Entscheidungsstichwort (Thema)
Vormerkung. Anrechnungszeit. Arbeitslosigkeit. Schulausbildung. Zivildienst. Zwischenzeit, unvermeidbare
Leitsatz (amtlich)
Die Übergangszeit zwischen dem Ende des Schulbesuchs und dem Beginn des Zivildienstes ist nur dann eine Anrechnungszeit wegen Schulausbildung, wenn sie die Dauer der üblichen Schul- und Semesterferien von 3 bis 4 Monaten nicht überschreitet (Anschluß an BSGE 70, 220 = SozR 3–2600 S 252 Nr. 1).
Normenkette
SGB VI § 58 Abs. 1 S. 1 Nrn. 3-4, § 149 Abs. 5, § 300 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Urteil vom 14.10.1993; Aktenzeichen L 10 J 365/92) |
SG Hannover (Urteil vom 02.09.1992; Aktenzeichen S 6 J 454/89) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. Oktober 1993 sowie das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 2. September 1992 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist die Vormerkung eines Zeitraums von 6 Monaten zwischen Abitur und Beginn des Zivildienstes als Anrechnungszeit.
Der 1964 geborene Kläger besuchte bis zum Abitur am 30. Juni 1983 das Gymnasium. Zum 1. Juli 1983 meldete er sich beim Arbeitsamt (ArbA) als Arbeitsuchender. Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung bezog er nicht, ein Arbeitsplatz wurde ihm bis Ende 1983 vom ArbA nicht vermittelt.
Bereits am 28. Oktober 1982 hatte der Kläger einen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer (KDV) gestellt. Mit Bescheid vom 23. November 1983 wurde er als KDV anerkannt und leistete daraufhin vom 2. Januar 1984 bis zum 30. April 1985 Zivildienst. Anschließend erhielt er zunächst Leistungen der Arbeitslosenversicherung und absolvierte dann vom 1. August 1985 bis zum 22. Juli 1987 mit Erfolg eine Gärtnerlehre.
Im Rahmen eines Kontenklärungsverfahrens lehnte die Beklagte die Anerkennung der Zeit vom 1. Juli 1983 bis zum 31. Dezember 1983 als Ausfallzeit wegen Arbeitslosigkeit oder Ausbildung mit Bescheid vom 21. Juni 1988 ab. Den hiergegen erhobenen Widerspruch leitete sie gemäß § 85 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in der bis zum 28. Februar 1993 geltenden – alten – Fassung (aF) dem Sozialgericht Hannover (SG) als Klage zu.
Das SG hat die Beklagte mit Urteil vom 2. September 1992 verurteilt, die Zeit zwischen Abitur und Zivildienst als Anrechnungszeit gemäß § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) vorzumerken. Das Landessozialgericht Niedersachsen (LSG) hat die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 14. Oktober 1993 zurückgewiesen. Es hat seine Entscheidung im wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt:
Als Anrechnungszeit wegen Arbeitslosigkeit gemäß § 58 Abs. 1 Nr. 3 SGB VI könne die streitige Zeit nicht anerkannt werden, weil weder eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit noch ein versicherter Wehrdienst oder Zivildienst unterbrochen worden sei. Sie sei aber der vorangegangenen Schulausbildung als „unvermeidliche Zwischenzeit” zuzurechnen. Eine solche Zwischenzeit liege nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) dann vor, wenn die Zeit generell unvermeidbar, durch die Organisation bedingt typisch und in diesem Sinne häufig sei. In Fällen wie dem vorliegenden bedeute dies, daß der Beginn der Lehre wegen der zu erwartenden Einberufung zum Zivildienst bzw wegen des Zivildienstes selbst unmöglich gewesen sein müsse und daß diese Lehre dann zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach Beendigung des Zivildienstes begonnen worden sei. Dies sei der Fall.
