Entscheidungsstichwort (Thema)
(Opferentschädigung. Gewalttat. tätlicher Angriff. sexueller Mißbrauch. Kind. Gewaltlosigkeit. Kausalität. seelische Krankheit. sekundäre Viktimisierung
Leitsatz (amtlich)
1. Gewalttat iS des OEG kann auch der "gewaltlose" sexuelle Mißbrauch eines Kindes sein.
2. Die vom BMA herausgegebenen Anhaltspunkte sagen, ob und welche Gesundheitsstörungen nach der herrschenden Meinung in der medizinischen Wissenschaft als mögliche Folge schwerer Sexualstraftaten in Betracht kommen.
3. Nur wenn im Einzelfall nach einer derartigen Sexualstraftat Symptome einer solchen Gesundheitsstörung aufgetreten sind, ist ein rechtliches Interesse an der Prüfung anzuerkennen, ob sich die Möglichkeit zur Wahrscheinlichkeit verdichtet hat.
Normenkette
OEG § 1 Abs. 1 S. 1; StGB § 176 Abs. 1
Verfahrensgang
SG Trier (Entscheidung vom 09.06.1993; Aktenzeichen S 3 Vg 7/91) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die als Kind sexuell mißbrauchte Klägerin Anspruch auf Versorgung nach § 1 Abs 1 des Gesetzes über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) hat.
Die damals fünfjährige Klägerin hielt sich an einem Tag im September 1985 in der Wohnung eines älteren Mannes (S.) auf. S. badete zusammen mit der Klägerin und legte sich mit ihr auf ein Bett. Dabei manipulierte er an ihrem Geschlechtsteil. S. wurde wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes nach § 176 Abs 1 Strafgesetzbuch (StGB) zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten verurteilt.
Im September 1990 beantragte die Mutter, der Klägerin Versorgung nach dem OEG zu gewähren. Durch die Straftat habe das Kind einen seelischen Schaden erlitten; auch bestehe die Gefahr von Spätschäden. Der Beklagte verneinte einen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 OEG und lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 8. November 1990, Widerspruchsbescheid vom 11. Oktober 1991). Dem ist das Sozialgericht (SG) gefolgt. Es hat sowohl den auf Anerkennung des sexuellen Mißbrauchs als Gewalttat gerichteten Antrag abgewiesen, als auch den Antrag auf Versorgung nach dem OEG (Urteil vom 9. Juni 1993). Der Täter habe zwar auf den Körper der Klägerin eingewirkt. Er habe auch feindselig gehandelt, weil er ohne Rücksicht auf die kindliche Psyche seine sexuellen Wünsche durchgesetzt habe. Es fehle aber die für das OEG erforderliche Prägung durch Gewalt. Die Klägerin habe widerstandslos mitgemacht, weil S. sie über den wahren Charakter eines angeblichen "Spiels" getäuscht habe.
Mit der - vom SG zugelassenen - (Sprung)Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 1 Abs 1 OEG.
Die Klägerin beantragt,
festzustellen, daß sie durch eine Gewalttat iS des OEG geschädigt wurde.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladene stellt keinen Antrag.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Allerdings ist die Klage nicht schon deshalb abzuweisen, weil, wie das SG meinte, der an der Klägerin verübte sexuelle Mißbrauch keine Gewalttat im Sinne des OEG sei. Die Klage hat keinen Erfolg, weil keine Gesundheitsstörung vorliegt, die als Folge des sexuellen Mißbrauchs anerkannt werden könnte.
Das SG hat sich durch die Gesetzesüberschrift ("Gesetz über die Opfer von Gewalttaten") und den Wortlaut der einschlägigen Gesetzesvorschrift (§ 1 Abs 1 OEG: "tätlicher Angriff") daran gehindert gesehen, Sexualstraftaten, die ohne Gewaltanwendung begangen werden, als Grundlage für eine Entschädigung nach dem OEG zu beurteilen. Das führe, so hebt das SG allerdings hervor, zu dem unbefriedigenden Ergebnis, daß Kleinkinder, die die Gefährlichkeit der an ihnen begangenen Sexualstraftaten noch nicht erkennen können, und die des Schutzes des OEG besonders bedürfen, schutzlos bleiben müßten. Zu demselben Ergebnis gelangt das Oberlandesgericht Celle (OLG - Report Celle 1995, 219) in einem Inzest-Fall ohne Gewaltanwendung. Es bestehe zwar ein starkes Bedürfnis, auch die Opfer gewaltloser inzestuöser Beziehungen zu schützen und ihnen wegen gravierender seelischer Schäden Versorgungsleistungen zu erbringen. Das OEG lasse dies aber nicht zu. Es fehle am tätlichen Angriff.
Der Senat ist der Auffassung, daß die Gerichte nicht genötigt sind, dieses unbefriedigende Ergebnis hinzunehmen. Hierbei wird allerdings davon ausgegangen, daß der sexuelle Mißbrauch von Kindern tatsächlich die Gefahr krankhafter Entwicklung hervorrufen kann. Das ist nach der strafrechtlichen Literatur, die in § 176 StGB nur ein abstraktes Gefährdungsdelikt sieht, unklar (Lenckner in: Schönke/Schröder, StGB, 24. Aufl 1991, § 176, Rz 1; vgl auch die Übersicht in BT-Drucks VI/3521, S 34 ff). Es ist aber in der medizinischen Wissenschaft nunmehr die herrschende Meinung, daß der sexuelle Mißbrauch tatsächlich seelische Krankheiten hervorrufen kann. Das ergibt sich aus der Neufassung der Nrn 70 und 71 der durch das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht im Rundschreiben vom 22. März 1995 (BABl 5/1991, S 58). Hier wird auf der Grundlage von Gutachten anerkannter Wissenschaftlicher darauf hingewiesen, daß auch der sexuelle Mißbrauch von Kindern zu Neurosen, posttraumatischen Belastungsstörungen und Persönlichkeitsänderungen führen kann.
Ist - anders als im vorliegenden Fall - ein Kind nach sexuellem Mißbrauch seelisch krank geworden, so kann die Feststellung, daß diese Krankheit nicht nur zeitlich, sondern auch ursächlich mit dem sexuellen Mißbrauch zusammenhängt, nicht davon abhängig gemacht werden, welche Begehungsart der Kläger gewählt hat, ob er mehr mit Zwang oder mehr mit List und unter Ausnutzung eines Vertrauensverhältnisses vorgegangen ist. Der Wortlaut des Gesetzes gibt zwar zu Zweifeln Anlaß, schließt aber die Entschädigung nicht in Fällen aus, in denen der Täter ohne Gewalt und ohne Tätlichkeit, sondern nur mit List, unter Ausnutzung eines Vertrauensverhältnisses und spielerisch vorgegangen ist.
Nicht ausgeschlossen ist die Entschädigung dadurch, daß die gesetzliche Anspruchsgrundlage nur dann Entschädigung vorsieht, wenn die Schädigung durch einen tätlichen Angriff hervorgerufen worden ist. Die sexuellen Handlungen, deretwegen der Täter hier bestraft worden ist (§ 176 Abs 1 StGB) waren ein tätlicher Angriff, auch wenn man mit dem SG davon ausgehen muß, daß sie sich in Streicheln erschöpften und von der Klägerin als Spielerei empfunden wurden. Dieser Ansicht steht nicht entgegen, daß das OEG durch die Verwendung des Begriffs "tätlicher Angriff" auf das StGB hinweist, wo dieser Begriff klare Konturen gewonnen hat. Der Senat hat hieraus gefolgert, daß der tätliche Angriff ein gewaltsames handgreifliches Vorgehen gegen eine Person in kämpferischer, feindseliger Absicht ist (BSGE 59, 46, 47 = SozR 3800 § 1 Nr 6 - Stadtfest-Fall). Ob für einzelne Sachverhaltsgruppen im Bereich des OEG der tätliche Angriff umfassender verstanden werden muß als im Strafrecht, hat der Senat offengelassen. Eine strenge Bindung an die strafrechtliche Bedeutung des tätlichen Angriffs wäre nur dann vertretbar, wenn das OEG ausdrücklich hierauf verwiesen hätte. Aber auch wenn man an der genannten Begriffsumschreibung festhält, besteht kein Anlaß, bei gewaltloser Begehungsweise des § 176 StGB das OEG nicht anzuwenden. Die geforderte Feindseligkeit zwingt dazu nicht.
Der Einwand, in den Fällen der vorliegenden Art werde gerade das Gegenteil von Feindseligkeit, nämlich eine Art übertriebene Zuneigung sichtbar, geht zu Unrecht davon aus, die Feindseligkeit sei immer eine innere Tatsache. Denn was feindselig ist, sagt hier das Strafgesetz. Bestraft werden alle in § 176 StGB geschilderten Begehensweisen ohne Rücksicht darauf, welche innere Einstellung der Täter zu dem Opfer hatte und wie das Opfer die Tat empfunden hat. Auch eine freundschaftliche Einstellung zu dem Opfer, das dann zwar ein "Partner" sein mag, ist möglicherweise für die Strafhöhe, nicht aber für die Strafbarkeit entscheidend. Entscheidend ist das jugendliche Alter. Eine besondere Feststellung der Feindseligkeit als innere Tatsache ist jedenfalls dann nicht erforderlich, wenn es sich um eine Straftat handelt.
Auch der Einwand, das OEG sei nach seinem Grundgedanken nicht auf Taten anwendbar, die sich im innerfamiliären Bereich ereignen (so OLG Celle aaO) oder - wie hier - auf der Grundlage eines zwischen Opfer und Täter bestehenden Vertrauensverhältnisses, überzeugt nicht. Zwar ist zuzugeben, daß sich Vorgänge innerhalb einer Familie oder eines durch sonstige Beziehungen geprägten Vertrauensverhältnisses präventiver Verbrechensbekämpfung weitestgehend entziehen, so daß die Entschädigung des Opfers kaum mit dem Versagen staatlichen Schutzes vor Gewalttaten begründet werden kann. Das OEG hat sich aber eindeutig gegen eine Einschränkung des Opferentschädigungsrechts unter diesem Gesichtspunkt entschieden. Der CDU/CSU-Entwurf eines OEG, der Entschädigung versagte, wenn die Schädigung im Rahmen bestimmter Vertrauensverhältnisse geschehen ist, ist nicht Gesetz geworden. Anders als vom OLG Celle (aaO) angenommen, spricht danach die nur beschränkte Möglichkeit staatlicher Verbrechensbekämpfung nicht für eine enge Auslegung des Begriffs tätlicher Angriff zu Lasten von Kindern, die - in der erdrückenden Mehrzahl der Fälle (vgl Wachholz, Behindertenrecht 1993, 149) - gerade in der Familie und im Bekanntenkreis Opfer gewaltlosen sexuellen Mißbrauchs werden.
Zu einer derart engen Auslegung des Begriffs tätlicher Angriff zwingt auch nicht die Begründung des Regierungsentwurfs. Hier ist ausgeführt, daß der Entwurf planmäßig davon absehe, einzelne Vorschriften des Strafgesetzbuchs als Grundlage für die Entschädigung zu nennen. Ein solches an sich wünschenswertes Listensystem sei deshalb nicht eingeführt worden, weil manche Straftaten durch unterschiedliche Begehensweisen verwirklicht werden könnten und das OEG nur die Tätlichkeit gegen Personen erfassen wolle, nicht aber andere Begehensweisen derselben Strafvorschrift. In diesem Zusammenhang wird neben anderen Vorschriften des StGB auch § 176 StGB genannt (BT-Drucks 7/2506 S 10). Auch diese durchaus beachtliche Äußerung eines Gesetzgebungsorgans muß nicht so verstanden werden, daß das OEG im Unterschied zum StGB bei der Begehensweise des § 176 Abs 1 StGB, die hier vorliegt, eine Prüfung verlangt, ob das gewaltsam handgreifliche oder das spielerische Moment im Vordergrund stand.
Entscheidend gegen eine teilweise Ausgrenzung von Fällen sexuellen Kindesmißbrauchs aus dem Anwendungsbereich des OEG spricht aber, daß diese Unterscheidung häufig nur um den Preis einer weiteren Schädigung des Opfers zu verwirklichen wäre. Die Versorgungsverwaltung und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit haben zwar grundsätzlich unabhängig von der strafgerichtlichen Beurteilung einer Tat zu entscheiden, ob es sich um eine Gewalttat handelt (BSGE 60, 147, 149 = SozR 1300 § 45 Nr 24). Mit einem solchen Verfahren ist aber hier die dringende Gefahr einer "sekundären Viktimisierung" des Mißbrauchsopfers verbunden (vgl Lachmann, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1988, 47, 56 ff; Wachholz aaO 155). Seelische Schäden können erst hervorgerufen oder bereits vorhandene Schäden verstärkt werden, wenn das Kind im Zuge einer nach dem Strafverfahren erneuten und diesmal noch gründlicheren Untersuchung wieder mit dem Trauma konfrontiert wird. Nur scheinbar bietet die Möglichkeit, einschlägige tatsächliche Feststellungen des Strafgerichts zu übernehmen (vgl BSGE 49, 104, 106 und 50, 95, 97 = SozR 3800 § 1 Nrn 1 und 2) einen Ausweg aus dem Dilemma, durch die gebotene Prüfung von Versorgungsansprüchen ein Leiden erst hervorzurufen oder zu verschlimmern. Denn ob die sexuellen Handlungen iS des § 176 Abs 1 StGB gewaltsam durchgeführt wurden, ist für die Höhe der Strafe, nicht aber für die Strafbarkeit von Bedeutung. Was im Strafverfahren unterlassen werden kann und unterlassen wird, wäre unter Gesundheitsgefährdung des Kindes im Verwaltungs- und im sozialgerichtlichen Verfahren nachzuholen.
Die Klägerin ist somit Opfer einer Gewalttat geworden.
Das heißt aber nicht, daß die Gefahr der sekundären Viktimisierung nunmehr erst recht heraufbeschworen wird, weil untersucht werden müßte, ob und an welcher seelischen Krankheit die Klägerin leidet sowie ob diese Krankheit auf den sexuellen Mißbrauch zurückzuführen ist. Eine solche Untersuchung ist bei sexuellen Mißbrauch zurückzuführen ist. Eine solche Untersuchung ist bei Krankheiten - anders bei Verletzungen (vgl BSG SozR 3-1500 § 55 Nr 18 - Bagatellverletzungs-Fall) - erst dann geboten, wenn die Eltern des mißbrauchten Kindes Behauptungen aufstellen können, die es nahelegen, daß es der herrschenden Lehre in der medizinischen Wissenschaft darüber entsprechen, unter welchen Umständen ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Gewalttat und der seelischen Krankheit möglich ist. Das ist regelmäßig nur dann der Fall, wenn Umstände behauptet werden können, die in den Anhaltspunkten, die den Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben, geschildert sind. Das setzt zumindest eine so schwerwiegende seelische Störung voraus, daß verantwortungsbewußte Eltern trotz der Gefahr der sekundären Viktimisierung ärztliche Behandlung veranlaßten. Allein die fünf Jahre nach der Tat aufgestellte Behauptung der Mutter der Klägerin, diese habe einen seelischen Schaden erlitten, reicht dafür nicht aus. Abgesehen davon hat der Sachverständige, der die Klägerin im Rahmen des Strafverfahrens wegen ihrer Glaubwürdigkeit untersucht hat, ausgeführt, daß kein Anhalt für eine seelische Störung vorliege.
Der Senat hat aufgrund des ihm bei der Kostenentscheidung zustehenden Ermessens nach § 193 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz dem Beklagten die Hälfte der Kosten des Verfahrens auferlegt, obwohl er mit seinem Klageabweisungsantrag Erfolg gehabt hat. Diese Entscheidung berücksichtigt, daß sich der Beklagte nicht mehr zu Lasten der Klägerin darauf berufen kann, seine Ansicht sei in einem rechtskräftigen Urteil des SG bestätigt worden, der sexuelle Mißbrauch sei keine Gewalttat.
Fundstellen
Haufe-Index 946352 |
BSGE, 7 |
Breith. 1996, 655 |