Entscheidungsstichwort (Thema)

Lohnausgleich bei Fahrdienstuntauglichkeit

 

Leitsatz (amtlich)

Der Anspruch auf Lohnausgleich nach § 16 Abs. 1 Satz 1 des Zusatztarifvertrags BVG Nr. 1 zum BMT-G setzt voraus, daß der Arbeitnehmer eine ununterbrochene mehr als 10 jährige Tätigkeit im Fahrdienst aufzuweisen hat und daß er im Zeitpunkt des Eintritts der Fahrdienstuntauglichkeit im Fahrdienst tätig ist. Nicht erforderlich ist, daß die ununterbrochene mehr als 10 jährige Fahrdiensttätigkeit bis zum Eintritt der Fahrdienstuntauglichkeit gedauert hat.

 

Normenkette

Zusatztarifvertrag BVG Nr. 1 zum BMT-G § 16 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

LAG Berlin (Urteil vom 05.09.1991; Aktenzeichen 7 Sa 34/91)

ArbG Berlin (Urteil vom 05.04.1991; Aktenzeichen 21 Ca 636/90)

 

Tenor

  • Die Revision des beklagten Landes gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 5. September 1991 – 7 Sa 34/91 – wird zurückgewiesen.
  • Das beklagte Land hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen !

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob dem Kläger ein tariflicher Anspruch auf Lohnausgleich zusteht.

Der Kläger ist seit dem 1. April 1974 bei den Berliner Verkehrs-Betrieben (BVG), einem Eigenbetrieb des beklagten Landes, beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet der Bundesmanteltarifvertrag für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe (BMT-G II) nebst den für den Bereich des Eigenbetriebs jeweils geltenden sonstigen Tarifverträgen Anwendung.

Vom 27. Mai 1974 bis zum 10. Oktober 1986 und vom 1. Juli 1988 bis zum 8. Januar 1990 war der Kläger im Fahrdienst tätig. Weil ihm die Fahrerlaubnis entzogen worden war, arbeitete er vom 11. Oktober 1986 bis zum 30. Juni 1988 als Lagerwart. Nach dem Ergebnis einer betriebsärztlichen Untersuchung vom 8. Januar 1990 ist der Kläger als Busfahrer für Ein-Mann-Wagen aus gesundheitlichen Gründen dauernd dienstuntauglich. Seit dem 9. Januar 1990 wird der Kläger als Pförtner weiterbeschäftigt und seit 15. März 1990 als solcher bezahlt. Damit verdient er etwa 1.000,00 DM monatlich weniger als in der zuvor ausgeübten Tätigkeit als Busfahrer. Er verlangt von dem beklagten Land Lohnausgleich unter Berufung auf § 16 Abs. 1 Satz 1 des Zusatztarifvertrags BVG Nr. 1 zum BMT-G vom 5. Oktober 1988. Dieser lautet:

“§ 16

Zum § 16 der Anlage 1 zum BMT-G und zum § 28 BMT-G

  • Arbeiter mit einer regelmäßigen Arbeitszeit gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 BMT-G, die nach dem 31. Dezember 1959 eingestellt worden sind und bereits eine längere als die im § 2 Abs. 1 Nr. 1 der Bestimmungen über die Gewährung von Ruhegeld an die Arbeitnehmer der Berliner Verkehrs-Betriebe (BVG) vom 1. Oktober 1968 in ihrer jeweils gültigen Fassung bezeichnete ununterbrochene Tätigkeit im Fahrdienst aufzuweisen haben, erhalten, sofern sie ohne ihr Verschulden untauglich für ihre bisherige Tätigkeit im Fahrdienst werden und ihnen aus diesem Grunde Arbeiten niedrigerer Lohngruppen zugewiesen werden, als Lohnausgleich die Differenz zwischen dem für die zugewiesene Arbeit jeweils zustehenden Monatsgrundlohn zuzüglich ständiger Lohnzuschläge einerseits und dem jeweiligen Monatsgrundlohn zuzüglich ständiger Lohnzuschläge nach der Lohngruppe, der sie bei Eintritt dieser Fahrdienstuntauglichkeit angehört haben, andererseits.”

§ 2 Abs. 1 Nr. 1 der vorgenannten Ruhegeldregelung bestimmt:

“§ 2

Voraussetzungen für die Gewährung von Ruhegeld

  • Ein Arbeitnehmer, der dauernd gesundheitlich für den Dienst der BVG unfähig ist oder nach Vollendung des 65. Lebensjahres aus dem Dienst der BVG ausscheidet, erhält Ruhegeld, wenn er

    • eine mindestens zehnjährige ununterbrochene beitragspflichtige Dienstzeit (Wartezeit) abgeleistet hat …”

Der Kläger hat gemeint, er weise die für den Lohnausgleich erforderliche ununterbrochene Tätigkeit im Fahrdienst auf. Bereits bis zum 10. Oktober 1986 sei er länger als zehn Jahre ununterbrochen als Busfahrer tätig gewesen.

Der Kläger hat beantragt

festzustellen, daß das beklagte Land verpflichtet ist, ihm seit dem 15. März 1990 den Differenzbetrag zwischen seiner jeweiligen Lohngruppe einerseits und der Lohngruppe F 1 (Autobusfahrer) zuzüglich der Funktionszulage für Ein-Mann-Wagen gemäß dem Zusatztarifvertrag Nr. 2 zum BMT-G vom 2. September 1980 zu zahlen.

Das beklagte Land hat Klageabweisung beantragt und die Auffassung vertreten, Lohnausgleich müsse nur dann gewährt werden, wenn die mindestens zehnjährige ununterbrochene Tätigkeit im Fahrdienst bis zum Eintritt der Fahrdienstuntauglichkeit ausgeübt worden sei. Der Kläger könne die tarifliche Leistung nicht beanspruchen, weil er vom 11. Oktober 1986 bis zum 30. Juni 1988 als Lagerwart gearbeitet habe.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgt das beklagte Land seinen Klageabweisungsantrag weiter, während der Kläger um Zurückweisung der Revision bittet.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision hat keinen Erfolg. Der Kläger hat nach § 16 Abs. 1 Satz 1 Zusatztarifvertrag BVG Nr. 1 zum BMT-G einen Anspruch gegen das beklagte Land auf den verlangten Lohnausgleich. Dies hat das Landesarbeitsgericht zu Recht angenommen.

1. Der Kläger wurde ohne sein Verschulden für seine bisherige Tätigkeit im Fahrdienst untauglich. Aus diesem Grund wurden ihm Arbeiten der niedrigeren Lohngruppe zugewiesen. Er war nach dem 31. Dezember 1959 als Arbeiter mit einer regelmäßigen Arbeitszeit gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 BMT-G II eingestellt worden und wies am 8. Januar 1990 eine längere als die in § 2 Abs. 1 Nr. 1 Ruhegeldregelung bezeichnete mindestens zehnjährige ununterbrochene Tätigkeit im Fahrdienst auf. Darüber streiten die Parteien nicht.

2. Entgegen der Auffassung des beklagten Landes steht dem Anspruch nicht entgegen, daß die ununterbrochene mehr als zehnjährige Tätigkeit nicht bis zum 8. Januar 1990 angedauert hat. Es reicht aus, daß der Kläger in der Zeit zwischen dem 27. Mai 1974 und dem 10. Oktober 1986 eine mehr als zehnjährige ununterbrochene Busfahrertätigkeit aufzuweisen hat und am 8. Januar 1990 aus der Tätigkeit im Fahrdienst ausgeschieden ist. Nach § 16 Abs. 1 Zusatztarifvertrag BVG Nr. 1 berechtigt eine ununterbrochene Tätigkeit von mehr als zehn Jahren im Fahrdienst auch dann zum Bezug des Lohnausgleichs, wenn sie nicht ununterbrochen bis zum Eintritt der Fahrdienstuntauglichkeit angedauert hat. Die Tarifnorm ist in diesem Sinne auszulegen, ohne daß es des Rückgriffs auf die vom Berufungsgericht angenommene “Unklarheitenregel” bedarf.

