Entscheidungsstichwort (Thema)
sozialgerichtliches Verfahren. Bestimmung des örtlich zuständigen Sozialgerichts. Verweisungsbeschluss
Orientierungssatz
1. Ein Verweisungsbeschluss wegen örtlicher Unzuständigkeit soll grundsätzlich auch dann verbindlich sein, wenn die Verweisung prozessuale oder materielle Vorschriften verletzt, denn die Bindungswirkung soll eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Verweisungsbeschlüssen im Interesse einer möglichst zügigen sachlichen Entscheidung gerade ausschließen (vgl BSG vom 27.5.2004 - B 7 SF 6/04 S = SozR 4-1500 § 57a Nr 2).
2. Eine Ausnahme kommt nach der ständigen Rechtsprechung nur dann in Betracht, wenn die Verweisung willkürlich ist oder auf einer Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze beruht (vgl BSG vom 25.2.1999 - B 1 SF 9/98 S = SozR 3-1720 § 17a Nr 11).
3. Ein Verweisungsbeschluss, der entgegen der zwingenden Norm des § 17a Abs 4 S 2 GVG nicht begründet war, wird deswegen jedoch noch nicht grob verfahrensfehlerhaft bzw willkürlich.
4. Es erscheint nicht willkürlich, sondern durchaus nachvollziehbar und rechtlich begründet, dass die bisherige Rechtsauffassung des BSG, dass sich die Zuständigkeit bei einem Wohnsitzwechsel grundsätzlich nicht ändern soll (vgl BSG vom 4.2.1998 - B 9 V 6/96 R = SozR 3-3100 § 89 Nr 4), nach der Neufassung des § 3 KOVVfG zum 1.7.2001 nicht mehr aufrechterhalten werden kann.
Normenkette
SGG § 58 Abs. 1 Nr. 4, § 57 Abs. 1 S. 1; GVG § 17a Abs. 4 S. 2; KOVVfG § 3 Abs. 1 Fassung: 2001-06-19; SGG § 98 S. 1
Verfahrensgang
SG Braunschweig (Beschluss vom 05.05.2004; Aktenzeichen S 8 SB 1/03) |
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Feststellung eines höheren Grads der Behinderung (GdB). Die Klägerin wohnte in W., die ablehnenden Bescheide ergingen durch das Versorgungsamt Braunschweig (Bescheid vom 26. November 2002) und das Niedersächsische Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben - Landesversorgungsamt - (Widerspruchsbescheid vom 9. Dezember 2002). Die Klägerin erhob am 6. Januar 2003 Klage zum Sozialgericht (SG) Braunschweig. Nach Klageerhebung zog sie zum 1. Dezember 2003 von W. nach S. in Baden-Württemberg um. Der Beklagte wandte sich daraufhin an das SG, mit der Bitte, nach § 3 Abs 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) einen Beteiligtenwechsel auf der Beklagtenseite vorzunehmen. Zuständig und richtiger Beklagter sei nunmehr das Land Baden-Württemberg. Die entgegenstehende Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei durch die Neufassung des § 3 Abs 1 KOVVfG vom 19. Juni 2001 (BGBl I 1046) hinfällig geworden. Daraufhin richtete das SG ein Schreiben an die Beteiligten, mit dem Hinweis, dass auf Grund des § 3 Abs 1 KOVVfG nF die Klage richtigerweise gegen das Land Baden-Württemberg zu richten wäre. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragte nunmehr, die geänderte Klage gegen das Land Baden-Württemberg an das zuständige SG Freiburg zu verweisen. Der Beklagte äußerte hierzu lediglich, dass der beabsichtigten Verweisung des Rechtsstreits an das SG Freiburg entgegengesehen werde.
Das SG Braunschweig erklärte sich durch Beschluss vom 5. Mai 2004 für örtlich unzuständig und verwies den Rechtsstreit an das örtlich zuständige SG Freiburg. Dieser Beschluss enthält keine weitere Begründung. Als Beklagter wird im Rubrum das Land Niedersachsen, vertreten durch das Niedersächsische Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben - Landesversorgungsamt - ausgewiesen.
Das SG Freiburg seinerseits erklärte sich durch Beschluss vom 25. Juni 2004 für örtlich unzuständig und verwies den Rechtsstreit an das zuständige SG Braunschweig. Eine Anhörung der Beteiligten vor Erlass dieses Beschlusses erfolgte nicht. Zur Begründung gab das SG an, die einmal nach § 57 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gegebene örtliche Zuständigkeit des SG Braunschweig habe sich durch den Wohnsitzwechsel der Klägerin nicht geändert (§ 98 Satz 1 iVm § 17 Abs 1 Satz 1 Gerichtsverfassungsgesetz ≪GVG≫ - perpetuatio fori). Daraufhin hat das SG Braunschweig den Rechtsstreit dem BSG zur Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts vorgelegt.
