Leitsatz (amtlich)
Besorgt sich ein ausländischer Arbeitnehmer eine Aufenthaltserlaubnis, so ist dies grundsätzlich seinem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnen; er unterliegt daher in der Regel nicht nach RVO § 548 dem Versicherungsschutz.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 539 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 8. Februar 1972 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin ist spanische Staatsangehörige. Sie unterschrieb im Jahre 1969 in Spanien einen Vertrag mit einer Firma in E, in dem sich diese Firma verpflichtete, die Klägerin "nach Eintreffen, frühestens vom Tage des Eintreffens des Arbeitnehmers am Beschäftigungsort ab" als Textilarbeiterin zu beschäftigen. Am 29. Januar 1970 traf die Klägerin mit ihrem Ehemann, der ebenfalls bei der Firma eine Arbeit aufnahm, in E ein. Nach ihrer Ankunft verabredete die Klägerin mit einem Angestellten der Firma, daß sie ihre Arbeit erst nach Erledigung aller Anmeldeformalitäten beginnen sollte.
Am Vormittag des 2. Februar 1970, einem Montag, verließ die Klägerin ihre Wohnung, um sich bei der Ausländerbehörde in E als Ausländerin anzumelden. Auf dem Wege dorthin rutschte sie infolge Glatteis aus und erlitt eine Radiusfraktur der rechten Hand. Die Betriebskrankenkasse der Firma übernahm im Rahmen der Familienhilfe die Arzt- und Sachkosten der Klägerin.
Durch Bescheid vom 27. Oktober 1970 lehnte die Beklagte Entschädigungsansprüche ab, da die Klägerin auf einem Weg verunglückt sei, der privaten Interessen gedient habe.
Die Klägerin hat Klage erhoben, die das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 18. Juni 1971 mit der Begründung abgewiesen hat, die Klägerin habe mit dem Weg zur Ausländerbehörde eigenwirtschaftliche Zwecke verfolgt.
Die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 8. Februar 1972 zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Da der Weg, auf dem die Klägerin am 2. Februar 1970 verunglückt sei, weder vom Betrieb der Firma angetreten worden sei noch zum Betrieb dieser Firma führen sollte, könne die Vorschrift des § 550 der Reichsversicherungsordnung (RVO) die von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche nicht stützen. Versicherungsschutz der Klägerin habe auch nicht aufgrund des § 548 RVO bestanden. Der Gang zur Ausländerbehörde liege nicht wesentlich im Interesse des Arbeitgebers, selbst wenn dieser zu erkennen gegeben habe, daß er mit der Aufnahme einer Tätigkeit eines Arbeitnehmers in seinem Betrieb nur einverstanden sei, wenn dieser die nach den gesetzlichen Bestimmungen vorgeschriebene Anmeldung bei den zuständigen Behörden durchgeführt habe.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt.
Sie trägt vor: Die Ausländerbehörde habe auf ihrem Weg von der Wohnung zur Arbeitsstätte gelegen, zu der sie nach ihrer Anmeldung habe gehen wollen. Dessen ungeachtet sei sie im Zeitpunkt des Unfalles versichert gewesen, da dieser Weg im Interesse des Arbeitgebers gelegen habe. Das betriebliche Interesse des Arbeitgebers an dem Gang zu dieser Behörde ergebe sich einmal aus der Tatsache, daß ein Arbeitsverhältnis mit einem Gastarbeiter solange schwebend unwirksam sei, wie die behördlichen Genehmigungen nicht erteilt seien. Außerdem hätte der Arbeitgeber die Anmeldeformalitäten durch Beschäftigte seines Betriebes oder durch die Klägerin während der Arbeitszeit durchführen lassen müssen, wenn er der Klägerin nicht den Auftrag gegeben hätte, dies vor der Arbeitsaufnahme zu erledigen. Der Gang zur Ausländerbehörde sei nicht mit dem Weg gleichzustellen, der unternommen werde, um z. B. eine Wochenkarte oder eine Lohnsteuerkarte zu besorgen. Weder die Wochenkarte noch die Lohnsteuerkarte würden vom Arbeitgeber besorgt. Anders verhalte es sich mit dem Antrag auf Erteilung der Arbeits- oder Aufenthaltserlaubnis bei Gastarbeitern. Diese Anträge würden in der Regel vom Arbeitgeber gestellt.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 8. Februar 1972 und das Urteil des SG Duisburg vom 18. Juni 1971 zu ändern, den Bescheid der Beklagten vom 27. Oktober 1970 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, das Ereignis vom 2. Februar 1970 als entschädigungspflichtigen Arbeitsunfall anzuerkennen und nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu entschädigen,
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und führt aus: Der Weg zur Ausländerbehörde habe den eigenwirtschaftlichen Interessen der Klägerin gedient. Daß die Ausländerbehörde auf dem Weg zur Arbeitsstätte gelegen habe, widerspreche den tatsächlichen Feststellungen des LSG. Dieser neue Tatsachenvortrag sei unzulässig, da er erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist vorgebracht worden sei.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden; die Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sind erfüllt.