a) Zunächst ist auf den eindeutigen Wortlaut der Bestimmung abzustellen. Der Kläger weist auf Grund seines mehr als zwölfjährigen Einsatzes als Busfahrer in der Zeit vom 27. Mai 1974 bis zum 10. Oktober 1986 eine mehr als zehnjährige ununterbrochene Tätigkeit im Fahrdienst auf. Das Merkmal “aufweisen” ist hier, wie das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt hat, mit “verfügen über” oder “besitzen” gleichzusetzen (Brockhaus/Wahrig, Deutsches Wörterbuch, 1980, Stichwort: “aufweisen”). Die Verweisung auf § 2 Abs. 1 Nr. 1 Ruhegeldregelung ist nur insoweit von Bedeutung, als klargestellt werden soll, daß der Arbeiter eine längere als die in der Ruhegeldregelung ausgewiesene mindestens zehnjährige ununterbrochene Tätigkeit im Fahrdienst aufweisen muß. Der Wortlaut der tariflichen Regelung enthält keinen Hinweis darauf, daß diese langjährige Tätigkeit als anspruchsbegründende Voraussetzung ohne Unterbrechung bis zum Eintritt der Fahrdienstuntauglichkeit fortgesetzt worden sein muß. Der Ansicht des Landesarbeitsgerichts, dies könne aus dem den Konditionalsatz einleitenden Wort “sofern” und aus dem Wort “bisherige” geschlossen werden, ist nicht zu folgen. Durch das Tatbestandsmerkmal “bisherige Tätigkeit” wird klargestellt, daß die Tätigkeit im Fahrdienst im Zeitpunkt des Eintritts der Fahrdienstuntauglichkeit ausgeübt werden muß. Damit scheiden die Fälle aus, in denen der Arbeiter zwar ununterbrochen die mindestens zehnjährige Tätigkeit erbracht hat, im Zeitpunkt der Fahrdienstuntauglichkeit jedoch eine andere Arbeit verrichtet. Dem Tarifmerkmal “bisherige Tätigkeit” kann aber nicht entnommen werden, daß die mindestens zehnjährige Tätigkeit ununterbrochen bis zuletzt ausgeübt worden sein muß. Dadurch, daß als Anspruchsvoraussetzung allein die Dauer der ununterbrochenen Tätigkeit im Fahrdienst (“aufzuweisen haben”), nicht aber deren Endzeitpunkt bestimmt wird, kommt im Wortlaut der Tarifnorm nicht zum Ausdruck, daß die mindestens zehnjährige Tätigkeit bis zum Zeitpunkt des Eintritts der Fahrdienstuntauglichkeit ohne Unterbrechung angedauert haben muß. Ein solch weitgehender Wille der Tarifvertragsparteien, der etwa durch eine Formulierung “Arbeiter, die länger als zehn Jahre ununterbrochen im Fahrdienst tätig sind, erhalten …” hätte zum Ausdruck gebracht werden können, kann der Tarifnorm in der geltenden Fassung nicht entnommen werden. Ein Vertragswille, der aber im Tarifvertrag keinen erkennbaren Niederschlag gefunden hat, ist für die Anwendung tariflicher Normen bedeutungslos (vgl. BAG Urteil vom 17. September 1957 – 1 AZR 312/56 – AP Nr. 4 zu § 1 TVG Auslegung).

b) Sinn und Zweck der tariflichen Regelung bestätigen diese Auslegung. Auch nach Auffassung des beklagten Landes soll durch die Vorschrift das berufsspezifische Risiko der Busfahrer abgemildert werden, mit zunehmendem Alter den hohen gesundheitlichen Anforderungen der Arbeit im Fahrdienst nicht mehr zu entsprechen. Demgegenüber verfängt nicht, wenn die Beklagte darauf hinweist, daß der Anspruch bei dieser Auslegung auch einem Arbeitnehmer zustünde, der sich nach elfjähriger Tätigkeit im Fahrdienst zum Schlosser umschulen läßt, nach mehrjahriger Tätigkeit in diesem Beruf in den Fahrdienst zurückkehrt und wenig später fahrdienstuntauglich wird. Wenn die Arbeitsvertragsparteien in einem solchen Fall die erneute Arbeit im Fahrdienst vereinbaren, übernimmt der Arbeitgeber das Risiko einer alsbald eintretenden Fahrdienstuntauglichkeit des älteren Mitarbeiters und weiß dies. Eine solch untypische Fallgestaltung berechtigt nicht zu einer Tarifauslegung, die im Tarifwortlaut keinen Niederschlag gefunden hat.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

 

Unterschriften

Dr. Peifer, Dr. Jobs, Dr. Armbrüster, Fohrmann, Kamm

 

Fundstellen

Haufe-Index 846767

NZA 1993, 1093

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