Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Urteil vom 14.11.1989) |
SG Hannover (Urteil vom 12.08.1987) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. November 1989 und des Sozialgerichts Hannover vom 12. August 1987 aufgehoben.
Der Beklagte wird unter Aufhebung seines Beschlusses vom 18. Juli 1985 verpflichtet, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats über die Beschwerde gegen den Beschluß des Widerspruchsausschusses vom 12. März 1985 erneut zu entscheiden.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über die Abrechenbarkeit von Materialkosten im Rahmen einer kieferorthopädischen Behandlung.
Der beigeladene Zahnarzt hatte im 3. Quartal 1983 bei der Patientin I. K. … (K.) als kieferumformende Maßnahme einen Gesichtsbogen mit intra-extraoraler Verankerung (Headgear) eingegliedert. Dafür hatte er neben der Gebührennummer 127 b) des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes für zahnärztliche Leistungen (Bema) Materialkosten für Gummizug und Nackenpolster abgerechnet. Die Klägerin beantragte nach § 3 Abs 2 der niedersächsischen Prüfordnung die rechnerische, gebührenordnungs- und vertragsmäßige Prüfung dieser Abrechnung. Ihre Bitte um Erstattung der Kosten begründete sie damit, daß Gummizug und Nackenpolster nicht anerkannt würden; mit der Gebühr für die Leistungen nach den Nummern 126 und 127 Bema seien die Materialkosten abgegolten. Die Kassenzahnärztliche Vereinigung (KZÄV) lehnte den Antrag ab, den Widerspruch wies der „Widerspruchsausschuß (Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫ § 3 Prüfungsordnung)” zurück. Die Beschwerde dagegen hat der Beklagte zurückgewiesen mit der Begründung, abrechenbar nach Nummer 127 b) Bema sei das Eingliedern eines Bogens einschließlich Materialkosten; die übrigen Bestandteile des Headgear (Gummizugbänder, Nackenschutzpolster) seien mit ihren Materialkosten zusätzlich berechenbar.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt, Nummer 127 b) Bema erstrecke sich auf die zur Verwirklichung des Leistungsinhalts dieser Gebührenposition, das Eingliedern des Bogens, erforderlichen Materialien. Abgegolten würden nach Nummer 127 b) Bema die Sachkosten des Bogens, der zur individuellen Anpassung benötigten Instrumente und ggf weiterer Hilfsstoffe. Andere Verrichtungen als die Anpassung und Formung des intra- und extraoral zu verankernden Bogens nach den individuellen anatomischen Gegebenheiten und Erfordernissen der Kiefer- und Bißveränderung umfasse die durch den Begriff des Eingliederns gekennzeichnete Leistungsbeschreibung der Nummer 127 b) Bema nach ihrem Wortsinn nicht. Somit seien Materialkosten, die nicht der Anpassung des Gesichtsbogens zuzurechnen seien, sondern anderweit mit der Aktivierung der eingesetzten orthodontischen Hilfsmittel zusammenhingen, nicht nach den Gebührennummern 126, 127 Bema von der Vergütung ausgenommen, sondern nach den allgemeinen Bestimmungen des Bema Nr 4 zu erstatten. Die Regelung der Nummer 127 b) Bema beziehe sich nur auf die dem Leistungsinhalt – Anpassung des Gesichtsbogens -zuzurechnenden Gegenstände, nicht dagegen auf die hier streitigen Kosten für andere Bestandteile des orthodontischen Behandlungsapparates.
Die Klägerin hat Revision eingelegt und macht geltend, die Unterscheidung zwischen Anpassung und Aktivierung des Headgear sei sinnwidrig, denn der Headgear sei ein Gesichtsbogen, der aus einem Innen- und einem Außenarm bestehe, dh aus intra- und extraoralen Behelfen. Für die Wirksamkeit des Headgear seien seine sämtlichen Teile – Nackenpolster, Gummibänder, Innen- und Außenarm sowie festsitzende intraorale Verankerung – erforderlich. Die Nummer 127 b) Bema umfasse nach der jahrelang praktizierten Abrechnungsweise alle Materialkosten für Bänder, Bögen und deren Hilfsteile.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. November 1989 und des Sozialgerichts Hannover vom 12. August 1987 sowie den Bescheid des Widerspruchsausschusses vom 3. April 1985 in der Gestalt des Bescheides des Beklagten vom 26. Juli 1985 aufzuheben und von der Abrechnung des Beigeladenen im Behandlungsfall I. … K. für das Quartal III/83 die Kosten für Gummizug und Nackenpolster in Höhe von insgesamt 2,90 DM abzusetzen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Der Beigeladene ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist hinsichtlich des Antrags auf Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen sowie des Bescheides des Beklagten begründet. Hinsichtlich des weitergehenden Antrags ist die Revision insoweit begründet, als sie zur Verurteilung zur Neubescheidung führt.
Der Beklagte war für die Entscheidung über den Antrag der Klägerin zuständig. Zwar kann die Zuständigkeit der Prüfungsinstanzen bei einer gebührenordnungsmäßigen Prüfung, um die es hier geht, ausgeschlossen sein (vgl BSGE 60, 69, 74 = SozR 2200 § 368n Nr 42 S 142). Für die kassenzahnärztliche Versorgung ist aber in der Verfahrensordnung gemäß § 22 Abs 6 des Bundesmantelvertrags-Zahnärzte (BMV-Z) bestimmt, daß der Prüfungsausschuß entscheidet, soweit über die Berichtigung von Honorarforderungen keine Einigung erzielt wird (§ 1 Abs 3 der Verfahrensordnung, Anlage 4 zum BMV-Z). Das LSG hat nicht ausdrücklich festgestellt, daß es sich bei dem „Widerspruchsausschuß (RVO, § 3 Prüfungsordnung)” um einen Prüfungsausschuß im Sinne der Verfahrensordnung handelt. Durch Vereinbarungen der KZÄV mit den Landesverbänden der Krankenkassen kann aber die Verfahrensordnung ergänzt und geändert werden (§ 22 Abs 6 Satz 3 BMV-Z). Der Senat kann zumindest keinen Verstoß gegen Bundesrecht erkennen, soweit das LSG von der Wirksamkeit der dem Beschluß des Beklagten zugrundeliegenden Entscheidung des Widerspruchsausschusses (RVO, § 3 Prüfungsordnung) ausgeht.
Der angefochtene Bescheid des Beklagten ist rechtswidrig. Zu Unrecht haben die Vorinstanzen und der Beklagte entschieden, daß die streitigen Materialkosten für Gummizug und Nackenpolster nach Nummer 4 der Allgemeinen Bestimmungen zum Bema abrechnungsfähig und daß diese Kosten nicht in die Vergütung nach Nr 127 b) Bema eingeschlossen seien. Mit ihren Urteilen haben sich die Vorinstanzen nicht in der bei Auslegung des Bema gebotenen Weise zurückgehalten.
Die Auslegung des Bema wird durch Besonderheiten dieser Norm bestimmt. Zutreffend hat das SG darauf hingewiesen, daß den Gerichten bei der Auslegung von Vorschriften über die Vergütung kassen- oder vertragsärztlicher Leistungen Zurückhaltung auferlegt ist (BSGE 58, 35, 37 f = SozR 5557 Nr 1 Nr 1). Sie haben sich an den Wortlaut des Bewertungsmaßstabs zu halten. Dieser wird als Bestandteil des Bundesmantelvertrags und des Vertrags der Ersatzkassenverbände mit der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung von den Vertragspartnern durch die Bewertungsausschüsse vereinbart (§ 368g Abs 4 RVO, § 87 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung – ≪SGB V≫) und ist in bestimmten Zeitabständen auch darauf zu überprüfen, ob die Leistungsbeschreibungen und ihre Bewertungen noch dem Stand der medizinisch-technischen Entwicklung sowie dem Erfordernis der Rationalisierung und Wirtschaftlichkeit entsprechen. Durch die Zusammensetzung der Bewertungsausschüsse soll gewährleistet werden, daß die unterschiedlichen Interessen in diesem Selbstverwaltungsorgan zum Ausgleich kommen.
