Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 02.10.1991) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig-Holstein vom 2. Oktober 1991 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger wegen eines im März 1985 in San Salvador erlittenen Unfalls Ansprüche auf Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung zustehen.
Der im Jahre 1947 geborene Kläger ist gelernter Kaufmann. Er war zunächst im Stammhaus der Firma R. … (Firma R), die Kaffee importiert, in Hamburg beschäftigt. Etwa im Jahre 1970 wurde er von der Firma R nach El Salvador geschickt. Dort war er als einziger deutscher Mitarbeiter der I. … … als sog „Repräsentant” der R-Gruppe tätig. Er hatte die Aufgabe, guten Kaffee für die Firma R zu finden, diesen zu begutachten, die Verladung zu überwachen und Einkaufskontrakte vorzubereiten. Der Kläger kehrte zweimal jährlich nach Deutschland zurück. Er hatte sich im August vor einer regelmäßig stattfindenden internationalen Kaffeetagung in London sowie im Frühjahr nach Beendigung der Ernte wie alle anderen Repräsentanten der Firma jeweils für einige Wochen in Hamburg aufzuhalten, um Instruktionen einzuholen.
In der Firma R wurden traditionsgemäß keine schriftlichen Arbeitsverträge abgeschlossen, so daß schriftliche Vereinbarungen über die Bedingungen des Arbeitsverhältnisses des Klägers nicht vorliegen. Der Kläger erhielt im Unterschied zu anderen vergleichbaren Mitarbeitern der Firma R im Ausland sein Gehalt durchgehend vom Hamburger Stammhaus. In den letzten Jahren bis 1985 bezog er 2.565,00 DM monatlich. Zusätzlich erhielt er von einer Tochterfirma der Firma R – der Firma I. … in Zueg in der Schweiz – ein monatliches Gehalt von 3.000,00 US-Dollar, das in El-Salvador ausgezahlt wurde.
Im April 1985 übersandte die Firma R eine Unfallanzeige an die Beklagte, nach der der Kläger im März 1985 bei der Rückfahrt von einem Empfang der Deutschen Botschaft in San Salvador nach einem Schußwechsel in der Folge eines Verkehrsunfalles schwere Verletzungen davongetragen hatte. Die Beklagte lehnte es mit Bescheid vom 14. April 1986 ab, den Kläger wegen des Unfalls in El Salvador zu entschädigen. Es liege kein Fall der Ausstrahlung gem § 4 Sozialgesetzbuch – Viertes Buch – (SGB IV) vor, da die Entsendung des Klägers nicht von vornherein zeitlich begrenzt gewesen sei. Eine Auslandsversicherung habe nicht vorgelegen.
Das Sozialgericht (SG) Lübeck hat zwei Mitarbeiter der Firma R, den Buchhalter B. … und den ua für die Auslandsabteilung zuständigen kaufmännischen Angestellten B. …, als Zeugen gehört und sodann mit Urteil vom 11. Mai 1990 den Ablehnungsbescheid aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, den Kläger erneut zu bescheiden. Aus der Eigenart der Beschäftigung des Klägers folge, daß die Entsendung im voraus zeitlich begrenzt gewesen sei. Aus den Besonderheiten des Kaffeegeschäfts ergebe sich, daß die Entsendung jeweils auf ein Erntejahr befristet sei, so daß der Kläger nur von einem Kaffeejahr zum nächsten in El Salvador tätig gewesen sei. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Schleswig-Holstein dieses Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das LSG in seinem Urteil vom 2. Oktober 1991 ausgeführt, daß keine Entsendung des Klägers iS des § 4 Abs 1 SGB IV vorliege. Es sei schon zweifelhaft, ob der Schwerpunkt des Beschäftigungsverhältnisses im Inland gelegen habe. Entscheidend sei aber, daß die Entsendung nach El Salvador nicht im voraus zeitlich begrenzt gewesen sei. Die Mitarbeiter der Firma R hätten als Zeugen vor dem SG ausgeführt, daß der Einsatz der deutschen Beschäftigten im Ausland auf unbestimmte Zeit erfolgt sei. Die Möglichkeit des Arbeitgebers, Mitarbeiter jederzeit, bzw jährlich zurückzurufen, stelle keinen Fall der im voraus zeitlich begrenzten Entsendung dar, da es nicht im vornhinein feststehe, wann der Entsandte zurückgerufen werde. Auch die Annahme des SG, die Eigenart des Kaffeegeschäfts habe zu einer immer nur einjährigen Entsendung des Klägers geführt, sei unrichtig. In diesem Falle hätte sich „nach allgemeiner arbeitsrechtlicher Erfahrung” die vertragliche Position des Klägers verändern und insbesondere sein Gehalt ansteigen müssen. Dies sei nicht geschehen. Außerdem sei es „erfahrungsgemäß für eine Kaffeeimportfirma … vorteilhaft”, die Beschaffung von Kaffee auf dem Auslandsmarkt kontinuierlich von derselben Person über Jahre hinweg vornehmen zu lassen. Die „faktische Eigenart des Geschäftes” bedinge daher nicht eine jeweils auf ein Jahr befristete Entsendung.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner vom LSG zugelassenen Revision und rügt eine Verletzung der §§ 103, 117; 62, 128 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) iVm Art 103 Grundgesetz (GG) sowie des § 4 SGB IV. Das LSG habe Erfahrungssätze über das Wesen des Kaffeegeschäfts seinem Urteil zugrunde gelegt, zu denen er sich vorher nicht habe äußern können. Der Anspruch auf rechtliches Gehör sei zudem dadurch verletzt, daß das Urteil mehrere Tatsachenfeststellungen – unter anderem zu der Höhe seines jährlichen Entgelts -enthalte, zu denen sich er sich ebenfalls nicht habe äußern können. Er habe schriftsätzlich und in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG die erneute Vernehmung des Zeugen B. … beantragt. Dieser Zeuge hätte die zeitliche Begrenzung der Entsendung auf jeweils ein Jahr bekundet. Das LSG habe diesen Beweisantrag nicht übergehen dürfen. Da das LSG die Aussagen der vom SG vernommenen Zeugen anders gewürdigt habe, hätte es zudem diese beiden Mitarbeiter unmittelbar als Zeugen vernehmen müssen.
Der Kläger beantragt,
- das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 2. Oktober 1991, Az.: L 4 U 64/90 und den Bescheid der Beklagten vom 14. April 1986 aufzuheben,
- die Beklagte zu verurteilen, ihm Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren,
- hilfsweise die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Das Urteil des LSG sei verfahrensfehlerfrei zustande gekommen und inhaltlich zutreffend. Bereits aus dem vom SG ermittelten Sachverhalt folge zwingend, daß eine im voraus zeitlich begrenzte Entsendung nicht vorliege. Das LSG habe den Sachverhalt lediglich rechtlich anders gewürdigt als das SG. In dem mehrjährigen Prozeß hätte der Kläger ausreichend Gelegenheit gehabt, zur Sach- und Rechtslage Stellung zu beziehen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist iS der Zurückverweisung begründet. Die tatsächlichen Feststellungen in dem Urteil halten zum Teil den Revisionsrügen des Klägers nicht stand. Hierbei genügt es, daß nur eine der Rügen des Klägers durchgreift; auf weitere Rügen, die ebenfalls zur Begründetheit der Revision führen können, braucht dann nicht mehr eingegangen zu werden (vgl zuletzt Urteil des erkennenden Senats vom 12. Mai 1992 – 2 RU 4/92).
