Entscheidungsstichwort (Thema)
Überbrückungsgeld. Bescheidungsurteil. Ermessensentscheidung. Ermessensausübung, Begründung der. Richtlinien, ermessenslenkende. Förderdauer, abgestufte. Abwägungsdefizit. Einzelfallermessen, Ausübung von. Verhältnisse, individuelle, Berücksichtigung von. Arbeitslosigkeit, Dauer der. Langzeitarbeitslose. Mutterschaftsgeldbezug. Gesichtspunkte, verfassungsrechtliche. Gleichbehandlungsgrundsatz. Frauen, Diskriminierung von
Leitsatz (amtlich)
Bei der Ermessensentscheidung über die Gewährung von Überbrükkungsgeld (§ 55a AFG) dürfen die Arbeitsämter zwar nach ermessenslenkenden Richtlinien verfahren; darin nicht erfaßte besondere Umstände des Einzelfalles müssen sie jedoch prüfen und in die Entscheidung erkennbar einbeziehen.
Normenkette
AFG § 55a Fassung: 14.12.1987; FdAAnO § 38 Fassung: 16.3.1988, § 39 Fassung: 16.3.1988; SGB X § 35 Abs. 1 S. 3; GG Art. 3 Abs. 1-2; SGG § 131 Abs. 3
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Urteil vom 25.06.1992; Aktenzeichen L 8 Ar 6/92) |
SG Oldenburg (Urteil vom 29.10.1991; Aktenzeichen S 4b Ar 104/89) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 25. Juni 1992 aufgehoben, soweit die Klage auf Verurteilung der Beklagten zur Erteilung eines neuen Bescheides abgewiesen worden ist. Das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 29. Oktober 1991 wird unter entsprechender Zurückweisung der Berufung der Beklagten wie folgt abgeändert: Der Bescheid der Beklagten vom 17. November 1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Februar 1989 und des Bescheides vom 28. März 1991 wird aufgehoben, soweit darin die Gewährung von Überbrückungsgeld für mehr als 18 Wochen abgelehnt worden ist. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin in bezug auf die Gewährung von Überbrückungsgeld für weitere acht Wochen einen neuen Bescheid zu erteilen.
Die Beklagte hat der Klägerin 2/3 der außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Klägerin begehrt (noch) die Erteilung eines neuen Bescheides in bezug auf die Gewährung von Überbrückungsgeld (Übbg) für weitere acht Wochen.
Sie war im Rahmen einer Maßnahme zur Arbeitsbeschaffung (1. Juli 1986 bis 30. Juni 1987) als Gymnastiklehrerin beschäftigt gewesen. Anschließend bezog sie vom 1. Juli bis 19. August 1987 Arbeitslosengeld (Alg), vom 20. August bis 26. November 1987 Mutterschaftsgeld (Mug), vom 27. November 1987 bis 6. April 1988 (Erschöpfung der Höchstbezugsdauer) Alg sowie vom 7. April bis 30. September 1988 (Anschluß-)Arbeitslosenhilfe (Alhi). Zum 1. Oktober 1988 machte sie sich durch Gründung eines Sportstudios selbständig. Bereits mit Schreiben vom 13. April 1988 hatte sie Antrag auf Gewährung von Übbg für die Aufnahme ihrer selbständigen Tätigkeit ab 1. Oktober 1988 gestellt; der wöchentliche Arbeitsaufwand sollte mindestens 18 Stunden betragen. Die Stellungnahme einer fachkundigen Stelle über die Tragfähigkeit der Existenzgründung ging am 7. November 1988 beim Arbeitsamt (ArbA) ein. Dieses lehnte die Gewährung von Übbg mit Hinweis auf fehlende Haushaltsmittel ab (Bescheid vom 17. November 1988). Auf erneuten Antrag vom 9. Januar 1989, den die Klägerin damit begründete, daß sie sich noch in der Aufbauphase befinde und nicht kostendeckend arbeite, bewilligte das ArbA ab 1. Januar 1989 Übbg für die Dauer von fünf Wochen (1. Januar bis 3. Februar 1989), und zwar in Höhe von 1.422,00 DM nebst Zuschüssen zu den Aufwendungen für Krankenversicherung und Altersversorgung in Höhe von 426,60 DM (Bescheid vom 16. Januar 1989). Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 7. Februar 1989). Zur Begründung stellte die Widerspruchsstelle heraus, die Rechtsvoraussetzungen für die Gewährung von Übbg ab 1. Oktober 1988 seien erfüllt. Wegen des Leistungsvorbezuges komme zwar grundsätzlich eine Gewährung von Übbg für 18 Wochen in Betracht. Indes könne Übbg für die Zeit vom 1. Oktober bis 31. Dezember 1988 auch im Wege der Ermessensausübung nicht zugebilligt werden. Denn Übbg hätte aufgrund Runderlasses wegen fehlender Haushaltsmittel ab 17. Oktober 1988 nicht mehr erbracht werden dürfen. Der Ausnahmefall einer schriftlichen Zusicherung sei nicht gegeben.
Während des Klageverfahrens hat das ArbA den Bescheid vom 16. Januar 1988 aufgehoben und der Klägerin Übbg ab 1. Oktober 1988 für die Dauer von 18 Wochen (1. Oktober 1988 bis 3. Februar 1989) gewährt, und zwar in Höhe von 5.119,20 DM nebst Zuschüssen zu den Aufwendungen für Krankenversicherung und Altersversorgung in Höhe von 1.535,76 DM (zusammen 6.654,96 DM); der Differenzbetrag von 4.806,36 DM (6.654,96 DM abzüglich erbrachter 1.848,60 DM) werde überwiesen (Bescheid vom 28. März 1991). Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid der Beklagten vom 17. November 1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Februar 1989 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, ihren Bescheid vom 28. März 1991 wie folgt zu ändern: “Anläßlich der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit am 1. Oktober 1988 bewillige ich Ihnen ab 1. Oktober 1988 für die Dauer von 26 Wochen folgende Leistungen:
Überbrückungsgeld in Höhe von |
7.394,40 DM |
Aufwendungen für die Krankenversicherung und Altersversorgung in Höhe von |
2.218,32 DM |
insgesamt |
9.612,72 DM”. |
Die Berufung wurde zugelassen (Urteil vom 29. Oktober 1991). Zur Begründung hat es hervorgehoben, der Bezug von Mug hätte bei der Bemessung der Dauer des Übbg Berücksichtigung finden müssen; die Nichtberücksichtigung laufe auf eine Diskriminierung der Klägerin als Frau und Mutter hinaus.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 25. Juni 1992). Zur Begründung hat es ausgeführt, die längstmögliche Dauer des Übbg (§ 55a Arbeitsförderungsgesetz ≪AFG≫) hänge nach dem Runderlaß der Beklagten 173/88 vom 29. Dezember 1988 von der Dauer der zuletzt bezogenen Alg/Alhi-Leistungen ab; ein Alg/Alhi-Bezug von mehr als zwölf Monaten bringe einen Anspruch auf Übbg von 26 Wochen mit sich, ein Alg/Alhi-Bezug von neun bis zwölf Monaten einen solchen von 18 Wochen. Im Fall der Klägerin liege der Alg/Alhi-Bezug unter zwölf Monaten (1. Juli bis 19. August 1987; 27. November 1987 bis 30. September 1988). Die Dauer des Mug-Bezuges (20. August bis 26. November 1987), während der der Anspruch auf Alg geruht habe (§ 118 Abs 1 Nr 2 AFG), wirke sich auf die Dauer des Übbg nicht aus. Das Ruhen des Alg-Anspruchs ermögliche zwar, daß eine Zusammenrechnung der vor und nach dem Ruhenszeitraum liegenden Leistungszeiten stattfinde. Doch könne nur die Dauer der tatsächlichen Inanspruchnahme der Versichertengemeinschaft für eine Förderung nach § 55a AFG von Einfluß sein.