Die Revision ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen ist.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Klägerin den Unfall am 2. Februar 1970 nicht bei einer versicherten Tätigkeit im Sinne des § 548 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO erlitten hat.
Es kann dahinstehen, ob das Beschäftigungsverhältnis der Klägerin zu der Firma in Essen im Zeitpunkt des Unfalls entsprechend den zur Krankenversicherung entwickelten Grundsätzen bereits bestanden hat (vgl. RVA AN 28, 182; 41, 70; BSG 26, 124, 125; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-7. Aufl., S. 308 u II). Selbst wenn man zugunsten der Klägerin davon ausgeht, besteht kein ursächlicher Zusammenhang i. S. des § 548 Abs. 1 Satz 1 RVO zwischen der versicherten Tätigkeit der Klägerin und dem Weg zur Ausländerbehörde.
Die Meldung der Klägerin bei der Ausländerbehörde lag nicht wesentlich im Interesse des Arbeitgebers und diente daher nicht wesentlich dem Unternehmen, in dem die Klägerin beschäftigt war. Einer Aufenthaltserlaubnis bedarf grundsätzlich jeder Ausländer, der in die Bundesrepublik Deutschland einreist und sich darin aufhalten will (s. § 2 Abs. 1 Satz 1, § 5 des Ausländergesetzes vom 28. April 1965 - BGBl I 353). Unterläßt er es, eine Aufenthaltserlaubnis zu erreichen, hat er unabhängig davon, ob er in der Bundesrepublik Deutschland einer Beschäftigung nachgehen will, mit einer Bestrafung und anderen Zwangsmaßnahmen zu rechnen (s. §§ 47, 10 Ausländergesetz). Die Meldung bei der Ausländerbehörde ist deshalb grundsätzlich dem unversicherten Lebensbereich des ausländischen Arbeitnehmers zuzurechnen. Daran ändert nichts, daß sich die Notwendigkeit, bei der Ausländerbehörde zu melden, auch daraus ergibt, daß die Klägerin zur Aufnahme einer Beschäftigung in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist. Ebenso wie bei zahlreichen verschiedenartigen Verrichtungen des täglichen Lebens, die vielfach für die Erfüllung des Arbeitsverhältnisses unentbehrlich sind (vgl. BSG 7, 255, 256; 11, 154; Brackmann, aaO, S. 480 s I), genügen diese Umstände jedenfalls nicht, eine mit der Aufenthaltserlaubnis zusammenhängende Verrichtung des ausländischen Arbeitnehmers seiner versicherten Tätigkeit unmittelbar zuzurechnen.
