Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufungsurteil ohne Tatbestand
Leitsatz (amtlich)
Ist die Revision statthaft, hat das Berufungsurteil einen Tatbestand zu enthalten. Das Berufungsgericht darf den Tatbestand in aller Regel nicht völlig durch eine Bezugnahme auf das erstinstanzliche Urteil ersetzen, da dieses nur den erstinstanzlichen Sach- und Streitstand, nicht aber dessen Fortentwicklung in der Berufungsinstanz wiedergeben kann (Ergänzung zu BAG AP Nr. 7 zu § 543 ZPO 1977).
Normenkette
ZPO §§ 543, 313
Verfahrensgang
Tenor
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten um Vergütungsansprüche des Klägers aus Annahmeverzug.
Der Kläger leidet an einem Hörschaden und war deshalb mehrfach arbeitsunfähig krank. Im Juni 1993 fragte der Kläger bei der Beklagten an, ob er die Arbeit wiederaufnehmen könne. Er wies darauf hin, daß er wegen seines Gehörschadens einen nicht geräuschbelasteten Arbeitsplatz benötige. Die Beklagte entgegnete, daß er nur an seinem geräuschbelasteten alten Arbeitsplatz eingesetzt werden könne.
Aufgrund von Schallpegelmessungen bei der Beklagten kam ein Arbeitsmediziner des Arbeitsmedizinischen Zentrums für den Kreis Olpe zu dem Schluß, daß der Kläger unter bestimmten Voraussetzungen weiter im Lärmbereich beschäftigt werden könne. Zusätzlich solle ihm zur Auflage gemacht werden, konsequent persönliche Gehörschutzmittel zu benutzen. Daraufhin bot die Beklagte dem Kläger an, an den alten Arbeitsplatz zurückzukehren. Dies tat der Kläger nicht. Er rügte, daß das Gutachten von falschen Voraussetzungen ausgegangen sei, insbesondere von einer zu geringen Dicke der vom Kläger an der Maschine zu bearbeitenden Bleche. Es kam zu weiteren Schallpegelmessungen. Der Arbeitsmediziner kam wiederum zu dem Ergebnis, daß konsequentes Tragen von Gehörschutz auch unter Annahme eines lärmempfindlichen Gehörs ausreiche, um zusätzliche Schädigungen durch Lärmexposition zu vermeiden.
Mit Bescheid vom 11. August 1994 wurde der Kläger wegen der Verschlimmerung seiner Schwerhörigkeit und des Ausfalls des Gleichgewichtsorgans als Schwerbehinderter mit einem Grad der Behinderung von 50 % anerkannt.
Seit dem 5. Dezember 1994 wird der Kläger von der Beklagten in der Abteilung “Montage/Verpacken/Versand” wieder beschäftigt, aber zu einem geringeren Stundenlohn.
Der Kläger begehrt Arbeitsentgelt für die Zeit ab 17. Juli 1993 und für die Zeit ab 5. Dezember 1994 die Differenz zwischen dem gezahlten und dem ihm angeblich zustehenden Lohn. Er hat vorgetragen: Die Beklagte habe es pflichtwidrig unterlassen, ihn an einem geräuschärmeren Arbeitsplatz zu beschäftigen. Die Untersuchungen seien im Ergebnis falsch, da die Produktionsbedingungen anders seien als von der Beklagten dem Arbeitsmediziner dargestellt und sich zudem sein Gesundheitszustand im Laufe des Verfahrens weiter verschlechtert habe. An einer Lasermaschine sei ein geräuscharmer Arbeitsplatz frei gewesen. Soweit die Beklagte behaupte, daß weder an der Trumpfmaschine, noch an der Laseranlage ein neuer Mitarbeiter eingestellt worden sei, so werde dies mit Nichtwissen bestritten.
Der Kläger hat, soweit in der Revisionsinstanz von Interesse, beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 57.750,00 DM abzüglich 14.760,00 DM Leistungen des Sozialamtes Attendorn nebst 12 % Zinsen seit dem 1. Januar 1995 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat sich auf die Feststellungen des Arbeitsmediziners berufen und vorgetragen, trotz einer Stellenanzeige in der Zeitung sei ein Mitarbeiter für die Trumpfmaschinen und die Laseranlage nicht eingestellt worden.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Es könne dahinstehen, ob dem Kläger der weitere Einsatz am alten Arbeitsplatz zumutbar sei. Die Klage sei jedenfalls deshalb unbegründet, weil die Beklagte nicht verpflichtet sei, dem Kläger den gewünschten Arbeitsplatz an der Lasermaschine zuzuweisen. Der Arbeitgeber sei zwar zur Fortzahlung des Lohnes verpflichtet, wenn der Arbeitnehmer wegen gesundheitlicher Beeinträchtigungen vorübergehend oder dauerhaft nicht mehr die vertraglich geschuldete Leistung erbringen könne und der Arbeitgeber die Möglichkeit habe, den Arbeitnehmer an einer anderen freien Stelle im Betrieb in organisatorisch und wirtschaftlich zumutbarer Weise weiterzubeschäftigen und der Arbeitnehmer eben diese Weiterbeschäftigung verlange. Hier sei aber der Einsatz an der Lasermaschine nicht möglich gewesen, da die Beklagte den ursprünglich freien und in der Zeitung ausgeschriebenen Arbeitsplatz doch nicht wiederbesetzt habe.
Seine Berufung hat der Kläger u.a. wie folgt begründet: Er sei gesundheitlich nicht in der Lage, an seinem ursprünglichen Arbeitsplatz weiter zu arbeiten. Ein Spezialgehörschutz sei ihm nicht zur Verfügung gestellt worden. Entgegen der Annahme des Arbeitsgerichts sei der Arbeitsplatz an der Lasermaschine neu besetzt worden. Auch sei ein Arbeitsplatz in der Montage frei gewesen. Für sämtliche Behauptungen hat der Kläger Beweis angetreten.
Das Landesarbeitsgericht Hamm hat am 12. September 1996 folgendes Urteil erlassen:
Die Berufung des Klägers gegen das Teilurteil des Arbeitsgerichts Siegen/Gerichtstag Olpe vom 25. April 1995 – 3 Ca 723/94 – wird aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung, auf die zur weiteren Darstellung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe gemäß § 543 Abs. 1 ZPO vollinhaltlich Bezug genommen wird, mit dem Bemerken zurückgewiesen, daß wegen der Verpflichtung des Klägers zum Tragen von Gehörschutz ein Anspruch auf Zuweisung eines anderen Arbeitsplatzes gegen die Beklagte nicht bestand.
Ferner enthält das Urteil eine Kostenentscheidung, die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes, die Zulassung der Revision und eine Rechtsmittelbelehrung. Ein Tatbestandsberichtigungsantrag des Klägers wurde vom Landesarbeitsgericht zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger seinen Klageanspruch weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Das Berufungsurteil ist aufzuheben, weil es keinen den Anforderungen des § 313 Abs. 2, § 543 Abs. 2 ZPO entsprechenden Tatbestand enthält und dieser Mangel die revisionsgerichtliche Überprüfung des Urteils unmöglich macht.
- Bereits Datum und Aktenzeichen des arbeitsgerichtlichen Urteils sind vom Landesarbeitsgericht falsch wiedergegeben. Es handelt sich um das Urteil des Arbeitsgerichts Siegen vom 5. (nicht: 25.) April 1995 mit dem Aktenzeichen 2 Ca 723/94 (und nicht: 3 Ca …).
Nach § 313 Abs. 1 Nr. 5 ZPO muß das Urteil einen Tatbestand enthalten, der den Anforderungen des § 313 Abs. 2 ZPO entspricht. Für Berufungsurteile gelten die Sonderregeln des § 543 ZPO. Nur dann, wenn gegen das Berufungsurteil die Revision nicht stattfindet, kann gemäß § 543 Abs. 1 ZPO von der Darstellung des Tatbestandes abgesehen werden. Urteile, gegen die die Revision statthaft ist, müssen dagegen nach § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO einen Tatbestand enthalten. Das ist erforderlich, weil nach § 561 Abs. 1 ZPO nur das aus dem Tatbestand oder dem Sitzungsprotokoll ersichtliche Parteivorbringen der Beurteilung durch das Revisionsgericht unterliegt und dieses seine Aufgabe nur dann erfüllen kann, wenn das Berufungsurteil eine Sachverhaltsdarstellung enthält, aus der sich ergibt, von welchen tatsächlichen Voraussetzungen das Berufungsgericht ausgegangen ist.
Es ist schon fraglich, ob das Urteil des Landesarbeitsgerichts überhaupt einen Tatbestand enthält. Dagegen könnte sprechen, daß das Landesarbeitsgericht nur zur “weiteren” Darstellung des Tatbestandes und der Entscheidungsgründe auf das arbeitsgerichtliche Urteil verweist und noch dazu Abs. 1 und nicht Abs. 2 des § 543 ZPO nennt. Ein Absehen von der Darstellung des Tatbestandes nach § 543 Abs. 1 ZPO ist keine Bezugnahme auf den Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils im Sinne von § 543 Abs. 2 Satz 2 ZPO (BAG Urteil vom 30. Oktober 1987 – 7 AZR 92/87 – AP Nr. 7 zu § 543 ZPO 1977). Es kann jedoch unterstellt werden, daß das Urteil des Landesarbeitsgerichts einen Tatbestand enthält.
Dieser Tatbestand genügt jedoch nicht den Anforderungen des § 313 Abs. 2, § 543 Abs. 2 ZPO.
Von der eigenen gedrängten Darstellung des Sach- und Streitstandes darf das Berufungsgericht nach § 543 Abs. 2 Satz 2 ZPO nur unter den dort genannten engen Voraussetzungen absehen: Eine Bezugnahme auf das angefochtene Urteil sowie auf Schriftsätze der Parteien ist nur zulässig, “soweit hierdurch die Beurteilung des Parteivorbringens durch das Revisionsgericht nicht wesentlich erschwert wird”.
Allerdings kann das Berufungsgericht den Tatbestand in aller Regel nicht völlig durch eine Bezugnahme auf das erstinstanzliche Urteil ersetzen, da dieses nur den erstinstanzlichen Sach- und Streitstand, nicht aber dessen Fortentwicklung in der Berufungsinstanz wiedergeben kann. Es entspricht daher ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesgerichtshofs, daß Berufungsurteile, die keinen Tatbestand enthalten, grundsätzlich aufzuheben sind, und zwar ohne daß es einer entsprechenden Rüge bedarf (BAGE 33, 229; 36, 312; 46, 179 = AP Nr. 2 bis 4 zu § 543 ZPO 1977; BGHZ 73, 248 = AP Nr. 1 zu § 543 ZPO; BGH Urteil vom 19. Dezember 1979 – VIII ZR 323/78 – WM 1980, 253; BGH Urteil vom 25. April 1991 – I ZR 232/89 – NJW 1991, 3038, 3039; MünchKomm-ZPO/Rimmelspacher, Bd. 2, 1992, § 543 Rz 3, 4). Nur dann, wenn der Sachverhalt unstreitig ist, in zweiter Instanz nichts Neues vorgetragen worden ist und lediglich um eine Rechtsfrage gestritten wird, darf sich das Berufungsgericht mit einer Bezugnahme auf das angefochtene Urteil begnügen (BAGE 33, 229; 46, 179 = AP Nr. 2, 4 zu § 543 ZPO 1977).
Um einen solchen Fall handelt es sich hier nicht. Der Kläger hat in zweiter Instanz neue Tatsachenbehauptungen aufgestellt; u.a. hat er vorgetragen, der Arbeitsplatz an der Lasermaschine sei neu besetzt worden. Weiter hat er in zweiter Instanz – zum Teil erstmals – Beweis angetreten, u.a. für die Behauptung, die Beklagte habe ihm keinen geeigneten Gehörschutz zur Verfügung gestellt.
Dem Urteil des Landesarbeitsgerichts kann nicht entnommen werden, welchen Sachverhalt es seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat. So bleibt unklar, ob es den Vortrag des Klägers zum Gehörschutz als unerheblich angesehen hat oder ob er von seiner Unrichtigkeit oder aber von seiner Richtigkeit ausgegangen ist. Damit kann das Revisionsgericht seine Aufgabe, die Anwendung des Rechts auf den festgestellten Sachverhalt nachzuprüfen, nicht nachkommen.
- Auch die – spärlichen – Entscheidungsgründe weisen schwere Mängel auf. Es wird bereits nicht deutlich, ob das Landesarbeitsgericht mit seinem “Bemerken”, daß wegen der Verpflichtung des Klägers zum Tragen von Gehörschutz ein Anspruch auf Zuweisung eines anderen Arbeitsplatzes nicht bestand, die anderslautende Begründung des Arbeitsgerichts durch eine andere ersetzen oder ob er ihr nur eine weitere hinzufügen wollte. Im letzteren Fall bliebe wiederum unklar, ob es den Vortrag des Klägers, der Arbeitsplatz an der Lasermaschine sei neu besetzt worden, für unerheblich, richtig oder unrichtig gehalten hat.
- Bei der Kostenentscheidung wird das Landesarbeitsgericht zu erwägen haben, ob ein Teil der Kosten wegen unrichtiger Sachbehandlung nicht zu erheben ist (§ 8 Abs. 1 GKG).
Unterschriften
Griebeling, Reinecke, Mikosch, Kähler, Heel
Fundstellen
Haufe-Index 893915 |
NJW 1998, 774 |
SAE 1998, 192 |
ZIP 1997, 1675 |