Der Vormerkung der streitigen Zeit als Anrechnungszeit stehe nicht entgegen, daß es sich um einen Zeitraum von insgesamt einem halben Jahr handele. Das BSG habe keine Ausführungen zur Dauer der Zwischenzeiten zwischen Schulausbildung und Beginn des Wehrdienstes gemacht. Nach seiner – des LSG – Ansicht sei nach Lage des Einzelfalles unter Berücksichtigung der besonderen Umstände über die zulässige Dauer der Zwischenzeit zu befinden. Entscheidend sei, daß Gründe, die der Versicherte nicht zu vertreten habe. ihn an der Beitragsentrichtung (bzw der Erfüllung einer Ausfallzeit) gehindert hätten. Der Kläger habe alles ihm mögliche getan, um die Zwischenzeit zu vermeiden bzw abzukürzen. Er habe frühzeitig einen KDV-Antrag gestellt. Daß das Anerkennungsverfahren erst 9 Monate nach der Musterung zum Abschluß gekommen sei, habe an der in der fraglichen Zeit steigenden Anzahl solcher Anträge gelegen und sei nicht dem Kläger zuzurechnen. Auch müsse berücksichtigt werden, daß er versucht habe, eine Ausfallzeit zu vermeiden, indem er sich als Arbeitsuchender gemeldet habe.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 58, 252 SGB VI. Zwar seien „unvermeidliche Zwischenzeiten” ein anzuerkennendes Rechtsinstitut, das aber auf eng umgrenzte Ausnahmefälle beschränkt werden müsse. Das LSG habe insoweit die Grenzen zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung überschritten. Nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG dürften „unvermeidliche Zwischenzeiten” in Anlehnung an § 2 Abs. 2 Satz 4 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) nicht länger als 3 bis 4 Monate andauern. Es fehle im vorliegenden Fall auch an der generellen Unvermeidbarkeit, der Typik und der Häufigkeit; das LSG habe selbst eingeräumt, daß es sich um einen Ausnahmefall handele. Außerdem stehe der vom LSG vorgenommenen weiten Auslegung der Wille des Gesetzgebers entgegen, der eher dahin tendiere, Anrechnungszeiten einzuschränken.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des LSG Niedersachsen vom 14. Oktober 1993 sowie das Urteil des SG Hannover vom 2. September 1992 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Der Kläger hat entgegen der Auffassung der Vorinstanzen keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Vormerkung der Zeit vom 1. Juli 1983 bis zum 31. Dezember 1983 als Anrechnungszeit.
Anspruchsgrundlage für die Vormerkung der geltend gemachten Zeit ist § 149 Abs. 5 SGB VI. Diese das Vormerkungsverfahren regelnde Vorschrift findet hier nach dem am 1. Januar 1992 in Kraft getretenen § 300 Abs. 1 SGB VI Anwendung, unabhängig davon, ob der Sachverhalt, auf den der Anspruch gestützt wird, bereits vor diesem Zeitpunkt vorgelegen hat. Dies gilt entsprechend auch für die Vorschriften des SGB VI, welche die vorzumerkenden Anrechnungszeiten (nach altem Recht „Ausfallzeiten”) betreffen (vgl BSGE 70, 220, 221 = SozR 3–2600 § 252 Nr. 1; BSGE 71, 227, 228 = SozR 3–2600 § 56 Nr. 4).
Nach § 149 Abs. 5 SGB VI ist der Versicherungsträger verpflichtet, die im Versicherungsverlauf enthaltenen und nicht bereits festgestellten Daten, die länger als sechs Kalenderjahre zurückliegen, durch Bescheid festzustellen, nachdem er das Versicherungskonto geklärt oder der Versicherte innerhalb von sechs Kalendermonaten nach Versendung des Versicherungsverlaufs seinem Inhalt nicht widersprochen hat. Der danach zu erlassende Vormerkungsbescheid muß inhaltlich zutreffen (vgl BSGE 71, 227, 229 = SozR 3–2600 § 56 Nr. 4).