Der Kontrollauftrag des Ausschusses beschränkt sich nicht auf die in § 368g Abs 4 RVO (§ 87 Abs 2 SGB V) besonders hervorgehobenen „auch”) Ziele, sondern richtet sich allgemein auf die zur Sicherstellung der kassenzahnärztlichen Versorgung erforderlichen Änderungen oder Klarstellungen (vgl § 368g Abs 1 RVO) des Bema. Dieser Aufgabe entspricht auch die Bildung einer Technischen Kommission, die den Bema verbindlich auszulegen hat, wenn sich aus dem BMV-Z und seinen Anlagen, zu denen der Bema gehört, Zweifelsfragen ergeben (Anlage 5 zum BMV-Z). Der Kontrollauftrag wirkt beschränkend auf die Auslegung des Bema durch die Gerichte.
Das bedeutet einmal, daß die Bema-Vorschrift von den Gerichten nicht extensiv interpretiert und auch keiner Analogie im ausweitenden oder restriktiven Sinne unterworfen werden darf. Die historische und die teleologische Interpretation sind regelmäßig ausgeschlossen. Was die noch verbleibende systematische Auslegung anlangt, so ist diese zwar notwendig, um die streitige Vorschrift in ihrer normativen Ganzheit zu sehen, wobei also einzelne Teile der Norm in anderen Vorschriften niedergelegt sein mögen, insbesondere generelle Normbestandteile den speziellen gegenüberzustellen und nur dadurch zu einer normativen Ganzheit zu bringen sind. Aber auch eine systematische Auslegung darf das Gericht seiner Entscheidung nur zugrunde legen, soweit sich mit ihrer Hilfe ein eindeutiger Wortlaut der anzuwendenden Vorschrift ergibt.
Der Beigeladene hat im Fall K. eine Leistung nach Nr 127 b) Bema erbracht. Ob die streitigen Kosten für den Gummizug und das Nakenpolster in die Vergütung nach Nr 127 b) Bema eingeschlossen sein können, läßt sich dem Wortlaut der Leistungsbeschreibung mit den dem Gericht offenstehenden Auslegungsmethoden nicht entnehmen. Nummer 127 b) Bema lautet:
Eingliedern eines Bogens einschließlich Punkte Material- und Laboratoriumskosten
- Teilbogen (2 oder mehr Teilbögen je Kiefer = 1 ungeteilter Bogen) 35
- intra-extraorale Verankerung (Headgear oä) 45
- ungeteilter Bogen,
alle Zahngruppen umfassend 65
Nach dem Urteil des LSG werden als eingeschlossene Material- und Laboratoriumskosten erfaßt die Sachkosten des Bogens, der zur individuellen Anpassung benötigten Instrumente und ggf weiterer Hilfsstoffe; zur Eingliederung gehören keine anderen Verrichtungen als die Anpassung und Formung des intra- und extraoral zu verankernden Bogens nach den individuellen anatomischen Gegebenheiten.