Die Revision meint, der Arbeitsvertrag der Klägerin sei bis zur Erteilung der Arbeitserlaubnis schwebend unwirksam gewesen. Es kann dahinstehen, ob dies zutrifft (vgl. ua. Hennig/Kühl/Heuer, AFG, § 19 Anm. 2). Die Klägerin war zur Arbeitsaufnahme in E berechtigt (vgl. § 11 Nr. 2 der Neunten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 20. November 1959 - BGBl. I 689 - in Verbindung mit § 15 Abs. 1 der Arbeitserlaubnisverordnung vom 2. März 1971 - BGBl. I 152). Der Weg zur Ausländerbehörde diente jedoch der für jeden Ausländer, der sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten will, erforderlichen Aufenthaltserlaubnis. Weitere mit dem Beschäftigungsverhältnis der Klägerin nicht nur mittelbar, sondern unmittelbar zusammenhängenden Verrichtungen oblagen der Klägerin bei der Ausländerbehörde nicht. Eine andere rechtliche Beurteilung würde dazu führen, daß der Ausländer, der sich - zum Beispiel als Ehegatte eines in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigten Ausländers - zunächst bei der Ausländerbehörde meldet und die Aufenthaltserlaubnis beantragt und erst danach den bereits vorgesehenen Arbeitsvertrag schließt, trotz des gleichen - nur mittelbaren Zusammenhanges - zwischen der Beschäftigung und der Aufenthaltserlaubnis bei dieser Meldung nicht unter Versicherung steht, wohl aber der Ausländer, der den Arbeitsvertrag vorher - schwebend unwirksam - geschlossen hat.
Eine andere Entscheidung ist entgegen den Auffassung der Revision auch nicht gerechtfertigt, weil die Klägerin vor der Arbeitsaufnahme zur Ausländerbehörde gehen wollte und damit später eine Beurlaubung während der Arbeitszeit oder eine Durchführung der Meldung durch Angestellte des Arbeitgebers vermieden werden sollte. Es gibt zahlreiche dem privaten Bereich des Beschäftigten zuzurechnenden Verrichtungen, zu deren Durchführung er von der Arbeit zu beurlauben ist. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen diesen sogenannten eigenwirtschaftlichen Verrichtungen und der versicherten Tätigkeit entsteht auch nicht dadurch, daß der Arbeitnehmer diese Verrichtungen an einem arbeitsfreien Tag oder - wie hier - vor der Arbeitsaufnahme durchführt, um eine Beurlaubung zu vermeiden. Die Revision sieht auch zu Unrecht einen ursächlichen Zusammenhang im Sinne des § 548 RVO zwischen der versicherten Tätigkeit der Klägerin und dem Weg zur Ausländerbehörde für gegeben an, weil die Klägerin sich persönlich bei der Ausländerbehörde melden wollte, während ihr Arbeitgeber die Meldungen der ausländischen Arbeitskräfte bis dahin durch Angestellte des Unternehmens übernehmen ließ. Die Pflicht, die Aufenthaltserlaubnis zu erlangen, obliegt ausschließlich dem Ausländer. Eine - sonst - vom Arbeitgeber für die bei ihm beschäftigten Arbeitnehmer erledigte private Angelegenheit steht aber nicht deshalb im ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit des betreffenden Versicherten, weil dieser im Einzelfall sie selbst verrichtet. Der Beschäftigte wird in diesem Fall regelmäßig auch nicht wie ein Beschäftigter im Sinne des § 539 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1 Nr. 1 RVO tätig. Den tatsächlichen Feststellungen des LSG ist entgegen den Ausführungen der Revision nicht zu entnehmen, daß die Klägerin auf Weisung des Arbeitgebers am 2. Februar 1970 zur Ausländerbehörde gegangen ist. Das LSG hat vielmehr festgestellt, daß die Klägerin mit der Firma vereinbart hatte, ihre Arbeit erst nach der Meldung beim Ausländeramt aufzunehmen. Damit hat die Klägerin lediglich das Einverständnis ihres Arbeitgebers eingeholt, die Arbeit nicht unverzüglich nach der Ankunft in der Bundesrepublik Deutschland aufzunehmen, sondern sich zunächst bei der Ausländerbehörde zu melden.
Das LSG hat weiter entschieden, daß die Klägerin auf ihrem Weg zur Ausländerbehörde nicht gemäß § 550 Satz 1 RVO unter Versicherungsschutz gestanden hat. Das Berufungsgericht hat festgestellt, daß die Klägerin am 2. Februar 1970 ihre Wohnung verließ, um eine Dienststelle der Stadtverwaltung in Essen aufzusuchen. Dies allein schließt jedoch einen Versicherungsschutz der Klägerin aufgrund des § 550 Satz 1 RVO nicht aus, sofern die Klägerin an diesem Tag ihre Arbeit aufnehmen und den Weg zum Ort der Tätigkeit lediglich zur Meldung bei der Ausländerbehörde unterbrechen wollte sowie auf einem Wegeabschnitt verunglückt ist, den sie auch zurücklegen mußte, um zum Ort ihrer versicherten Tätigkeit zu gelangen. Nur während einer privaten Verrichtungen dienenden Unterbrechung des Weges besteht kein Versicherungsschutz; vor der Unterbrechung ist jedoch ebenso wie nach Beendigung auf dem weiteren Weg grundsätzlich Versicherungsschutz gegeben (vgl. Brackmann, aaO, S. 486 s II mit zahlreichen Nachweisen). Der erkennende Senat kann aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht entscheiden, ob die Voraussetzungen des § 550 Satz 1 RVO hier erfüllt sind. Das LSG hat insbesondere nicht festgestellt, ob und gegebenenfalls wann die Klägerin nach ihrer Meldung bei der Ausländerbehörde am 2. Februar 1970 ihre Arbeit im Betrieb wieder aufnehmen wollte. Den tatsächlichen Feststellungen des LSG ist auch nicht zu entnehmen, ob die Klägerin auf einer Wegstrecke verunglückt ist, die sie zu ihrem Ort der Tätigkeit zurücklegen mußte. Das LSG hat zwar in seinen Entscheidungsgründen ausgeführt, der Weg, auf dem die Klägerin verunglückt sei, habe sie weder vom Betrieb aus angetreten, noch habe er zur Firma führen sollen. Es liegen aber keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür vor, daß das Berufungsgericht insoweit die tatsächlichen Feststellung hat treffen wollen, die Klägerin habe nur das Ausländeramt aufsuchen und nachher nicht die Arbeit aufnehmen wollen. Vielmehr ist auch nach dem gesamten Vorbringen der Beteiligten in dem Verfahren vor dem SG und dem LSG davon auszugehen, daß das LSG nicht geprüft hat, ob die Klägerin den Weg, auf dem sie verunglückt ist, nur zurückgelegt hat, um sich bei der Ausländerbehörde zu melden, oder ob sie diese Meldung in den Weg nach dem Ort der versicherten Tätigkeit einschieben wollte. Gegen entsprechende tatsächliche Feststellungen des LSG spricht vor allem, daß das Berufungsgericht auch erwähnt hat, daß die Klägerin den Weg nicht von dem Ort der Tätigkeit angetreten habe. Hieran bestand kein Zweifel. Es liegt deshalb näher, daß das LSG in den Entscheidungsgründen nur die Tatbestandsmerkmale des § 550 Satz 1 RVO auf den vorliegenden Sachverhalt bezogen wiedergeben wollte. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Klägerin ihr Vorbringen in der ersten Instanz stets auf den Weg zur Ausländerbehörde abgestellt und nicht vorgetragen hat, sie habe sich auf dem Weg zum Ort der Tätigkeit befunden. In dem Durchgangsarztbericht vom 2. Februar 1970 ist allerdings ausgeführt, daß die Klägerin auf dem Weg zur Arbeit verunglückt sei. Die Revision weist ebenfalls darauf hin, die Klägerin habe sich auf dem Weg zum Ort der versicherten Tätigkeit befunden. Damit greift sie nicht, wie die Beklagte meint, abweichende tatsächliche Feststellungen des LSG an. Bei einer zugelassenen Revision hat das Revisionsgericht auch ohne Verfahrensrüge das Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, wenn die für die Anwendung einer Rechtsnorm - hier § 550 Satz 1 RVO - erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nicht getroffen sind. Dabei ist es rechtlich unerheblich, daß die Klägerin auf die von ihr nunmehr für rechtserheblich hervorgehobenen Tatsachen im Berufungsverfahren nicht hingewiesen hat.
Die Entscheidung über die Kosten auch des Revisionsverfahrens bleibt dem das Verfahrens abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 1670158 |
BSGE, 222 |