Der Vormerkungsbescheid der Beklagten vom 21. Juni 1988 ist jedenfalls insoweit nicht zu beanstanden, als darin die Anerkennung der hier streitigen Zeit als Anrechnungszeit abgelehnt wird. Die Vorinstanzen haben zutreffend entschieden, daß die streitige Zeit nicht als Zeit der Arbeitslosigkeit nach § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VI vorzumerken ist. Die Arbeitslosigkeit hat weder eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit noch einen versicherten Wehr- oder Zivildienst unterbrochen, denn der Kläger war sofort im Anschluß an seine Schulzeit arbeitslos (§ 58 Abs. 2 SGB VI).
Die streitige Zeit kann aber auch nicht als Anrechnungszeit nach § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Buchst a SGB VI vorgemerkt werden. Anrechnungszeiten sind danach (ua) Zeiten, in denen der Versicherte nach dem vollendeten 16. Lebensjahr eine Schule besucht hat. Der Tatbestand dieser Vorschrift ist seinem Wortlaut nach nicht gegeben, denn der Kläger war von der Schule bereits am 30. Juni 1993 entlassen worden, besuchte also im streitigen Zeitraum keine Schule mehr. Allerdings hat die Rechtsprechung des BSG schon seit langem „unvermeidliche Zwischenzeiten” zwischen zwei anrechenbaren Ausbildungszeiten noch der vorangegangenen Ausbildungszeit zugerechnet. Erstmals hat dies der 1. Senat durch Urteil vom 16. Februar 1966 (= BSGE 24, 241, 242) für die Zeit zwischen der Schulentlassung eines Abiturienten und dem nächstmöglichen Beginn des Hochschulstudiums mit der Begründung entschieden, es handele sich hier um einen häufigen und typischen Sachverhalt, der in Übereinstimmung mit der Rechtsanwendung im steuer- und Kindergeldrecht ähnlich wie die – ohne weiteres zur Schul- bzw Hochschulausbildung zählenden – Schul- bzw Semesterferien zu behandeln sei.
Diese Rechtsprechung ist sodann weiterentwickelt worden. Als unvermeidbare Zwischenzeit in diesem Sinne ist grundsätzlich auch die Zeit zwischen dem Ende der Schulausbildung und dem Beginn des Wehr- oder Zivildienstes angesehen worden, wenn das später abgeschlossene Studium zum frühestmöglichen Zeitpunkt nach dem Ende des Dienstes aufgenommen wurde (BSG SozR 2200 § 1259 Nr. 51). Nachdem der 11. Senat zunächst die Anerkennung der Zeit zwischen dem Ende des Schulbesuchs und dem Beginn einer Lehre als Ausfallzeit iS einer unvermeidbaren Zwischenzeit abgelehnt hatte, weil es sich wegen der Versicherungspflichtigkeit der Lehrzeit nicht um eine Lücke zwischen zwei Ausbildungszeiten handele (BSG SozR 2200 § 1259 Nr. 66), hat der 4. Senat diese Rechtsprechung mit Urteil vom 31. März 1992 (= BSGE 70, 220 ff = SozR 3–2600 § 252 Nr. 1) aufgegeben und insoweit die Lehre dem Studium gleichgestellt, weil sie nicht minder, als das Studium der Vorbereitung auf den späteren Beruf diene. Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung an, denn die Lehre ist insoweit eher einem Hochschulstudium als einer sonstigen versicherungspflichtigen Tätigkeit ohne Ausbildungscharakter vergleichbar. Die Zeit zwischen Schulentlassung und Beginn des Zivildienstes bei anschließender Lehre kommt daher im Prinzip als Anrechnungszeit iS einer „unvermeidlichen Zwischenzeit” in Betracht.
Als Voraussetzung für die Anerkennung einer Zeit als „unvermeidliche Zwischenzeit” ist allerdings zu verlangen, daß die fragliche Zeit generell unvermeidbar sowie darüber hinaus durch die Organisation des Schulwesens bzw des Wehr- oder Zivildienstes bedingt typisch und in diesem Sinne häufig ist (vgl BSG SozR 2200 § 1259 Nrn 58, 66, 81 ≪= BSGE 56, 148≫ und Nr. 97 sowie BSGE 70, 220 = SozR 3–2600 § 252 Nr. 1). Hinsichtlich der Dauer von anzuerkennenden Übergangszeiten im Bereich der Ausfall- bzw Anrechnungszeiten ist nach der Rechtsprechung des BSG von einem „Limit von 3 bis 4 Monaten” auszugehen (so BSG SozR 2200 § 1259 Nr. 81; BSGE 70, 220 = SozR 3–2600 § 252 Nr. 1). In „Anlehnung” an das Kindergeldrecht (§ 2 Abs. 2 Satz 5 BKGG) sei die Dauer der üblichen Schul- und Semesterferien zugrunde zu legen. Die Anrechnung einer Zeit von 7 % Monaten zwischen Abitur und Studium hatte der 11. Senat demgemäß wegen Überschreitung der höchstzulässigen Dauer bereits mit Urteil vom 6. Juli 1972 (= BSG SozR Nr. 47 zu § 1259 RVO) abgelehnt, wobei er betont hatte, auf die besondere Gestaltung individueller Verhältnisse dürfe nicht abgestellt werden.
Nach diesen Grundsätzen, von denen abzuweichen der erkennende Senat keinen Anlaß sieht, kann hier die Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 1983 weder ganz noch teilweise (vgl BSG SozR 2200 § 1259 Nr. 81; Kasseler Komm – Niesel, § 58 SGB VI RdNr. 72) als Anrechnungszeit vorgemerkt werden. Zum einen war die Überbrückungszeit von 6 Monaten nicht generell – etwa durch feststehende Anfangstermine – unvermeidbar, sondern sie beruhte auf den besonderen Umständen des Einzelfalls, insbesondere der ungewöhnlich langen Dauer des Verwaltungsverfahrens zur Anerkennung als KDV. Zum anderen überschreitet die Zeit von 6 Monaten die Dauer der üblichen Schul- und Semesterferien von 3 bis 4 Monaten erheblich. Ein solcher Zeitraum ist – im Gegensatz zu dem der Schul- bzw Semesterferien – nicht so kurz bemessen, daß er nicht sinnvoll durch eine versicherungspflichtige Beschäftigung hätte ausgefüllt werden können und damit nicht als Beitragszeit hätte ausfallen müssen; demgemäß hatte sich der Kläger auch als Arbeitsuchender gemeldet. Er wäre auch nicht aus Rechtsgründen gehindert gewesen, die beabsichtigte Lehrzeit vor Bescheidung seines Antrages auf Anerkennung als KDV zu beginnen. Insofern muß er sich mit solchen Schulabsolventen gleichstellen lassen, die sich zunächst ebenso lange (dh hier ein halbes Jahr lang) vergeblich um einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz bemüht haben und diesen Zeitraum auch nicht als Ausfall- oder Anrechnungszeit berücksichtigt bekommen können. Dagegen würde – wie gerade der vorliegende Fall zeigt – die Anerkennung von Zeiten zwischen Schulabgang und Wehr- oder Zivildienstbeginn, welche die übliche Länge der Schul- oder Semesterferien deutlich überschreiten, als erweiterte Anrechnungszeiten wegen Schulausbildung uU zu einer rentenversicherungsrechtlichen Berücksichtigung von solchen Zeiten der Arbeitslosigkeit führen, die nach dem Willen des Gesetzgebers gerade nicht als Anrechnungszeiten anerkannt werden sollen (vgl § 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 iVm Abs. 2 SGB VI).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1049497 |
Breith. 1995, 935 |