Das LSG hat seine Überzeugung, daß die Beschäftigung des Klägers in El Salvador nicht im voraus zeitlich begrenzt war (vgl § 4 Abs 1 SGB IV) unter Verletzung des Anspruches des Klägers auf rechtliches Gehör gem §§ 62, 128 Abs 2 SGG, Art 103 Abs 1 GG gewonnen. Das LSG hat bei der Prüfung, ob die Eigenart des Beschäftigungsverhältnisses im voraus eine zeitliche Begrenzung der Tätigkeit als Kaffeebeschaffer bedingt, auf Erfahrungssätze abgestellt, die zuvor in dem gesamten Prozeß nicht Gegenstand des Verfahrens waren. Das LSG hat im wesentlichen mit zwei tragenden Gründen die vorausgegangene zeitliche Befristung des Beschäftigungsverhältnisses des Klägers verneint. Zum einen hat es ausgeführt, daß nach allgemeiner arbeitsrechtlicher Erfahrung die Vertragsbedingungen sich jährlich hätten ändern müssen, um sodann festzustellen, dies sei bei dem Kläger „nie geschehen” (vgl S 11 des angefochtenen Urteils). Es kann hier dahinstehen, ob dieser vom LSG ausgesprochene generelle Erfahrungssatz einer revisionsrechtlichen Prüfung standhalten würde (zur Prüfungskompetenz des BSG hinsichtlich dieser generellen Tatsache vgl Rauscher, Die Feststellung genereller Tatsachen durch das BSG, SGb 1986, 45 ff), da schon die Einführung dieses Erfahrungssatzes in den Prozeß für die Beteiligten überraschend kam. Jedenfalls dann ist auf Erfahrungssätze hinzuweisen, wenn sie nicht jedermann sicher gegenwärtig sind (vgl BVerwGE 67, 83; Hennig/Danckwerts/ König, SGG, Anm 5 zu § 62).
Es handelt sich bei der Aufstellung dieses Satzes „allgemeiner arbeitsrechtlicher Erfahrung” auch nicht um reine Rechtsanwendung, wie die Beklagte geltend macht. Eine allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts über die Rechtslage und seine beabsichtigte Subsumtionstätigkeit besteht freilich nicht (vgl BVerfG SozR 1500 § 62 Nr 19). Hier geht es jedoch zunächst darum, wie das LSG selbst ausgeführt hat, die „faktische Eigenart” (S 11 des Urteils) des Beschäftigungsverhältnisses zu bestimmen. Hierbei stellt das Gericht, ebenso wie bei dem identischen Rechtsbegriff „Eigenart der Beschäftigung” in § 8 Abs 1 Nr 2 SGB IV, zunächst die „Natur der Sache” des Beschäftigungsverhältnisses fest (vgl Merten in GK-SGB IV § 8 RdNr 37). Erst nach der Aufklärung der faktischen Verhältnisse der Beschäftigung eines Kaffeebeschaffers im Ausland kann rechtlich subsumiert und begründet werden, ob diese tatsächlichen Gegebenheiten des Kaffeegeschäftes für oder gegen eine zeitliche Begrenzung iS des § 4 Abs 1 SGB IV aufgrund der Eigenart der Beschäftigung sprechen (zur Abgrenzung von Tat- und Rechtsfragen vgl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl 1991, S 307 ff). Von daher wäre das LSG gehalten gewesen, seine spezifischen Ansichten über die Natur des Kaffeegeschäfts und die Beschäftigung von Kaffeebeschaffern im Ausland den Beteiligten kundzutun. Dies gilt hier um so mehr, als der Berichterstatter die Beteiligten vor der mündlichen Verhandlung auf die maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkte hingewiesen und hierbei die „Eigenart des Beschäftigungsverhältnisses” offensichtlich als nicht weiter aufklärungsbedürftig betrachtet hat (vgl Bl 175 f der LSG-Akte). Das LSG hat somit die Beteiligten mit einer zu einem Erfahrungssatz verallgemeinerten Tatsachenwürdigung des Kaffeegeschäfts überrascht, für die bisher keine Hinweise vorgelegen haben (BSG SozR 1500 § 62 Nr 20). Das LSG unterlag einer Hinweispflicht hier zudem deshalb, weil das SG gerade an dem Punkt der Eigenart des Beschäftigungsverhältnisses von einer grundsätzlich anderen Sicht der Tatsachen des Kaffeegeschäftes ausgegangen war (eine Hinweispflicht des LSG in diesen Fällen bejahen Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 1991, III RdNr 20). Hierbei kommt erschwerend hinzu, daß das LSG dem Kläger nicht nur den Erfahrungssatz über das jährlich ansteigende Gehalt vorenthalten, sondern auch die Tatsachenfeststellung, das Gehalt sei „nie” (S 11 des Urteils) gestiegen, in verfahrensrechtlich unzulässiger Weise getroffen hat. Auch die Höhe des jährlichen Gehalts war nicht Gegenstand der Rechts- und Sacherörterung vor dem LSG und hatte auch keine sichere Grundlage in den Aktenunterlagen, so daß der Kläger zu Recht anführt, er hätte zu der Gehaltsentwicklung abweichend vortragen können, wenn die vom LSG vertretene Maßgeblichkeit dieser Tatsache erkennbar gewesen wäre. Insofern wird das LSG gem §§ 62, 128 Abs 2 SGG dem Kläger zunächst die Möglichkeit einräumen müssen, zu der tatsächlichen Gehaltsentwicklung ab 1970 bis zu dem Unfallzeitpunkt vorzutragen.