Die Klägerin rügt mit der Revision eine Verletzung von Art 3 Abs 1 und 2 Grundgesetz (GG). Die Ermessensausübung der Beklagten kollidiere sowohl mit dem allgemeinen als auch mit dem besonderen Gleichheitssatz. Während Männer und Frauen durch den Bezug von Krankengeld gleichermaßen berührt seien, werde durch den Bezug von Mug allein die Frau betroffen. Der Bezug von Mug dürfe sich auf den Bezug von Übbg nicht nachteilig auswirken. Die von der Beklagten praktizierte Ermessensausübung führe zu einer mittelbaren Diskriminierung des weiblichen Geschlechts. Dem könne nur dadurch begegnet werden, daß der Bezug von Mug im Rahmen der Ermessensausübung dem Bezug von Alg und Alhi gleichgestellt werde.
Die Klägerin beantragt:
Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 25. Juni 1992 wird aufgehoben, soweit die Klage auf Verurteilung der Beklagten zur Erteilung eines neuen Bescheides abgewiesen worden ist. Das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 29. Oktober 1991 wird unter entsprechender Zurückverweisung der Berufung der Beklagten dahin neu gefaßt, daß die Beklagte unter Änderung der angefochtenen Bescheide verurteilt wird, der Klägerin über ihren Anspruch auf Gewährung von Überbrückungsgeld für weitere acht Wochen einen neuen Bescheid zu erteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das zweitinstanzliche Urteil für zutreffend und erwidert, wegen des Leistungsbezuges von 9 bis 12 Monaten komme eine Förderdauer von längstens 18 Wochen in Betracht; im Einzelfall sei eine Verkürzung möglich. Ein Alg/Alhi-Bezug könne während des Bezuges von Mug auch nicht fingiert werden. Denn das Ruhen des Leistungsanspruchs während des Mug-Bezuges (§ 118 Abs 1 Nr 2 AFG) beruhe auf der Erwägung, daß Alg und Alhi während der Zahlung von Mug zeitlich begrenzt nicht benötigt würden. Dem Mutterschutz sei ausreichend dadurch Rechnung getragen, daß der Mug-Zeitraum als unschädliche Unterbrechung des Alg/Alhi-Bezuges anerkannt werde.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist begründet.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist lediglich noch das Begehren der Klägerin auf Verurteilung der Beklagten zum Erlaß eines Bescheidungsurteils (§ 131 Abs 3 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) in bezug auf die Gewährung von Übbg für weitere acht Wochen (4. Februar bis 31. März 1989). Zwar hat das SG die Beklagte verurteilt, ihren Bescheid in dem Sinne zu ändern, daß der Klägerin anläßlich der Aufnahme der selbständigen Tätigkeit ab 1. Oktober 1988 für die Dauer von 26 Wochen Übbg nebst Zuschüssen in bestimmter Höhe zu bewilligen sei, mithin ein Leistungsurteil (§ 54 Abs 4 SGG) erlassen. Doch hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und die Klage insgesamt abgewiesen, also auch hinsichtlich des Leistungsantrags. Die insoweit eingelegte Revision ist von der Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat zurückgenommen worden. Vor dem Bundessozialgericht (BSG) anhängig geblieben ist somit allein die schon vor dem SG hilfsweise erhobene Bescheidungsklage, über die das LSG ebenfalls klagabweisend mitentschieden hat.
Verfahrenshindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Die grundsätzlich statthafte Berufung (§ 143 SGG) war nicht etwa gemäß § 144 Abs 1 Nr 2 SGG in der bis zum 28. März 1993 geltenden Fassung ausgeschlossen. Denn sie ist vom SG zugelassen worden (§ 150 Nr 2 Halbs 1 SGG aF).
In der Sache selbst hat die Bescheidungsklage Erfolg.
Gemäß § 55a AFG idF des Gesetzes zur Ergänzung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente und zum Schutz der Solidargemeinschaft vor Leistungsmißbrauch (Achtes Gesetz zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes) vom 14. Dezember 1987 (BGBl I 2602), in Kraft getreten am 1. Januar 1988 (Art 13 Abs 1), kann die Bundesanstalt für Arbeit (BA) Arbeitslosen bei Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von mindestens 18 Stunden für längstens 26 Wochen Übbg gewähren, wenn der Arbeitslose bis zur Aufnahme dieser Tätigkeit mindestens vier Wochen Alg oder Alhi bezogen hat. Voraussetzung für die Gewährung von Übbg ist die Vorlage einer Stellungnahme einer fachkundigen Stelle über die Tragfähigkeit der Existenzgründung (Abs 1). Das Übbg wird höchstens bis zu dem Betrag gewährt, den der Antragsteller als Alg oder Alhi zuletzt bezogen hat (Abs 2). Die BA gewährt Beziehern von Übbg auf Antrag Zuschüsse zu ihren Aufwendungen für eine Versicherung für den Fall der Krankheit sowie eine Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversorgung (Altersversorgung). Als Zuschüsse werden die Beträge gewährt, die die BA für den Antragsteller zuletzt für die Zeit des Bezuges von Alg oder Alhi als Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung entrichtet hat (Abs 3). Schließlich kann die BA zur Durchführung der Absätze 1 bis 3 das Nähere über Voraussetzungen, Art und Umfang der Förderung durch Anordnung bestimmen. Sie kann die Zuschüsse nach Abs 3 pauschalieren (Abs 4). Die BA hat von der in § 55a Abs 4 AFG vorgesehenen Ermächtigung Gebrauch gemacht. Ihr Verwaltungsrat hat die Anordnung zur Förderung der Arbeitsaufnahme (FdAAnO) vom 18. Dezember 1969 (ANBA 1970 S 90) erlassen, die hier idF der 9. Änderungsanordnung vom 16. März 1988 (ANBA S 674, 675), in Kraft getreten am 1. Januar 1988 (Art 2 Nr 1), Anwendung findet.
Die Rechtsvoraussetzungen des § 55a AFG und die der FdAAnO vom 18. Dezember 1969 idF der 9. Änderungsanordnung vom 16. März 1988 sind vorliegend, wie sowohl die Beklagte als auch die Vorinstanzen zu Recht angenommen haben, erfüllt. Die Klägerin hat mit der Gründung des Sportstudios am 1. Oktober 1988 eine selbständige Tätigkeit aufgenommen. Sie hat bis zu der Aufnahme mindestens vier Wochen Alg bzw Alhi bezogen, nämlich Alg vom 27. November 1987 bis 6. April 1988 und Alhi vom 7. April bis 30. September 1988. Die wöchentliche Arbeitszeit der ab 1. Oktober 1988 ausgeübten selbständigen Tätigkeit belief sich auf mindestens 18 Stunden (§ 55a Abs 1 Satz 1 AFG). Dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des zweitinstanzlichen Urteils ist ferner zu entnehmen, daß die Klägerin dem ArbA am 7. November 1988 die Stellungnahme einer fachkundigen Stelle vorgelegt hat, nach der zu erwarten stand, daß die selbständige Tätigkeit voraussichtlich auf Dauer eine ausreichende Lebensgrundlage bieten werde (§ 55a Abs 1 Satz 2 AFG; § 38 FdAAnO).
Sind sonach die Rechtsvoraussetzungen sowohl des § 55a AFG als auch der FdAAnO verwirklicht, konnte der Klägerin ab Aufnahme ihrer selbständigen Tätigkeit (1. Oktober 1988), solange sie diese mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von mindestens 18 Stunden ausübte, längstens bis zum Ende der 26. Woche (31. März 1989) Übbg gewährt werden. Diese inhaltliche Bestimmung des § 55a AFG ergibt sich aus dem gesetzgeberischen Anliegen, Arbeitslosen, die eine selbständige Tätigkeit anstreben, in den ersten Monaten der Existenzgründung längstens bis zu 26 Wochen durch Übbg bis zur Höhe der zuletzt bezogenen Alg/Alhi-Leistungen eine Einkommenssicherung zu ermöglichen (vgl Begründung zum 7. AFG-ÄndG, BT-Drucks 10/3923 S 2, 15, 20; Begründung zum 8. AFG-ÄndG, BT-Drucks 11/800 S 2, 17; BT-Drucks 11/1161 S 10). Der Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG rechtfertigt den Schluß, daß die Klägerin ihre am 1. Oktober 1988 aufgenommene selbständige Tätigkeit nicht vor dem 1. April 1989 aufgegeben hat.
Aus dem Wort “kann” auf der Rechtsfolgenseite des § 55a AFG geht hervor, daß die Beklagte über Förderanträge nach Ermessen entscheidet. Das bedeutet: Die BA hat ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten (§ 39 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – ≪SGB I≫; § 54 Abs 2 Satz 2 SGG). Umgekehrt hat die Klägerin einen Anspruch auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens (§ 39 Abs 1 Satz 2 SGB I), nicht aber einen Rechtsanspruch auf Gewährung der in § 55a AFG genannten Leistungen. Ein solcher stünde ihr allein unter der Voraussetzung zu, daß sich der der Beklagten eingeräumte Ermessensspielraum so stark eingeengt hätte, daß nur noch eine einzige richtige Entscheidung, nämlich die von der Klägerin vor dem SG mit dem Hauptantrag verlangte, möglich wäre (sog Ermessensreduzierung auf Null). Anhaltspunkte für eine solche Situation liegen hier nicht vor, weshalb die Klägerin ihren vor dem SG gestellten Hauptantrag vor dem BSG zu Recht nicht weiterverfolgt hat.
Somit kommt es darauf an, ob die Entscheidung der Beklagten als ermessensfehlerfrei oder ermessensfehlerhaft zu bewerten ist. Nach Auffassung des Senats entspricht die Entscheidung der Beklagten nicht den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Ermessensausübung.
Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ermessensentscheidung ist bei Verpflichtungsklagen im allgemeinen der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgebend (BSGE 43, 1, 5 = SozR 2200 § 690 Nr 4; Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl 1993, § 54 RdNr 34 mwN). Doch kann im Einzelfall auf einen früheren Zeitpunkt abzustellen sein. So liegt es hier. Die FdAAnO vom 19. März 1989 (ANBA S 997), die am 1. Juni 1989 in Kraft trat (§ 28 Satz 1) und für Antragsteller von Übbg zu einer Verschlechterung führte (vgl § 22), bestimmt in der Übergangsregelung des § 27, daß vor dem 1. Juni 1989 bewilligte Leistungen nach den für die Zeit vor dem Inkrafttreten dieser Anordnung geltenden Vorschriften abzuwickeln sind. Das kann nur so verstanden werden, daß unter die “vor dem 1. Juni 1989 bewilligten Leistungen” auch solche Leistungen zu subsumieren sind, die aus der Sicht des Antragstellers für eine unzureichende Dauer zugebilligt worden sind. Demnach ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ermessensentscheidung der Beklagten § 55a AFG iVm § 39 der FdAAnO idF der 9. Änderungsanordnung einschlägig, der in Anlehnung an den Wortlaut des § 55a AFG festlegt, daß Übbg bis zur Dauer von 26 Wochen bis zur Höhe des Betrages, der zuletzt als Alg oder Alhi gezahlt wurde, als Zuschuß gewährt werden kann. Nach Auffassung des Senats hat die Beklagte von dem ihr in diesen Vorschriften eingeräumten Ermessen nicht in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht.
Allerdings ist es grundsätzlich nicht zu beanstanden, daß die Beklagte im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung (Widerspruchsbescheid vom 7. Februar 1989; Änderungsbescheid vom 28. März 1991) für die längstmögliche Dauer des zu gewährenden Übbg von den Grundsätzen ausgegangen ist, die sie in ihrem Dienstblatt-Runderlaß 173/88 vom 29. Dezember 1988 unter Ziff 2.5 niedergelegt hatte. Danach hing die längstmögliche Dauer des zu bewilligenden Übbg von der Dauer des zuletzt bezogenen Alg oder der Alhi wie folgt ab: Bei einem Alg/Alhi-Vorbezug von bis zu drei Monaten war Übbg bis zu acht Wochen, bei einem Vorbezug von über drei bis 9 Monaten bis zu 13 Wochen, bei einem Vorbezug von über 9 bis 12 Monaten bis 18 Wochen und bei einem Vorbezug von mehr als 12 Monaten bis 26 Wochen zu gewähren. In dieser nach der vorangegangenen Dauer des Leistungsbezuges abgestuften Förderdauer spiegelt sich nicht nur, wie es unter Ziff 2.5 des Dienstblatt-Runderlasses 173/88 vom 29. Dezember 1988 heißt, das Interesse der BA wider, “vorrangig schon längere Zeit im Leistungsbezug stehenden Arbeitslosen die Gründung einer selbständigen Existenz als Alternative zu einer bisher nicht realisierbaren Eingliederung in abhängige Beschäftigung durch eine längere Förderdauer zu erleichtern”. Eine so abgestufte Förderdauer entspricht auch einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise (BVerfGE 9, 334, 337; 60, 329, 346 f; 81, 157, 206 f; BSGE 72, 100, 105 = SozR 3-4100 § 44 Nr 9). Denn die Dauer des Leistungsvorbezuges ist Indiz für die Schwierigkeit der Vermittlung des Arbeitslosen in eine abhängige Beschäftigung.
Indes ist den unter Ziff 2.5 des Dienstblatt-Runderlasses 173/88 vom 29. Dezember 1988 festgelegten “ermessenslenkenden” Richtlinien nicht absoluter Charakter zuzuerkennen. Ihre Handhabung darf nicht zu “gebundenen” Entscheidungen führen. Es muß Raum für die Ausübung von Ermessen im Einzelfall bleiben. Das fordert der in § 55a AFG zum Ausdruck gekommene Gesetzeszweck. Wenn dieser dahin geht, Arbeitslosen, die eine selbständige Tätigkeit anstreben, in den ersten Monaten der Existenzgründung längstens bis zu 26 Wochen durch Übbg bis zur Höhe der zuletzt bezogenen Alg/Alhi-Leistungen eine Einkommenssicherung zu ermöglichen, müssen neben der Beachtung allgemeiner Grundsätze die konkreten Verhältnisse des Einzelfalles mitberücksichtigt werden. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Einzelfall Besonderheiten aufweist, denen die allgemeinen Grundsätze nicht Rechnung tragen. Nur so läßt sich nämlich sicherstellen, daß der Antragsteller die in seinem Fall angemessene Förderung erhält. Für die Notwendigkeit individueller Ermessensausübung spricht auch Abs 4 des § 55a AFG, wonach die BA zur Durchführung der Absätze 1 bis 3 das Nähere ua über den Umfang der Förderung durch Anordnung bestimmen, jedoch lediglich die Zuschüsse zu den Aufwendungen für Krankenversicherung und Altersversorgung pauschalieren kann. Zu Recht betont die BA in ihren jüngeren FdA-Anordnungen deshalb selbst, daß für die Förderdauer von Übbg nicht allein die Dauer des Alg/Alhi-Vorbezuges ausschlaggebend ist. Während § 22 Abs 5 der FdAAnO vom 19. Mai 1989 – in Anlehnung an Ziff 2.5 des Dienstblatt-Runderlasses 173/88 vom 29. Dezember 1988 – noch auf eine nach dem Leistungsvorbezug abgestufte Förderdauer abhob, sah § 22 Abs 4 der FdAAnO vom 19. Mai 1989 idF der 1. Änderungsanordnung vom 19. Dezember 1991 (ANBA 1992 S 111), in Kraft ab 1. Januar 1992, die Gewährung von Übbg für in der Regel nicht länger als 13 Wochen vor. Ausnahmsweise konnte Übbg bis zu 26 Wochen gewährt werden, nämlich dann, wenn der Antragsteller wegen seines Alters oder der Dauer der Arbeitslosigkeit oder seiner Zugehörigkeit zum Personenkreis der §§ 1 oder 2 Schwerbehindertengesetz in seiner Wettbewerbsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt im Vergleich mit anderen Arbeitslosen benachteiligt war (§ 19 Abs 2). Ähnlich stellt § 24 Abs 4 der FdAAnO vom 19. Dezember 1991 idF der 2. Änderungsanordnung vom 27. Januar 1993 (ANBA S 394) für die Zeit ab 1. Januar 1993 heraus, daß Übbg in der Regel längstens bis zu zehn Wochen gewährt werden kann. Ausnahmsweise darf es bis zu längstens 15 Wochen für Antragsteller gewährt werden, die 45 Jahre und älter sind. Unter denselben Voraussetzungen wie nach § 19 Abs 2 der FdAAnO vom 19. Mai 1989 idF der 1. Änderungsanordnung vom 19. Dezember 1991 darf Übbg bis zu längstens 26 Wochen für schwervermittelbare Antragsteller gewährt werden (§ 20 Abs 2). Gleiches gilt im Hinblick auf § 55a Abs 1a AFG, eingefügt durch das Gesetz zur Änderung von Förderungsvoraussetzungen im AFG und in anderen Gesetzen vom 18. Dezember 1992 (BGBl I 2044), für Arbeitnehmer, die unmittelbar vor Aufnahme der selbständigen Tätigkeit mindestens vier Wochen Kurzarbeitergeld nach § 63 Abs 4 AFG bezogen haben oder mindestens vier Wochen in einer Maßnahme zur Arbeitsbeschaffung nach den §§ 91 bis 96 AFG oder in einer Maßnahme nach § 249h AFG beschäftigt waren (§ 24 Abs 4 Satz 4). Der Anordnungsgeber hat die Regeldauer des Übbg im Verlauf der Zeit mithin immer weiter verkürzt, die Ausnahmen für eine Gewährung bis zur längstmöglichen Dauer von 26 Wochen hingegen immer mehr ausdifferenziert. Damit hat er mittelbar bestätigt, daß auch in der Zeit zuvor im Rahmen einer Ermessensentscheidung nach § 55a AFG individuelle Besonderheiten – darunter insbesondere die Dauer der Arbeitslosigkeit – nicht unberücksichtigt bleiben sollten.
