Entscheidungsstichwort (Thema)
Richterrechtliche Untätigkeitsbeschwerde. fehlende vorwerfbare Untätigkeit des Gerichts
Leitsatz (amtlich)
1. Zur richterrechtlichen Untätigkeitsbeschwerde (Abgrenzung zu BSG vom 13.12.2005 – B 4 RA 220/04 B = SozR 4-1500 § 160a Nr 11).
2. Verfolgt ein Beteiligter im Gerichtsverfahren wiederholt offensichtlich unzulässige Anträge mit im Kern gleichem Vorbringen und sieht das Gericht deshalb nach mehrfachen Entscheidungen unter zutreffendem Hinweis auf deren Unanfechtbarkeit davon ab, über weitere gleichartige Anträge zu entscheiden, kann es an vorwerfbarer Untätigkeit des Gerichts fehlen.
Normenkette
SGG §§ 177, 178a Abs. 4 S. 3; MRK Art. 6; MRK Art. 13; GG Art. 20 Abs. 3
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 21.07.2006; Aktenzeichen L 8 SF 36/06 ARG) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers wegen Untätigkeit des Hessischen Landessozialgerichts wird als unzulässig verworfen.
Kosten des Verfahrens vor dem Bundessozialgericht sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Anhörungsrügen des Klägers gegen den Beschluss vom 11.1.2006, in dem es über die Ablehnung von Richtern entschieden hat, mit Beschluss vom 1.3.2006 und die vom Kläger dagegen erhobene Anhörungsrüge und Gegenvorstellung durch Beschluss vom 21.7.2006 als unzulässig verworfen. Gegen den ihm am 3.8.2006 zugestellten Beschluss hat der Kläger am 17.8.2006 Gegenvorstellung erhoben. Hierüber hat das LSG entsprechend dem Hinweis des Berichterstatters nicht mehr entschieden. Mit Schreiben vom 5.2.2007 hat der Kläger “Untätigkeitsbeschwerde gemäß § 17c GVG … bzw. gemäß § 198 GVG” beim Bundessozialgericht (BSG) eingelegt.
Entscheidungsgründe
II
Die Beschwerde des Klägers ist unzulässig und daher entsprechend § 169 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne Beteiligung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen.
1. Der Kläger hat die Beschwerde selbst eingelegt und sich nicht durch einen nach § 166 Abs 2 SGG zugelassenen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen, wie es § 166 Abs 1 SGG voraussetzt.
2. Eine Umdeutung seines Begehrens in ein Prozesskostenhilfegesuch kommt nicht in Betracht. Denn der Kläger hat eindeutig “Beschwerde” eingelegt. Ein solches Gesuch wäre zudem – hierauf ist ergänzend hinzuweisen – offenkundig aussichtslos. Eine Untätigkeitsbeschwerde ist derzeit im Gesetz nicht vorgesehen. Bei den vom Kläger zitierten Normen handelt es sich um Referentenentwürfe, die nicht in Kraft getreten sind. Unter solchen Umständen sieht es das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) – jedenfalls außerhalb des Bereichs gerichtlicher Untätigkeit bei freiheitsentziehenden Maßnahmen – als fraglich an, ob die gesetzlich nicht geregelte Untätigkeitsbeschwerde dem aus dem Rechtsstaatsgebot abzuleitenden Gebot der Rechtsmittelklarheit genügen kann (vgl BVerfG 1. Kammer 1. Senat, Beschluss vom 10.6.2005 – 1 BvR 2790/04 – NJW 2005, 2685 RdNr 29; generell ablehnend: Beschluss des Plenums des BVerfG vom 30.4.2003, BVerfGE 107, 395, 416 = SozR 4-1100 Art 103 Nr 1). Danach müssen die Rechtsbehelfe in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt und in ihren Voraussetzungen für die Bürger erkennbar sein (Beschluss des Plenums des BVerfG, BVerfGE 107, 395, 416). Das rechtsstaatliche Erfordernis der Messbarkeit und Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns führt zu dem Gebot, dem Rechtsuchenden den Weg zur Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen klar vorzuzeichnen (vgl BVerfGE 49, 148, 164; 87, 48, 65; 107, 395, 416). Die rechtliche Ausgestaltung des Rechtsmittels soll dem Bürger insbesondere die Prüfung ermöglichen, ob und unter welchen Voraussetzungen es zulässig ist (vgl BVerfGE 107, 395, 416). Deshalb geht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) davon aus, eine richterrechtlich begründete außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde sei kein wirksamer Rechtsbehelf gegen eine überlange Verfahrensdauer (EGMR, Große Kammer, Urteil vom 8.6.2006, NJW 2006, 2389 ff). Im Hinblick auf diese Entscheidungen verbleibt kein Raum dafür, zur Vermeidung eines Verstoßes gegen die Europäische Menschenrechtskonvention ohne gesetzliche Grundlage durch Richterrecht eine Untätigkeitsbeschwerde zu schaffen, um auf ein laufendes Verfahren einzuwirken (aA – bezüglich der nachträglichen Feststellung einer Untätigkeit – vor dem Urteil des EGMR vom 8.6.2006 noch BSG ≪4. Senat≫ SozR 4-1500 § 160a Nr 11 RdNr 21 ff). Dementsprechend haben auch der Bundesfinanzhof(BFH, Beschluss vom 4.10.2005 – II S 10/05 – RdNr 4; Beschluss vom 24.5.2006 – VII S 12/06 – RdNr 5) und das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG, Beschluss vom 5.12.2006 – 10 B 68/06 – RdNr 1) entschieden, dass es ein Rechtsinstitut der “verfassungsrechtlich gebotenen Untätigkeitsbeschwerde” nicht gibt.
Das gilt erst recht, soweit mit der Untätigkeitsbeschwerde ein höheres Gericht angerufen wird, zu dem im ordentlichen Verfahren der Rechtszug nicht eröffnet ist. So lag es hier. Bereits der Ausgangsbeschluss des LSG vom 11.1.2006 über das Ablehnungsgesuch war, worauf das LSG zutreffend hingewiesen hat, gemäß § 177 SGG mit einer Beschwerde an das BSG nicht anfechtbar (ebenso wenig wie die Beschlüsse über die Anhörungsrügen).
Schließlich kommt eine – objektiv verwerfbare – Untätigkeit eines Gerichts schon im Ansatz nicht in Betracht, wenn keine Pflicht zur Tätigkeit besteht. Dies kann – in engen Ausnahmefällen – bei missbräuchlichem Verhalten eines Beteiligten zu erwägen sein, etwa wenn er wiederholt mit gleichen Begründungen offensichtlich unzulässige Anträge stellt. Davon geht sinngemäß auch das BVerfG aus (vgl BVerfGE 11, 1, 5; 11, 343, 349). Regelmäßig wird ein Gericht allerdings auch in solchen Fällen gehalten sein, seine Untätigkeit bei zukünftigen vergleichbaren Eingaben anzukündigen.
So lag es hier. Der Kläger erhob gegen den LSG-Beschluss vom 11.1.2006 Anhörungsrüge/Gegenvorstellung, obwohl dieser Beschluss als eine einer Endentscheidung vorausgehende Entscheidung nicht der Anhörungsrüge unterlag (§ 178a Abs 1 Satz 2 SGG). Deshalb verwarf das LSG mit Beschluss vom 1.3.2006 diese Rechtsbehelfe als unzulässig. Auf die erneute Anhörungsrüge/Gegenvorstellung entschied es wiederum (Beschluss vom 21.7.2006). Erst auf die anschließende Anhörungsrüge/Gegenvorstellung reagierte das LSG nicht mehr mit einem Beschluss, sondern lediglich mit dem Hinweis des Berichterstatters (29.11.2006), über die erneute Anhörungsrüge/Gegenvorstellung nicht mehr zu entscheiden. Die die Anhörungsrügen verwerfenden zwei Beschlüsse des LSG waren jeweils, worauf das LSG – § 177 SGG zitierend – hingewiesen hat, unanfechtbar (§ 178a Abs 4 Satz 3 SGG). Erhebt ein Beteiligter – wie der Kläger – dennoch wiederholt dagegen mit im Kern gleichen Begründungen Anhörungsrügen/Gegenvorstellungen, bedarf es auf Dauer nicht mehr der Entscheidung hierüber.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf analoger Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen