Entscheidungsstichwort (Thema)
verspätete Urteilsabsetzung. Fehlen von Gründen. Rüge. absoluter Revisionsgrund. Absehen von Rückverweisung. Brillengestell. Zuschuß. Kostenerstattung. Schielbrille. Spezialbrille. Konfektionsbrille. Leistungsbegrenzung. Krankenversicherung. Verfassungsmäßigkeit
Leitsatz (amtlich)
- Trotz Vorliegens des absoluten Revisionsgrundes der verspäteten Urteilsabsetzung hat das BSG durchzuentscheiden, wenn die Klage nach dem Revisionsvorbringen unter keinem denkbaren Gesichtspunkt begründet ist.
- Die Leistungspflicht der Krankenkassen ist für Brillengestelle jeder Art auf 20,00 DM begrenzt.
Normenkette
SGG § 170 Abs. 1-2; ZPO § 551 Nr. 7; SGB V § 33 Abs. 4, § 36
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 05.03.1991; Aktenzeichen L 1 Kr 51/90) |
SG Lübeck (Urteil vom 10.09.1990; Aktenzeichen S 7 Kr 84/89) |
Tenor
Die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 5. März 1991 und des Sozialgerichts Lübeck vom 10. September 1990 werden aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten in allen Rechtszügen sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger ist freiwillig versichertes Mitglied der beklagten Ersatzkasse. Sein 1985 geborener Sohn S.… erhielt von dem behandelnden Augenarzt im März 1989 zur Schielbehandlung eine Brille verordnet, die mit einem Silikonsteg und Spezialbügel mit Silikonüberzug ausgestattet sein sollte. Die Beklagte übernahm die Kosten für die Brillengläser in voller Höhe, zu den Kosten für das Spezialbrillengestell von 140,00 DM zahlte sie nur einen Zuschuß von 20,00 DM. Den Antrag des Klägers, auch die Kosten für das Brillengestell in voller Höhe zu übernehmen, lehnte sie ab (Bescheid vom 16. Mai 1989; Widerspruchsbescheid vom 8. September 1989). Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte zur vollen Kostenerstattung verurteilt (Urteil vom 10. September 1990). Das Landessozialgericht (LSG) hat dagegen die Klage abgewiesen (Urteil vom 5. März 1991, Zustellung am 3. März 1992). Nach seiner Auffassung ergibt sich aus der Regelung des § 33 Abs 4 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch – (SGB V), daß der Gesetzgeber ohne Rücksicht auf medizinische Erfordernisse den Zuschuß zu Brillengestellen generell auf 20,00 DM begrenzt habe. Diese Begrenzung sei nicht verfassungswidrig.
Mit der vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revision rügt der Kläger als Verfahrensfehler, daß das LSG das schriftliche Urteil erst am 2. März 1992 ausgefertigt und am 3. März 1992 zugestellt habe, so daß wegen des langen Zeitraums von fast einem Jahr zwischen Verkündung und Zustellung des Urteils dieses nicht als mit Gründen versehen zu betrachten sei. Damit liege der absolute Revisionsgrund des § 551 Nr 7 Zivilprozeßordnung (ZPO) iVm § 202 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vor. Weiterhin rügt der Kläger eine Verletzung des § 33 Abs 4 Satz 1 SGB V iVm § 33 Abs 1 SGB V und des Sozialstaatsprinzips (Art 20 Abs 1 Grundgesetz ≪GG≫). Eine Beschränkung der Erstattungsfähigkeit der Kosten für Brillengestelle auf 20,00 DM sei nur zulässig, wenn für diesen Betrag ein zum Ausgleich der Sehbehinderung ausreichendes Brillengestell zu erhalten sei. Bei Sonderanfertigungen wie in seinem Falle sei dies nicht möglich. Die Belastung mit Kosten von 120,00 DM verstoße gegen das Sozialstaatsprinzip. Es handele sich dabei nicht um geringfügige Kosten; außerdem sei bei Kindern in der Wachstumsphase mit häufigeren Ersatzbeschaffungen zu rechnen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist begründet in dem Sinne, daß sie zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führt. In der Sache bleibt die Klage aber erfolglos. Das erstinstanzliche Urteil ist deshalb ebenfalls aufzuheben und die Klage abzuweisen.
1. Der Senat kann eine Sachentscheidung treffen, obwohl der Kläger zutreffend als absoluten Revisionsgrund iS von § 551 Nr 7 ZPO iVm § 202 SGG geltend gemacht hat, daß das angefochtene Urteil nicht mit Gründen versehen sei. Nach dem Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmSOGB) vom 27. April 1993 (SozR 3-1750 § 551 Nr 4) gilt ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefaßtes Urteil als nicht mit Gründen versehen, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind. Dieser Revisionsgrund ist nur auf entsprechende Rüge zu beachten (GmSOGB, aaO). Das BSG hat sich dieser Rechtsprechung angeschlossen (BSG SozR 3-1750 § 551 Nr 5; ferner BSG SozR 3-1750 Nr 7 für entsprechende Anwendung auf Entscheidungen ohne mündliche Verhandlung). Es hat die Fünf-Monats-Frist auch für die Fälle anwendbar erklärt, in denen die angefochtene Entscheidung wie hier vor der Entscheidung des GmSOGB ergangen ist, zu einem Zeitpunkt, als teilweise noch eine Frist von bis zu einem Jahr zwischen Urteilsverkündung und Urteilsabsetzung hingenommen wurde. Die frühere Rechtsprechung hat keinen Vertrauensschutz begründen können, der es verbieten würde, die geänderte Rechtsprechung auch auf vorangegangene, aber noch nicht rechtskräftige Urteile iS einer sog unechten Rückwirkung anzuwenden. Der Senat schließt sich der neueren Rechtsprechung des BSG insoweit an.
Die Fünf-Monats-Frist war hier verstrichen, was das Revisionsgericht auf die ausreichend substantiierte Verfahrensrüge selbst feststellen darf. Aus dem Revisionsvorbringen läßt sich zwar nicht genau entnehmen, wann das vollständig abgesetzte und unterschriebene Urteil an die Geschäftsstelle gelangt ist. Wenn jedoch die Zustellung des Urteils erst etwa ein Jahr nach seiner Verkündung erfolgt, darf daraus regelmäßig gefolgert werden, daß auch die Übergabe an die Geschäftsstelle nicht innerhalb von fünf Monaten geschehen ist. In solch eindeutigen Fällen kann auf weitere Darlegungen zur Begründung der Verfahrensrüge verzichtet werden. Anders mag es sein, wenn die Urteilszustellung die Fünf-Monats-Frist nur knapp überschreitet oder das Urteil ins Ausland zugestellt worden ist. Der Senat kann ohne weitere Ermittlungen über das genaue Datum der Urteilsniederlegung auf der Geschäftsstelle aufgrund des Akteninhalts feststellen, daß die Frist, wie vom Kläger behauptet, nicht eingehalten worden ist. Aus den beigezogenen vorinstanzlichen Akten ergibt sich nämlich, daß dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers etwa zehn Monate nach Verkündung des Urteils mitgeteilt worden ist, das Urteil sei noch nicht abgesetzt.
Der vorliegende Revisionsgrund hindert den Senat nicht, zuungunsten des Klägers in der Sache zu entscheiden, obwohl er die Verfahrensrüge ausdrücklich aufrechterhalten hat. Nach § 170 SGG hat das BSG regelmäßig in der Sache zu entscheiden, obgleich § 170 Abs 2 Satz 1 SGG dies ausdrücklich nur für den Fall anordnet, daß die Revision begründet ist. Das gilt auch bei sog absoluten Revisionsgründen (so schon BSGE 4, 281, 288).
Das sozialgerichtliche Revisionsrecht geht von dem Grundsatz aus, daß auf zulässige verfahrensrechtliche und materiell-rechtliche Revisionsrügen eine umfassende Sachprüfung stattfindet und das BSG abschließend entscheidet, wenn die Sache spruchreif ist. Nach § 170 Abs 1 Satz 2 SGG, der dem § 563 ZPO fast wörtlich entspricht, ist die Revision auch dann zurückzuweisen, wenn die angefochtene Entscheidung zwar Rechtsfehler aufweist, im Ergebnis aber zutreffend ist. § 170 Abs 2 Satz 1 SGG regelt den Fall, daß die angefochtene Entscheidung nicht nur in ihrer Begründung oder ihrem Verfahrensgang, sondern auch im Ergebnis unzutreffend ist; dann hat das BSG die unrichtige Entscheidung aufzuheben und durch die richtige Entscheidung zu ersetzen. Nur wenn für eine Sachentscheidung keine hinreichende Grundlage gegeben ist und das Revisionsgericht die fehlenden Feststellungen nicht selbst treffen kann, hat es die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Insoweit weicht die Regelung vom Zivilprozeß ab, der jedenfalls der Konzeption nach die Rückverweisung als Regel, das Durchentscheiden des Revisionsgerichts als Ausnahme ansieht (vgl §§ 564 Abs 1, 565 Abs 1 und 3 ZPO).
Im vorliegenden Fall erweist sich allerdings, daß die Entscheidung der Vorinstanz im Ergebnis zutreffend ist. Gleichwohl darf die Revision nicht nach § 170 Abs 1 Satz 2 SGG zurückgewiesen werden, weil das angefochtene Urteil einen so schweren Fehler aufweist, daß es nicht aufrechterhalten bleiben kann. Eine später als fünf Monate nach Verkündung begründete Entscheidung steht einer Entscheidung ohne Gründe gleich. Nach § 551 Nr 7 ZPO ist eine Entscheidung stets als auf einer Verletzung des Gesetzes anzusehen, wenn sie nicht mit Gründen versehen ist. Der Gesetzgeber hat diesen Verfahrensfehler als so schwerwiegend angesehen, daß darauf die Vermutung der Unrichtigkeit der Entscheidung gestützt werden kann. Der diesen Fehler rügende Revisionskläger braucht deshalb grundsätzlich nicht darzulegen, daß der Fehler für den Inhalt der Entscheidung auch ursächlich war (sog absoluter Revisionsgrund). Bei Fehlen jeglichen Tatbestands oder widerspruchsvollen, unverständlichen Urteilsgründen kann sogar ein von Amts wegen zu beachtender Mangel vorliegen, der zur Urteilsaufhebung führt (BGHZ 5, 240, 245; BAG NJW 1971, 214).
Die gebotene Aufhebung des angefochtenen Urteils führt aber nicht zwangsläufig auch zur Rückverweisung an die Berufungsinstanz. Dem rechtsstaatlichen Anspruch auf Einhaltung eines einwandfreien Verfahrens wird mit der förmlichen Aufhebung der angefochtenen Entscheidung Rechnung getragen. Dieser Anspruch gebietet es nicht, das Verfahren zur fehlerfreien Nachholung in die Vorinstanz zurückzuverweisen (anders Rohwer/Kahlmann, Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, § 170 RdNr 4).
Überwiegend wird allerdings die Auffassung vertreten, daß bei absoluten Revisionsgründen eine Bestätigung des angefochtenen Urteils grundsätzlich nicht möglich ist (Meyer-Ladewig, SGG, § 170 RdNr 5; Rohwer/Kahlmann, aaO, § 170 RdNr 4; Albers in Baumbach/Lauterbach, ZPO, 52. Aufl, § 551 RdNr 2; Wieczorek, ZPO, § 563 Anm B IIa; Walchshöfer in MünchKomm zur ZPO, § 551 RdNr 23; differenzierend Zeihe, SGG, § 170 RdNr 6b). Auch der Senat pflichtet dem im Grundsatz bei.
Die Rechtsprechung hat aber seit jeher Ausnahmen von diesem Grundsatz gekannt, wenn trotz des Verfahrensverstoßes ein Erfolg in der Sache ausgeschlossen schien. Als Fehlen von Urteilsgründen ist auch das Übergehen von selbständigen Angriffs- und Verteidigungsmitteln anerkannt. Soweit dies geschehen ist, hat aber schon das Reichsgericht (RGZ 156, 119; 160, 343) den Zwang zur Aufhebung und Rückverweisung relativiert: Es hat die Notwendigkeit verneint, wenn sich das Urteil aus anderen Gründen als richtig erweist (ebenso Bettermann, ZZP 88, 365, 378; Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 14. Aufl, S 934; Albers in Baumbach/Lauterbach, aaO, § 551 RdNr 16). Auch für den Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit gilt, daß ein Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs, der dort als absoluter Revisionsgrund ausgestaltet ist (§ 138 Nr 3 Verwaltungsgerichtsordnung ≪VwGO≫), dann nicht zur Rückverweisung des Rechtsstreits führt, wenn er die Feststellung einer Tatsache betrifft, die aus Rechtsgründen für die Entscheidung nicht erheblich ist (BVerwGE 15, 24; 24, 264; 62, 6; Kopp, VwGO, 9. Aufl, § 138 RdNr 20).
Durch die höchstrichterliche Rechtsprechung ist ebenfalls bereits geklärt, daß ein abschließendes Sachurteil auch dann erlassen werden kann, wenn die Vorinstanz zu Unrecht die Klage als unzulässig abgewiesen oder die Berufung verworfen hat, auch wenn zur Sache selbst keine Feststellungen getroffen wurden. Die Klage ist als unbegründet abzuweisen, wenn sie unschlüssig ist und es ausgeschlossen erscheint, daß noch entscheidungserheblicher Prozeßstoff vorgetragen werden kann (für den Zivilprozeß vgl BGHZ 12, 308; BGH NJW 1978, 2031; BGH NJW 1992, 438; zustimmend Thomas/Putzo, ZPO, 16. Aufl, § 565 Anm 3; Albers in Baumbach/Lauterbach, aaO, § 565 RdNr 11; für den Verwaltungsprozeß: BVerwG Buchholz 310, § 144 Nr 17; für den Sozialgerichtsprozeß: BSG SozR Nr 30 zu § 51 SGG und Nr 14 zu § 170 SGG; zustimmend Meyer-Ladewig, aaO, § 170 RdNr 5; Peters/Sautter/Wolff, SGG, § 170 RdNr 20; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, IX, RdNr 377). Die in den einzelnen Verfahrensordnungen unterschiedlichen Grundsätze (Beibringungsgrundsatz bzw Amtsermittlungsgrundsatz) sind insoweit ohne Bedeutung. Nach allen Verfahrensordnungen ist eine unschlüssige Klage, wenn sie nach Lage der Dinge auch nicht schlüssig gemacht werden kann, ohne weitere Ermittlungen abzuweisen. Das gilt auch für die Revisionsinstanz. Der Kläger kann dieses Ergebnis nicht dadurch vermeiden, daß er sich auf eine bloße Verfahrensrüge beschränkt. Er muß auch in der Revisionsinstanz einen Sachantrag stellen.
Der Grundsatz, daß das Revisionsgericht eine Klage auch beim Fehlen tatsächlicher Feststellungen abweist, wenn sie unschlüssig ist und auch im Falle einer Rückverweisung nicht schlüssig gemacht werden kann, greift auch bei dem absoluten Revisionsgrund fehlender Urteilsgründe ein. Allerdings kann bei fehlenden Urteilsgründen die Schlüssigkeitsprüfung nicht auf das vom LSG festgestellte Klagevorbringen bezogen werden. Der Aufhebungsgrund, daß bei der Urteilsabsetzung so lange Zeit nach der Urteilsberatung ein ausreichendes Erinnerungsvermögen an das Ergebnis der Beratung nicht mehr gewährleistet ist, gilt auch für die Beurkundung des Beteiligtenvorbringens. Deshalb ist für die Schlüssigkeitsprüfung das Klagevorbringen auch dann dem Revisionsvorbringen zu entnehmen, wenn das LSG das Vorbringen abweichend festgestellt hat. Die rechtliche Prüfung ist auch dann auf das Revisionsvorbringen beschränkt, wenn das LSG vom Vorbringen abweichende Feststellungen getroffen hat. Bei einer zu Unrecht erfolgten Prozeßentscheidung ist allerdings nunmehr anerkannt, daß das Revisionsgericht auch an diejenigen vom Berufungsgericht festgestellten Tatsachen gebunden (§ 163 SGG) ist, auf denen das Berufungsurteil nicht beruht (BSGE 73, 195 = SozR 3-4100 § 249e Nr 3 unter Aufgabe von BSGE 9, 80 = SozR Nr 17 zu § 55 SGG). Das ist jedoch auf die Fälle verspäteter Urteilsabsetzung nicht zu übertragen, da die Rüge fehlender Urteilsgründe alle Feststellungen des LSG unverwertbar macht. Auch bei der damit gebotenen Beschränkung auf das Revisionsvorbringen liegt hier ein solcher Ausnahmefall vor, daß die Klage unschlüssig ist und auch im Falle der Rückverweisung nicht schlüssig gemacht werden kann. Die Beteiligten haben in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich und übereinstimmend erklärt, daß der vom LSG festgestellte Sachverhalt unstreitig ist.
Der Senat weicht mit dieser Entscheidung nicht von den Urteilen BSG SozR 3-1750 § 551 Nr 5 und Nr 7 ab. In diesen Entscheidungen ist der Rechtsstreit zwar zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen worden. Die Frage, ob die Zurückverweisung trotz Entscheidungsreife in der Sache geboten war, ist jedoch nicht aufgeworfen bzw offengelassen worden.
2. Nach dem Revisionsvorbringen steht dem Kläger gegenüber der Beklagten ein Erstattungsanspruch nicht zu. Die Beklagte war gemäß § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V nicht verpflichtet, dem Kläger die Brille mit der wegen der Schielbehandlung erforderlichen Sonderausstattung (Silikonsteg und Silikonüberzug) als Sachleistung zu gewähren. Der Kläger hatte lediglich einen Anspruch auf Gewährung eines Zuschusses iH von 20,00 DM gemäß § 33 Abs 4 Satz 1 SGB V, der von der Beklagten erfüllt worden ist. Da ein Sachleistungsanspruch nicht bestand, braucht auf die weiteren Voraussetzungen für einen Kostenerstattungsanspruch gemäß § 13 Abs 3 SGB V und die Frage, wer ihn geltend machen kann – das Mitglied oder der Familienversicherte –, nicht eingegangen zu werden.
§ 33 Abs 4 Satz 1 SGB V begrenzt nach seinem Wortlaut die Leistungspflicht der Krankenkasse (KK) bei allen Brillengestellen auf einen Zuschuß von höchstens 20,00 DM, soweit nicht geringere Festbeträge nach § 36 SGB V gelten, was nicht der Fall ist. Das Gesetz sieht eine Ausnahme für Fälle, in denen das Brillengestell wegen der besonderen Art der Sehbehinderung mit einer Sonderausstattung versehen sein muß, die im Normalfall nicht erforderlich ist, nicht vor. Dies gilt jedenfalls für solche Brillengestelle, die – wie etwa auch für Kinder- und Sportbrillen – serienmäßig angefertigt werden, selbst wenn sie der individuellen Behinderung noch handwerklich angepaßt werden müssen.
§ 33 Abs 4 Satz 1 SGB V erfaßt alle Brillengestelle ohne Rücksicht auf den konkreten Verwendungszweck. Die Vorschrift greift auch dann ein, wenn ein Sehbehinderter ein spezielles Brillengestell, wie zB eine Sportbrille, aus von seinem Willen unabhängigen Gründen benötigt, etwa im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht für den Turnunterricht oder wegen der besonderen Art der Behinderung (vgl dazu auch Urteil des Senats vom 14. September 1994 – 3/1 RK 53/93 –). Vom Anwendungsbereich der Vorschrift nicht erfaßt werden allenfalls solche Konstruktionen von Sehhilfen, auf die die Bezeichnung Brillengestell schon nach dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht zutrifft. Hierzu können etwa Geräte iS einer Gesichtsplastik oder Gesichtsprothese zählen, mit denen zugleich andere Defekte im Bereiche des Kopfes versorgt werden. Zu dieser Kategorie gehört die dem Kläger verordnete Schielbrille nicht.
Für eine einengende Auslegung des Begriffs “Brillengestell” in dem Sinne, daß es sich nur um solche handelt, die auf dem Markt zu Preisen bis zu 20,00 DM angeboten werden, gibt der erkennbare Wille des Gesetzgebers keinen Anhaltspunkt. Der Regierungsentwurf zum Gesundheits-Reformgesetz (GRG) enthielt für Brillengestelle noch keine Festbetrags- oder Zuschußregelung (BT-Drucks 11/2237 S 174 f). Es sollten auch für Sehhilfen die allgemeinen Regelungen über Festbeträge bei Hilfsmitteln eingreifen. Dies entsprach im wesentlichen der bis dahin bestehenden Rechtslage. Nach § 182 Abs 1 Nr 1b Reichsversicherungsordnung (RVO) war die Leistungspflicht der KK nur durch die Schranke des Notwendigen begrenzt (vgl BSG SozR 2200 § 182 Nr 93). Aufgrund von Verträgen der Spitzenverbände der KKn mit dem Zentralverband der Augenoptiker wurden den Versicherten bestimmte Brillengestelle – gegen Entrichtung einer Verordnungsblattgebühr – kostenfrei zur Verfügung gestellt. Wählte der Versicherte eine aufwendigere Ausführung, so hatte er die Kostendifferenz zwischen dem notwendigen und dem aufwendigerem Brillengestell selbst zu tragen (zur Zulässigkeit dieses Verfahrens vgl BSG SozR 2200 § 182 Nr 93).
Die Einführung der Zuschußregelung wurde im Gesetzgebungsverfahren durch den Ausschuß für Arbeit und Sozialpolitik veranlaßt (BT-Drucks 11/3120, dort § 33 Abs 5). Eine nähere Begründung wurde nicht abgegeben (BT-Drucks 11/3480 S 52). Ein von Mitgliedern des Bundesrates gestellter Antrag, von einer solchen Regelung abzusehen, wurde nicht aufgegriffen (BR-Drucks 595/6/88). Das Gesetzgebungsverfahren läßt danach nicht erkennen, daß die Zuschußregelung nur für Brillengestelle gelten sollte, die auf dem Markt konfektionsmäßig zu bekommen sind.
Das mit dem GRG allgemein verfolgte Anliegen der Kostendämpfung spricht gegen eine den Wortlaut des Gesetzes einschränkende Auslegung. Mangels besonderer Begründung ist davon auszugehen, daß der Gesetzgeber mit der Einführung des Zuschusses dieselben Ziele verfolgte wie mit der allgemeinen Einführung von Festbeträgen für Hilfsmittel. Die Höhe des Zuschusses von 20,00 DM hängt von der Bedingung ab, daß kein geringerer Festbetrag gemäß § 36 SGB V festgesetzt ist (§ 33 Abs 4 Satz 1 2. Halbsatz SGB V). Dies macht deutlich, daß der Zuschuß zu den Kosten des Brillengestells als gesetzlich festgelegter Höchstfestbetrag anzusehen ist, der durch Festsetzungen der Landesverbände der KKn und der Verbände der Ersatzkassen gemäß § 36 Abs 2 SGB V nur unterschritten werden darf. Mit der Einführung von Festbeträgen für Hilfsmittel wollte der Gesetzgeber einen Anreiz für Versicherte schaffen, die preisgünstigsten Mittel in Anspruch zu nehmen. Zugleich sollte der Wettbewerb unter den Anbietern von Hilfsmitteln verstärkt werden (BT-Drucks 11/2237 S 175 zu § 35). Bei Brillengestellen ist das Ziel der Kostensenkung erreicht worden. Der Versicherte ist sogar in der Lage, allein aus dem Zuschuß die Kosten eines normalen Brillengestells zu bezahlen. Entsprechend hat sich auch der Preis verringert, wenn ein Konfektionsgestell noch zusätzlich individuell angepaßt werden muß. Sofern solche Fälle von der Zuschußregelung gänzlich ausgenommen würden, bestünde nach den gewonnenen Erfahrungen die Gefahr, daß diese Brillenversorgung wieder teurer würde. Dies würde dem gesetzgeberischen Anliegen zuwiderlaufen, selbst wenn hier der Anreiz, im wesentlichen nach modischen Gesichtspunkten ein Brillengestell auszuwählen, weniger ins Gewicht fällt.
Sofern im Einzelfall an Konfektionsgestellen handwerkliche Änderungen vorgenommen werden müssen, dürfte der Zuschuß von 20,00 DM allerdings regelmäßig nicht ausreichen, um die Kosten zu decken. Dies führt aber nicht dazu, aus diesem Grunde Ausnahmen von der Zuschußregelung zu machen. Der Gesetzgeber hat bei Verabschiedung des GRG in Kauf genommen, daß in vielen Bereichen der Krankenversicherung nicht mehr alle notwendigen Leistungen voll vom Versicherungsträger übernommen werden, sondern der Versicherte die Kosten teilweise oder auch ganz selbst zu tragen hat. Er hat dort, wo er dies für erforderlich hielt, Härteklauseln eingeführt. In § 61 SGB V hat er Versicherte von der Zuzahlung zu Arznei-, Verband- und Heilmitteln sowie zu stationären Vorsorge- und Rehabilitationsleistungen, von der Zuzahlung vom Zahnersatz und von den notwendigen Fahrkosten befreit, wenn die Versicherten eine bestimmte Einkommenshöhe nicht überschreiten, Fürsorge- oder bestimmte Förderungsleistungen beziehen oder auf Kosten eines Sozialhilfeträgers oder Kriegsopferfürsorgeträgers in einem Heim untergebracht sind. In § 62 SGB V hat er allgemein Versicherte von Zuzahlungen von Arznei-, Verband- und Heilmitteln sowie Fahrkosten befreit, soweit innerhalb eines Kalenderjahres bestimmte Belastungsgrenzen überschritten werden (zur Verfassungsmäßigkeit dieser Regelungen vgl BSG SozR 3-2500 § 61 Nr 3). Hilfsmittel hat er von der allgemeinen Härteklausel ausgenommen; das Fehlen ist aber keine unbeabsichtigte Regelungslücke. Für Hilfsmittel, insbesondere Brillen, hat der Gesetzgeber vielmehr eine eigenständige, abschließende Regelung vorgesehen. Mit der Festlegung einer starren Höchstgrenze bei Brillen im Gegensatz zur allgemeinen Festbetragsregelung für Hilfsmittel (§ 36 Abs 3 iVm § 35 Abs 5 Satz 1 SGB V) hat der Gesetzgeber in Kauf genommen, daß der maximale Festbetrag für die Gewährleistung eines ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen sowie in der Qualität gesicherten Versorgung der Versicherten (§ 35 Abs 5 Satz 1 SGB V) mit Brillengestellen nicht ausreicht. Die Belastung mit einem Eigenanteil ohne Rücksicht auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse und ohne Rücksicht darauf, ob Erwachsene oder Kinder zu versorgen sind, ist für das neuere Recht der Krankenversicherung geradezu typisch, wenn auch in Teilbereichen für Jugendliche unter 18 Jahren Ausnahmeregelungen getroffen worden sind (vgl die Regelung über die Befreiung von eigenen Kostenanteilen in § 31 Abs 3 SGB V für Arznei- und Verbandmittel, § 32 Abs 2 SGB V für Heilmittel, § 34 Abs 1 SGB V für sog Bagatellarzneimittel, § 34 Abs 4 Satz 3 SGB V für Hörgerätebatterien). Die Regelung für Brillengestelle gilt demgegenüber ausnahmslos.
Diese Regelung ist auch nicht verfassungswidrig. Ein verfassungsrechtlich gesicherter Anspruch gegen die KK auf alle als notwendig angesehenen Leistungen besteht nicht (vgl BVerfG SozR 2200 § 179 Nr 6). Durch die Beschränkung der Kostenerstattung auf höchstens 20,00 DM für Brillengestelle wird auch nicht die Eigentumsgarantie des Art 14 GG verletzt. Es kann offenbleiben, inwieweit der Krankenversicherungsschutz überhaupt unter die Eigentumsgarantie fällt. Die Leistungseinschränkung in diesem nicht überlebenswichtigen Bereich berührt den Krankenversicherungsschutz nicht im Kern, sondern lediglich in seiner konkreten Ausgestaltung in einem Randbereich. Es handelt sich deshalb jedenfalls um eine nach Art 14 Abs 1 Satz 2 GG zulässige Bestimmung von Inhalt und Grenzen des Eigentums (vgl dazu Urteil des Senats vom 8. Juni 1994 – 3/1 RK 59/93 – zum Ausschluß von Hörgerätebatterien, zur Veröffentlichung bestimmt).
Eine finanzielle Belastung von 120,00 DM wie im Falle des Klägers mag als nicht geringfügig (vgl dazu BSG SozR 3-2500 § 34 Nr 2) gewertet werden, zumal wenn im Hinblick auf das jugendliche Alter seines Sohnes mit einer wachstumsbedingten Neubeschaffung der Brille gerechnet werden muß. Aus Art 14 GG kann aber auch im Zusammenhang mit dem Rechtsstaatsprinzip und dem Sozialstaatsprinzip nicht hergeleitet werden, daß der Gesetzgeber jede hart oder unbillig erscheinende Einzelauswirkung berücksichtigen müßte (vgl BVerfGE 26, 44, 61 f; 34, 118, 136 = SozR Nr 95 zu Art 3 GG; BVerfGE 36, 73, 84 = SozR Nr 96 zu Art 3 GG). Das Sozialstaatsprinzip ist jedenfalls dann gewahrt, wenn die im Einzelfall zur Führung eines menschenwürdigen Lebens erforderliche Leistung zur Verfügung gestellt wird, notfalls im Wege der Sozialhilfe.
Der allgemeine Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG ist auch unter Berücksichtigung der für Jugendliche teilweise geltenden Ausnahmen durch die getroffene Regelung nicht verletzt. Der Gleichheitssatz kann zwar gebieten, eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu einer anderen anders zu behandeln, weil zwischen beiden Gruppen Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie eine differenzierte Behandlung gebieten. Dann muß die Gruppe aber so groß und typisch sein, daß der Gesetzgeber sie auch im Rahmen einer typisierenden Regelung von Massenerscheinungen selbst unter Berücksichtigung seines weiten Gestaltungsspielraums von der allgemeinen Regelung ausnehmen muß. Es bestehen aber keine Anhaltspunkte dafür, daß die Gruppe von sehbehinderten Kindern, die mit Konfektionsbrillengestellen nicht auskommen, so groß ist und die durch Sonderanfertigungen entstehenden Kosten so hoch sind, daß der Gesetzgeber sie auch im Rahmen einer pauschalierenden Regelung nicht übergehen durfte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 911847 |
BSGE, 74 |
NVwZ-RR 1996, 61 |
NVwZ 1996, 517 |