Im vorliegenden Fall, in dem § 38 der FdAAnO vom 28. Januar 1986 und Ziff 2.5 des Dienstblatt-Runderlasses 173/88 vom 29. Dezember 1988 zum Tragen kommen, hatte die Beklagte zur Prüfung der individuellen Besonderheiten der Klägerin besondere Veranlassung. Die Klägerin hatte schon vor der Ermessensentscheidung der Beklagten ihren erneuten Antrag vom 9. Januar 1989 damit begründet, daß sie sich noch in der Aufbauphase befinde und nicht kostendeckend arbeite. Überdies gehörte sie zu den Langzeitarbeitslosen. Ihr Alg-Bezug ab 1. Juli 1987 resultierte aus einer Maßnahme zur Arbeitsbeschaffung (1. Juli 1986 bis 30. Juni 1987). Darüber hinaus hatte sie, wie den Verwaltungsakten zu entnehmen ist, schon seit 1983 weitgehend im Leistungsbezug gestanden. Nicht zuletzt war der Beklagten bekannt, daß der Leistungsbezug der Klägerin in der Zeit vom 20. August bis 26. November 1987 durch den Bezug von Mug unterbrochen worden war. Die Beklagte hätte, um den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Ermessensentscheidung gerecht zu werden, auf diese Gesichtspunkte eingehen müssen. Das gilt insbesondere für den Zeitraum des Mug-Bezuges (20. August bis 26. November 1987). Denn die Klägerin hatte insoweit erhebliche verfassungsrechtliche Argumente vorgebracht (Art 3 Abs 1 und 2, Art 6 GG). Ob diese dazu führen müssen, daß die Zeiten des Mug-Bezuges den Zeiten des Alg/Alhi-Bezuges gleichzustellen sind, wogegen etwa § 107 Satz 1 Nr 5 Buchst b AFG sprechen könnte, oder ob es genügt, daß der Mug-Bezug, wie die Beklagte meint, als Brücke zwischen dem Alg-Bezug vom 1. Juli bis 19. August 1987 und dem Alg/Alhi-Bezug vom 27. November 1987 bis 30. September 1988 angesehen wird (vgl hierzu § 38 Abs 2 Satz 2 der FdAAnO vom 18. Dezember 1969 idF der 8. Änderungsanordnung vom 28. Januar 1986 ≪ANBA S 566≫), ist vom Senat nicht zu entscheiden. Von Bedeutung ist allein, daß es Sache der Beklagten gewesen wäre, sich mit diesem Umstand im Rahmen ihrer Ermessensausübung auseinanderzusetzen. Das ist nicht geschehen.
Zwangsläufige Folge der Nichtberücksichtigung der besonderen Umstände des Falles der Klägerin ist, daß auch die Begründung der Ermessensentscheidung nicht, wie erforderlich, die Gesichtspunkte erkennen läßt, von denen sich die Beklagte bei ordnungsgemäßer Ausübung ihres Ermessens hätte leiten lassen müssen (§ 35 Abs 1 Satz 3 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren –). Die Entscheidung der Beklagten leidet also an einem Abwägungsdefizit mit der Folge, daß sie, soweit Übbg für weitere acht Wochen (4. Februar bis 31. März 1989) verweigert worden ist, rechtswidrig und deshalb zu wiederholen ist.
Dies bedeutet nicht die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung von Übbg für weitere acht Wochen, wie sie vom SG ausgesprochen worden ist. Denn ein Gericht darf eine Ermessensentscheidung der Verwaltungsbehörde nicht durch eine andere Entscheidung ersetzen, die es für sachdienlicher hält (vgl hierzu etwa BVerwGE 4, 283, 284; BSGE 58, 263, 270 = SozR 2200 § 1237 Nr 20; Eyermann/Fröhler, Komm zur VwGO, 9. Aufl 1988, § 114 RdNr 6). Die Beklagte konnte vielmehr lediglich zum Erlaß eines neuen Bescheides verpflichtet werden. Im Rahmen ihrer erneuten Entscheidung wird sie die Rechtsauffassung des erkennenden Senats über die Art und Weise der Ermessensausübung zu beachten haben (§ 131 Abs 3 SGG). In diesem Sinne waren die Entscheidungen der Vorinstanzen zu korrigieren.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie trägt dem Umstand Rechnung, daß die Klägerin in der Revisionsinstanz nur deshalb voll durchgedrungen ist, weil sie den zunächst gestellten Hauptantrag in der mündlichen Verhandlung fallengelassen hat.
Fundstellen
Haufe-Index 913335 |
BSGE, 211 |