Entscheidungsgründe
Die Anrufung des BSG zur Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts ist zulässig. Nach § 58 Abs 1 Nr 4 SGG wird das zuständige Gericht innerhalb der Sozialgerichtsbarkeit durch das gemeinsame nächsthöhere Gericht bestimmt, wenn verschiedene Gerichte, von denen eines für den Rechtsstreit zuständig ist, sich rechtskräftig für unzuständig erklärt haben. Das BSG ist das gemeinsam nächsthöhere Gericht im Sinne dieser Vorschrift, da für die beteiligten Sozialgerichte kein gemeinsames Landessozialgericht (LSG) zuständig ist. Der Konflikt betrifft die örtliche Zuständigkeit nach § 57 Abs 1 Satz 1 SGG. Sowohl das SG Braunschweig als auch das SG Freiburg haben sich rechtskräftig für unzuständig erklärt.
Zum örtlich zuständigen Gericht ist das SG Freiburg zu bestimmen. Der Verweisungsbeschluss des SG Braunschweig vom 5. Mai 2004 war hier bindend, obwohl er in formeller Hinsicht Bedenken begegnet.
Ein Verweisungsbeschluss wegen örtlicher Unzuständigkeit soll grundsätzlich auch dann verbindlich sein, wenn die Verweisung prozessuale oder materielle Vorschriften verletzt, denn die Bindungswirkung soll eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Verweisungsbeschlüssen im Interesse einer möglichst zügigen sachlichen Entscheidung gerade ausschließen (vgl zuletzt Beschluss des Senats vom 27. Mai 2004 - B 7 SF 6/04 S - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Eine Ausnahme kommt nach der stRspr des Senats nur dann in Betracht, wenn die Verweisung willkürlich ist oder auf einer Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze beruht (vgl dazu nur BSG SozR 3-1720 § 17a Nr 11 S 19 f und BFH/NV 1991, 619 ff). Ein solcher Ausnahmefall liegt hier bei der Verweisung durch das SG Braunschweig an das SG Freiburg nicht vor.
Zwar hat das SG Freiburg in seinem Rückverweisungsbeschluss zu Recht darauf hingewiesen, dass der Verweisungsbeschluss des SG Braunschweig entgegen der zwingenden Norm des § 17a Abs 4 Satz 2 GVG nicht begründet war. Durch diese fehlende Begründung wird der Beschluss jedoch noch nicht grob verfahrensfehlerhaft bzw "willkürlich". Dies folgt insbesondere daraus, dass die Begründung eines Beschlusses im Wesentlichen den Rechtsschutzmöglichkeiten der Beteiligten dient (vgl § 142 SGG) und die Beteiligten hier selbst Verweisung an das SG Freiburg beantragt hatten und mithin die Gründe für das Vorgehen des SG Braunschweig bereits kannten. Diese Zusammenhänge hätten sich auch dem SG Freiburg bei einer Lektüre der Akten erschlossen. Vorrangiger Sinn und Zweck der Begründungspflicht nach § 17a Abs 4 Satz 2 GVG ist es jedenfalls nicht, in dem innerjustiziellen Streit um eine örtliche Zuständigkeit überzeugungsbildend zu wirken.
Wie sich ebenfalls aus den Akten ergibt, war für die Rechtsauffassung des SG Braunschweig maßgebend, dass § 3 Abs 1 KOVVfG zum 1. Juli 2001 novelliert wurde. Nach § 3 Abs 1 KOVVfG ist örtlich zuständig die Verwaltungsbehörde, in deren Bezirk der Antragsteller oder Berechtigte seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat. Insofern liegen den Akten auch die Gesetzesmaterialien (BT-Drucks 14/5800) bei, aus denen sich ergibt, dass der Gesetzgeber mit der Hinzufügung des Wortes "oder Berechtigte" den Zweck verfolgt, dass sich die örtliche Zuständigkeit bei einem Wohnsitzwechsel des Klägers grundsätzlich ebenfalls ändern soll. Zwar hat das BSG zu § 3 KOVVfG aF die gegenteilige Auffassung vertreten (BSG Urteil vom 4. Februar 1998 - B 9 V 6/96 R = BSG SozR 3-3100 § 89 Nr 4), jedoch erscheint es nicht willkürlich, sondern vielmehr durchaus nachvollziehbar und rechtlich begründet, davon auszugehen, dass diese bisherige Rechtsauffassung nach der Neufassung des § 3 KOVVfG zum 1. Juli 2001 nicht mehr aufrechterhalten werden kann (ebenso Dau in LPK - § 63 IX, § 69 RdNr 6 mwN). Endgültig hierüber zu entscheiden hat der Senat im Rahmen der Zuständigkeitsbestimmung gemäß § 58 Abs 1 Nr 4 SGG nicht, geht es doch hier nur um die Prüfung, ob der Beschluss des SG Braunschweig elementare Rechtsgrundsätze verletzt.
Allerdings hat das SG Braunschweig seine Rechtsansicht zum Beklagtenwechsel nicht im Rubrum des Verweisungsbeschlusses umgesetzt. Das SG Braunschweig hat ausweislich des Rubrums und ausweislich des Vorlagebeschlusses an das BSG weiterhin das Land Niedersachsen in der Beklagtenrolle gelassen. Auch hierdurch wird der Beschluss des SG Braunschweig jedoch nicht grob verfahrenswidrig. Das SG Freiburg wird ggf zunächst das Rubrum zu berichtigen haben.
Fundstellen