offensichtlichen Rechenfehler beruhenden geringen Differenz zu dem in der Verhandlung ermittelten Wert – ganz eindeutig der Betrag, den die Klägerin in der Revisionsinstanz noch gefordert hat.
1. Die Verfallklausel des § 10 Ziff. 5 MTV betrifft entgegen der vom Landesarbeitsgericht vertretenen Auffassung lediglich Gehaltsnachforderungen wegen fehlerhafter Tarifgruppen-, nicht hingegen wegen fehlerhafter Tarifstufeneingruppierung.
a) Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit die Tarifverträge für den Einzelhandel in Bayern mit unmittelbarer und zwingender Wirkung (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG) Anwendung. Während des Zeitraums, für den die Klägerin die den Gegenstand dieses Rechtsstreits bildenden Ansprüche an die Beklagte stellt, waren dies insbesondere der MTV und der GTV jeweils vom 11. Juli 1989. Von Bedeutung für die Entscheidung des Rechtsstreits sind insbesondere die folgenden Vorschriften des MTV:
“§ 2 Beginn und Änderung des Arbeitsverhältnisses
§ 10 Gehalts- und Lohnregelung
- Die Gehälter bzw. Löhne werden in Gehalts- und Lohntarifverträgen festgelegt. Die darin vereinbarten Entgelte sind Mindestsätze.
- Die Beschäftigten werden im Gehalts- und Lohntarifvertrag in Beschäftigungsgruppen bzw. Lohngruppen eingestuft. Für die Eingruppierung kommt es auf die tatsächlich verrichtete Tätigkeit an.
- Übt ein Beschäftigter/eine Beschäftigte dauernd mehrere Tätigkeiten nebeneinander aus, die unter verschiedene Beschäftigungs- oder Lohngruppen fallen, erfolgt die Eingruppierung entsprechend der zeitlich überwiegenden Tätigkeit. Läßt sich eine überwiegende Tätigkeit nicht feststellen, erfolgt die Bezahlung nach der höheren Beschäftigungs- bzw. Lohngruppe.
- Ist ein Beschäftigter/eine Beschäftigte vorübergehend länger als vier Wochen mit Arbeiten beschäftigt, die eine Eingruppierung in eine höhere Beschäftigungs- bzw. Lohngruppe bedingen, ist nach dieser Zeit eine Ausgleichsvergütung zu zahlen, die dem Unterschied beider Beschäftigungs- oder Lohngruppen entspricht.
Der Einspruch gegen die Eingruppierung in eine Beschäftigungs- oder Lohngruppe ist innerhalb einer Frist von drei Monaten zu erheben.
Ist ein Einspruch nicht rechtzeitig erfolgt, kann ein Anspruch für einen weiter als drei Monate zurückliegenden Zeitraum nicht geltend gemacht werden.
- …
§ 24 Verfallklausel
- Der/die Beschäftigte ist zur sofortigen Nachprüfung des ausbezahlten Geldbetrages bzw. seiner/ihrer Entgeltabrechnung verpflichtet. Differenzen sind unverzüglich zu melden.
Ansprüche auf Bezahlung von Mehrarbeit, Nachtarbeit, Sonntags- und Feiertagsarbeit sowie Spätöffnungsarbeit erlöschen mit dem Ablauf von drei Monaten nach ihrer Entstehung, wenn sie nicht innerhalb dieser Frist geltend gemacht werden. Der Urlaubsanspruch erlischt drei Monate nach Ablauf des Kalenderjahres bzw. Beendigung des Arbeitsverhältnisses, in dem das Recht auf Urlaub erworben ist, es sei denn, daß der Anspruch rechtzeitig, aber erfolglos dem Arbeitgeber oder seinem Stellvertreter gegenüber geltend gemacht wurde.
Alle übrigen aus dem Tarifvertrag und dem Arbeitsverhältnis entstandenen gegenseitigen Ansprüche sind spätestens innerhalb von drei Monaten nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses geltend zu machen, ausgenommen hiervon sind Ansprüche aus § 10 Ziffer 5.
Vorstehende Fristen gelten als Ausschlußfristen.
- …
”
b) Das Landesarbeitsgericht hat zum Umfang der Verfallklausel des § 10 Ziff. 5 MTV ausgeführt, der dort verwandte Begriff der Eingruppierung meine nicht lediglich die Zuordnung zu einer Beschäftigungsgruppe, sondern auch die Zuordnung zur richtigen Ortsklasse und die Einstufung in das richtige Berufsjahr, da sich die Höhe der Vergütung nach dem Gehaltstarifvertrag aus diesen drei Komponenten zusammensetze und sich nicht allein aus der Einstufung in eine bestimmte Beschäftigungsgruppe ergebe. § 10 Ziff. 5 MTV diene dem Zweck, Rechtssicherheit zu schaffen und Vergütungsansprüche während des noch bestehenden Arbeitsverhältnisses zu klären. Dieser Zweck wäre nicht erreicht, wenn von § 10 Ziff. 5 MTV nur die Einstufung in eine bestimmte Beschäftigungsgruppe erfaßt wäre, nicht aber auch diejenige in die Ortsklasse und in das Berufsjahr, da die Höhe der monatlichen Vergütung nicht allein nach der Beschäftigungsgruppe zu bestimmen sei. Es käme bei anderer Betrachtungsweise zu dem kuriosen Ergebnis, daß Ansprüche, die sich aus einer unrichtigen Einstufung in eine Beschäftigungsgruppe ergäben, nur innerhalb von drei Monaten geltend gemacht werden könnten, dagegen Ansprüche aus einer unrichtigen Ortsklasse und einer unrichtigen Zuordnung von Berufsjahren gemäß § 24 Ziff. 2 MTV bis zu drei Monaten nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses geltend gemacht werden könnten. Eine Rechtssicherheit und Rechtsklarheit würde somit, was die Höhe der monatlichen Vergütung angehe, während des Bestehens des Arbeitsverhältnisses nicht eintreten; dies sei von den Tarifvertragsparteien nicht gewollt. Es sei nämlich kein einleuchtender Grund ersichtlich, wieso ein Arbeitnehmer die unrichtige Einstufung in eine Beschäftigungsgruppe innerhalb einer Frist von drei Monaten geltend machen müsse, er dagegen für die Monierung der unrichtigen Einstufung in die Ortsklasse und in die Berufsjahre bis zu drei Monaten nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses Zeit haben solle.
c) Diese Ausführungen des Landesarbeitsgerichts halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.
Zutreffend geht das Landesarbeitsgericht davon aus, daß für den Verfall von Gehalts- und Lohnansprüchen wegen fehlerhafter Eingruppierung in eine Beschäftigungs- oder Lohngruppe nicht die allgemeine Verfallklausel des § 24 Ziff. 2 Abs. 2 MTV, sondern die Spezialregelung des § 10 Ziff. 5 MTV gilt. Das Landesarbeitsgericht hat sich damit der Auffassung des Senats angeschlossen, der in seinem Urteil vom 16. Januar 1991 (– 4 AZR 320/90 – AP Nr. 29 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel) entschieden hat, unter Anspruch im Sinne dieser Vorschrift sei der sich aus der Eingruppierung ergebende Zahlungsanspruch zu verstehen und nicht etwa das Recht, gegen die Eingruppierung Widerspruch zu erheben. Dies folge aus dem Gesamtzusammenhang der Vorschrift. Auch die Parteien gehen mit dieser Auffassung des Senats einig. An ihr ist festzuhalten.
Dem Landesarbeitsgericht kann jedoch nicht darin gefolgt werden, daß die Verfallklausel des § 10 Ziff. 5 MTV auch Ansprüche wegen Zahlung von Gehalt und Lohn nach einer zu niedrigen Tarifstufe einer zwischen den Parteien unstreitigen Tarifgruppe erfaßt. Sie gilt vielmehr nur für Ansprüche wegen Zahlung von Lohn und Gehalt nach einer zu niedrigen Tarifgruppe. Dies folgt aus dem Wortlaut und dem tariflichem Gesamtzusammenhang.
aa) Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften (§ 133 BGB). Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien ist über den reinen Wortlaut hinaus mitzuberücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat (BAGE 42, 86, 89 = AP Nr. 128 zu § 1 TVG Auslegung; BAGE 46, 308, 313, 316 = AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung; BAGE 60, 219, 223, 224 = AP Nr. 127 zu § 611 BGB Gratifikation; BGHZ 105, 222, 223). Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Läßt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages, gegebenenfalls auch eine praktische Tarifübung ergänzend heranziehen. Auch die Praktikabiliät denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (BAGE 42, 86, 89 = AP Nr. 128 zu § 1 TVG Auslegung; BAGE 42, 244, 254 = AP Nr. 2 zu § 21 TVAL II; BAGE 46, 308, 316 = AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung).
bb) Der Beklagten ist darin zuzustimmen, daß die Tarifvertragsparteien im MTV und im GTV keinen Unterschied zwischen den Begriffen “Eingruppierung” und “Einstufung” und den Verben dieser Begriffe machen, sondern sie synonym verwenden. Sie benennen also nicht die Bestimmung der maßgeblichen Tarifgruppe “Eingruppierung”, diejenige der maßgebenden Tarifstufe “Einstufung”. Vielmehr verwenden sie sowohl für die Tarifgruppen- als auch für die Tarifstufenbestimmung den einen wie den anderen Begriff.
Die Ziffern 3 und 4 des § 10 MTV haben die Bestimmung der zutreffenden Tarifgruppe zum Inhalt. Ziffer 3 befaßt sich mit der Frage, wie ein Beschäftigter/eine Beschäftigte einzugruppieren ist, der/die dauernd mehrere Tätigkeiten nebeneinander ausübt, die unter verschiedene Beschäftigungs- oder Lohngruppen fallen, Ziffer 4 mit der Vergütung eines Beschäftigten/einer Beschäftigten, der/die vorübergehend länger als vier Wochen mit Arbeiten beschäftigt ist, die eine Eingruppierung in eine höhere Beschäftigungs- bzw. Lohngruppe bedingen. In beiden Vorschriften wird für die Tarifgruppenbestimmung der Begriff der “Eingruppierung” verwandt. In § 10 Ziffer 2 Satz 1 MTV heißt es hingegen, daß die Beschäftigten im Gehalts- und Lohntarifvertrag “in Beschäftigungsgruppen bzw. Lohngruppen eingestuft” werden. Hier wird also die Tarifgruppenbestimmung mit dem Verb “einstufen” beschrieben. Im nachfolgenden Satz derselben Ziffer des § 10 MTV findet sich für die Tarifgruppenbestimmung hingegen das Substantiv “Eingruppierung”, wenn es dort heißt: “Für die Eingruppierung kommt es auf die tatsächlich verrichtete Tätigkeit an”.
Die synonyme Verwendung der Begriffe “Eingruppierung” und “Einstufung” findet sich auch im GTV. Die Tarifgruppenbestimmung wird in § 2 Ziff. 1 und 2 GTV bezüglich der Beschäftigungsgruppen I A und I B als “Einstufung”, in § 2 Ziff. 2 GTV bezüglich der Beschäftigungsgruppe II als “Eingruppierung” bezeichnet. Auch in § 2 Ziff. 5 GTV wird für die Bestimmung der Beschäftigungsgruppen II der Begriff “Eingruppierung” gewählt. Bei der Begriffswahl wird von den Tarifvertragsparteien gleichwohl nicht durchgängig nach der Zielgruppe differenziert, also: Beschäftigungsgruppe I A und I B = Einstufung, Beschäftigungsgruppen II – V = Eingruppierung. Dies zeigt § 4 GTV. Dort wird im Einleitungssatz, der für alle Beschäftigungsgruppen gilt, die Tarifgruppenbestimmung einheitlich als “Eingruppierung” bezeichnet.
Andererseits werden die Begriffe “Eingruppierung” und “Einstufung” auch für die Tarifstufenbestimmung synonym verwandt: Nach § 2 Ziff. 4c MTV ist im Arbeitsvertrag die “tarifliche Eingruppierung (Tarifgruppe und -stufe)” festzulegen; der Begriff “Eingruppierung” umfaßt nach dem Klammerzusatz somit auch die Tarifstufenbestimmung. Diese wird hingegen in § 2 Ziff. 4 GTV als “Einstufung” in das “Berufsjahr” bezeichnet.
cc) Nach den vorstehenden Ausführungen könnten mit dem “Einspruch gegen die Eingruppierung” im Sinne von § 10 Ziff. 5 MTV auch die Beanstandung der Tarifstufenbestimmung gemeint und daraus abgeleitete Nachzahlungsansprüche von der Verfallklausel erfaßt sein. Schon der Wortlaut des § 10 Ziff. 5 MTV verbietet jedoch diese Auslegung: Die Einhaltung einer Frist von drei Monaten wird dort nicht ohne jede weitere Einschränkung für den Einspruch gegen “die Eingruppierung” vorgesehen, sondern vielmehr für den Einspruch gegen die Eingruppierung “in eine Beschäftigungs- oder Lohngruppe”. Diesem Zusatz hat das Landesarbeitsgericht keine Beachtung geschenkt. Er verbietet es, auch den Einspruch gegen die Eingruppierung in die Tarifstufe als durch die Ausschlußfrist erfaßt anzusehen.
dd) Dieses Auslegungsergebnis findet seine Stütze in einem Vergleich des Wortlauts des § 10 Ziff. 5 Satz 1 MTV mit demjenigen des § 2 Ziff. 4c MTV. In der letztgenannten Vorschrift haben die Tarifvertragsparteien durch einen dem Begriff “tarifliche Eingruppierung” nachgestellten Klammerzusatz -"(Tarifgruppe und -stufe)"- erläutert, was sie unter “tariflicher Eingruppierung” verstehen. Wollten sie den Begriff der Eingruppierung in § 10 Ziff. 5 MTV in demselben Sinne gebrauchen, hätten sie dieses Ziel auf drei Wegen erreichen können: Sie hätten sich entweder auf die Formulierung beschränken können, daß der Einspruch “gegen die Eingruppierung” innerhalb einer Frist von drei Monaten zu erheben sei, denn durch die Klammererläuterung in § 2 Ziff. 4c MTV hatten sie bereits klargestellt, daß unter “Eingruppierung” auch die Tarifstufenbestimmung falle. Stattdessen hätten sie auch hinter dem Begriff “Eingruppierung” in § 10 Ziff. 5 MTV auf § 2 Ziff. 4c MTV verweisen können (Formulierungsbeispiel: “Einspruch gegen die Eingruppierung im Sinne von § 2 Ziff. 4c MTV”). Schließlich hätten sie den Klammerzusatz des § 2 Ziff. 4c MTV – “Tarifgruppe und -stufe” – in § 10 Ziff. 5 MTV wiederholen können. Keinen dieser drei Wege haben sie indessen beschritten, sondern durch den dem Begriff der Eingruppierung beigefügten Zusatz “in eine Beschäftigungs- oder Lohngruppe” diesem einen engeren Begriffsinhalt als in der Vorschrift des § 2 Ziff. 4c MTV gegeben, nach der die Eingruppierung auch die Tarifstufenbestimmung beinhaltet.
ee) Das Landesarbeitsgericht hat bei seiner Auslegung auch unberücksichtigt gelassen, daß es sich bei der Vorschrift des § 10 Ziff. 5 MTV um eine Ausnahmeregelung von der allgemeinen Verfallklausel des § 24 MTV handelt (vgl. Urteil des Senats vom 16. Januar 1991 – 4 AZR 320/90 – AP Nr. 29 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel, unter II der Gründe). Für die Auslegung eines Gesetzes, das eine Ausnahmeregelung enthält, gilt jedenfalls im allgemeinen der Grundsatz, daß dieses eng auszulegen ist (vgl. BGHZ 11, 135, 143, m.w.N.). Durch eine erweiternde Auslegung einer Ausnahmeregelung oder deren analoge Anwendung würde die Regelungsabsicht des Gesetzgebers in das Gegenteil verkehrt (Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. S. 355, 356). Diese Auslegungsregel gilt auch für tarifliche Normen, da die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln folgt. Sie spricht dafür, die Spezialregelung des § 10 Ziff. 5 MTV wortlautgerecht auf Ansprüche zu beschränken, die aus der fehlerhaften Eingruppierung in eine Beschäftigungs- oder Lohngruppe hergeleitet werden.
ff) Diese Auslegung führt auch nicht zu einem “kuriosen Ergebnis”, wie das Landesarbeitsgericht meint.
Als kurios wertet das Landesarbeitsgericht den Umstand, daß dann, wenn man annimmt, die Verfallklausel des § 10 Ziff. 5 MTV erfasse nicht Ansprüche wegen fehlerhafter Tarifstufenbestimmung, diese Ansprüche nach der allgemeinen Verfallklausel des § 24 Ziff. 2 Abs. 2 MTV bis zu drei Monate nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses geltend gemacht werden können, während die Ansprüche wegen fehlerhafter Tarifgruppenbestimmung nach § 10 Ziff. 5 MTV auch während des bestehenden Arbeitsverhältnisses drei Monate nach Fälligkeit verfallen. Für diese unterschiedliche Verfallfristenregelung gibt es aber durchaus plausible Gründe: Ansprüche wegen fehlerhafter Tarifgruppenbestimmung sind häufiger als solche wegen fehlerhafter Tarifstufenbestimmung; dies hat seinen Grund darin, daß die Anwendung von Eingruppierungsmerkmalen wegen der vielfach darin verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe meist deutlich schwieriger ist als diejenige für die Findung von Gehalts- oder Lohnstufen. Regelmäßig ist auch die materielle Bedeutung der Eingruppierungsstreitigkeit im engeren Sinn größer als diejenige bei Vergütungsnachforderungen wegen Bezahlung nach einer zu niedrigen Tarifstufe. Vielfach ist beim Streit über die Eingruppierung schließlich streitig, welche Tätigkeiten der Arbeitnehmer im einzelnen verrichtet hat. Deren Feststellung kann durch Zeitablauf erheblich erschwert werden. Im Unterschied dazu richtet sich die Stufenfindung nach dem MTV/GTV praktisch nur nach dem Werdegang des Arbeitnehmers, der auch für weiter zurückliegende Zeiten meist noch sicher zu klären ist.
Es gibt also durchaus einleuchtende Gründe dafür, für Ansprüche wegen fehlerhafter Eingruppierung im engeren Sinne, weil sie – im Vergleich zu Ansprüchen wegen fehlerhafter Tarifstufenbestimmung – häufiger vorkommen, nach ihren Tatsachenvoraussetzungen schwieriger festzustellen sowie rechtlich schwieriger zu beurteilen und meist von größerer materieller Bedeutung sind, eine strengere Verfallfristenregelung vorzusehen als für die vergleichend genannten Ansprüche.
Letztlich kann aber auf sich beruhen, ob es nicht sachgerecht wäre, die Spezialvorschrift des § 10 Ziff. 5 MTV auf den Einspruch gegen die Eingruppierung in eine Tarifstufe zu erstrekken. Dies zu vereinbaren ist allein Sache der Tarifvertragsparteien. Im Wege der Auslegung der geltenden Fassung des MTV ist dieses Ergebnis nicht zu gewinnen.
d) Der Anspruch der Klägerin auf Nachzahlung der Gehaltsdifferenz für die Monate April 1990 bis März 1991 beläuft sich auf 1.639,00 DM brutto (Gehaltsdifferenz April 1990 66,00 DM; Gehaltsdifferenz Mai 1990 bis März 1991 ≪11 Monate≫ je 143,00 DM). Zusammen mit dem der Klägerin rechtskräftig zuerkannten Betrag von 143,00 DM für April 1991 ergibt dies einen Restanspruch der Klägerin in Höhe von 1.782,00 DM brutto.
2. Gegen den Zinsanspruch der Klägerin, der aus § 288 Abs. 1, § 291 BGB folgt, hat die Beklagte keine Einwendungen erhoben.
II. Die Beklagte hat auch die Kosten der Berufung und der Revision nach §§ 91, 97 Abs. 1 ZPO zu tragen.
Unterschriften
Schaub, Friedrich, Bott, Kiefer, Pfeil
Fundstellen
Haufe-Index 871625 |
BB 1996, 223 |
NZA 1996, 988 |