Der Wortlaut der Nr 127 b) Bema gibt indessen Anlaß zum Zweifel, ob – wie das LSG meint – nur die Kosten der Materialien für das Eingliedern des Bogens eingeschlossen sind oder auch die Kosten des für die Verankerung benötigten Materials. Die Leistungsbeschreibung der Nr 127 b) Bema stellt keinen vollständigen Satz dar. Wie der Teil „… intra-extraorale Verankerung (Headgear oä)” mit dem Teil „Eingliedern eines Bogens einschließlich Material- und Laboratoriumskosten …” verbunden ist, bleibt unklar. Die Leistungsbeschreibung könnte bedeuten: Eingliedern eines Bogens und (zusätzlich) dessen Verankerung. Die Leistung könnte sich aber auch stets, also in den Fällen der Nr 127 a) bis c) Bema, auf das Eingliedern des Bogens beschränken; dann würde Buchstabe b) lediglich eine besondere Gestaltung des Bogens voraussetzen, nämlich in der Weise, daß er intra/extraoral verankert werden kann. Von dieser zweiten Interpretation geht das LSG aus. Es sieht seine Auslegung bestätigt durch die Systematik des Bema. Nach seiner Meinung wird mit Nr 127 Bema dem erhöhten Arbeitsaufwand bei Verwendung eines festsitzenden orthodontischen Apparates – hier des Bogens – Rechnung getragen. Alle anderen Einzelmaßnahmen zur Kiefer- und Bißkorrektur blieben hingegen Leistungsinhalt der Nummern 119, 120 Bema. Damit hat das LSG sich indessen nicht auf die den Gerichten zugängliche Methoden zur Auslegung des Bema beschränkt, sondern hat auch eine teleologische Auslegung angewendet, die ihm nicht offengestanden hat.
Es bleibt mithin zweifelhaft, ob zum Leistungsinhalt nach Nr 127 b) Bema mehr gehört als die Eingliederung des Bogens. Da der Beklagte die Bestimmung nach ihrem Wortlaut und ohne weitere Begründung auf das Eingliedern des Bogens beschränkt hat, muß seine Entscheidung allein schon deshalb aufgehoben und der Beklagte zur Neubescheidung verurteilt werden. Dieses Verfahren ist insbesondere auch deshalb geboten, weil der Beklagte sich bisher nicht auf die im vorliegenden Urteil ausgesprochenen Rechtssätze eingestellt hat. Ihm wird nunmehr Gelegenheit gegeben, die ihm möglichen Folgerungen aus der Zweifelhaftigkeit zu ziehen. Er kann abwarten, ob ein nach der Anlage 5 zum BMV-Z Berechtigter in angemessener Zeit Klärung der Zweifelsfrage durch die Technische Kommission beantragt und wie dann die (verbindliche) Klärung ausfällt. Danach wäre zu entscheiden, ob die streitigen Materialien vom Wortlaut einschließlich der Klarstellung erfaßt werden.
Dagegen steht dem Beklagten nicht der Weg offen, die Vergütungsfähigkeit der streitigen Kosten etwa aufgrund einer teleologischen oder historischen Auslegung des Bema anzunehmen. Seine Befugnisse gehen insoweit nicht über diejenigen des Gerichts hinaus. Die Begrenzung der Prüfung durch das Gericht ergibt sich – wie dargelegt – aus der Kontrollaufgabe des Bewertungsausschusses und der Pflicht der Technischen Kommission zur Klärung von Zweifelsfragen. Aus diesen Aufgabenzuweisungen folgt aber weiter, daß die Kontrolle und Fortentwicklung des Bema sowie die Klärung von Zweifelsfragen auch nicht der Verwaltung bei der Anwendung des Bema zustehen. Es ließe sich nicht begründen, daß auf diese Weise im Ergebnis der Rechtsschutz der Kassen und der KZÄV durch bestimmte der gerichtlichen Kontrolle entzogene Entscheidungen beschränkt wäre. Einer weitergehenden Auslegungsbefugnis der Verwaltung steht auch entgegen, daß damit unterschiedliche und sich widersprechende Auslegungen des Bema sanktioniert würden.
Wenn die dargelegten Zweifel nicht geklärt werden, ist davon auszugehen, daß die Kosten der streitigen Materialien nicht neben Nr 127 b) Bema vergütet werden. Ein Vergütungsanspruch ergibt sich nicht aus Nr 4 der Allgemeinen Bestimmungen des Bema. Dem steht entgegen, daß der Einschluß in die Vergütung nach Nr 127 b) Bema zweifelhaft ist. Solange nicht positiv festgestellt werden kann, daß der Vergütungsanspruch besteht, ist er zu versagen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen
Haufe-Index 1174301 |
BSGE, 166 |