Dasselbe gilt für den zweiten Erfahrungssatz, der das Urteil des LSG trägt. Nach diesem Erfahrungssatz sei es für Kaffeefirmen erfahrungsgemäß vorteilhaft, die Kaffeebeschaffung auf einem Auslandsmarkt kontinuierlich von einer Person über Jahre hinweg vornehmen zu lassen. Auch hier handelt es sich um eine allgemeine Sachaussage über das Kaffeegeschäft, die ohne vorherige Ankündigung abweichend von der sozialgerichtlichen Entscheidung in den Rechtsstreit tragend eingeführt worden ist. Der Kläger macht insoweit geltend, es wäre ihm möglich gewesen, zu dieser vom LSG behaupteten Eigenart des Kaffeegeschäfts Tatsachen vorzutragen, wenn die Relevanz dieser Tatsachenaussage erkennbar gewesen wäre.
Zwar ist die Verletzung rechtlichen Gehörs kein absoluter Revisionsgrund (Krasney/Udsching aaO IX RdNr 137 mwN), aber mit seiner Rüge zeigt der Kläger auf, daß das angefochtene Urteil gerade auf diesem Verfahrensmangel beruhen kann. Die beiden Erfahrungssätze – jährliche Veränderung der Arbeitsbedingungen und betrieblicher Vorteil, kontinuierlich eine Person im Ausland zu beschäftigen – sind tragend für die Entscheidung des LSG. Auf diesen beiden Tatsachenbehauptungen beruht die Subsumtion im angefochtenen Urteil, mit der das LSG das Vorliegen der Voraussetzungen des § 4 Abs 1 SGB IV wegen der fehlenden zeitlichen Begrenzung infolge der Eigenart der Beschäftigung ablehnt.
Der Senat sieht sich aufgrund des gerügten Verfahrensfehlers gehalten, den Rechtsstreit gem § 170 Abs 2 SGG zur erneuten Verhandlung an das LSG zurückzuverweisen. Der Senat hält es nicht für tunlich, schon vorab und ggf unter mehreren Alternativen seine Rechtsauffassung auf Grund der verschiedenen möglichen Fallgestaltungen darzulegen. Dies gilt auch für die Frage, ob zB bei sog Kettenarbeitsverträgen sich eng an die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts anzulehnen ist (vgl ua Koch, NZA 1992, 154) oder ob die Entsendung im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses die maßgebende Entscheidungsgrundlage bildet (vgl KassKomm – Seewald, RdNr 14 zu § 4 SGB IV; Kaltenbach/Maier in Koch/Hartmann ua, Die Rentenversicherung im SGB unter besonderer Berücksichtigung der Angestelltenversicherung, RdNrn 45 und 46 zu § 4 SGB IV; differenzierend Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung Bd I/1, S 80 o 1). Eine abschließende Sachentscheidung ist dem Senat auch insoweit nicht möglich, da die tatsächliche Vertragsgestaltung noch aufzuklären ist.
Kommt das LSG nach erneuter Sach- und Rechtsprüfung zu der rechtlichen Überzeugung, ein Fall der Entsendung gem § 4 Abs 1 SGB IV liege vor, so hätte es sodann selbst zu ermitteln und zu prüfen, inwieweit die Ansprüche des Klägers aus der gesetzlichen Unfallversicherung dem Grunde nach bestehen. Hierfür wäre es zunächst erforderlich, die genauen Umstände des Vorfalles im März 1985 in El Salvador aufzuklären. Dies hat das LSG im übrigen auch erkannt, jedoch dann – von seiner Rechtsauffassung zu Recht – zunächst von weiteren Ermittlungen zum Unfallhergang abgesehen, da es der Überzeugung war, bereits den Tatbestand des § 4 Abs 1 SGB IV verneinen zu können.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen