Tenor
Auf die Revision des klagenden Landes wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 25. Oktober 1966 aufgehoben, soweit es die Klage wegen Erstattung der Behandlungskosten des Kindes (2.772 DM) und eines Kostenanteils für die Prothese (200 DM) abgewiesen hat. Insoweit wird die Berufung der beklagten Krankenkasse gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 18. Mai 1966 zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die beklagte Betriebskrankenkasse (BKK) dem klagenden Land die vorläufig von ihm getragenen Aufwendungen für die Krankenhausbehandlung des – bei der Beklagten familienversicherten – Kindes Bettina I. zu erstatten hat.
Dem 1957 geborenen Kind fehlt von Geburt der rechte Unterarm. Es befand sich deswegen vom 20. Mai bis 28. September 1963 in der Orthopädischen Klinik Debstedt (DRK-Krankenhaus Seepark der Krankenanstalten Wesermünde), wo es mit einem Arbeitsarm („Kinderhook”) versorgt und in dessen Gebrauch unterwiesen wurde. Die Kosten des Krankenhausaufenthalts des Kindes sowie der Prothese in Höhe von 2.772 und 556,28 DM übernahm der Kläger als überörtlicher Träger der Sozialhilfe und machte im November 1963 einen Ersatzanspruch bei der beklagten Krankenkasse geltend. Diese hielt den Anspruch in Übereinstimmung mit dem Leitenden Medizinaldirektor Dr. K. für unbegründet, weil es sich bei dem angeborenen Leiden des Kindes nicht um eine Krankheit handele. Schon Anfang 1963 hatte sie die Gewährung einer vom Landesarzt für Körperbehindertenfürsorge für das Kind vorgeschlagenen Prothese abgelehnt.
Das Sozialgericht (SG) Hannover verurteilte die Beklagte nach Anhörung eines ärztlichen Sachverständigen (Dr. Sch.), dem Kläger die Behandlungskosten des Kindes und von den Kosten der Prothese den satzungsmäßigen Zuschuß zu Hilfsmitteln gegen Verkrüppelung in Höhe von 200 DM zu erstatten: Durch die Armprothese und die Übungsbehandlung könne das Kind den rechten Arm wesentlich besser als früher gebrauchen, auch sei dadurch einer künftigen Verschlimmerung des Leidens in Gestalt von Gelenkversteifungen, Muskelschwund und statischer Fehlhaltung vorgebeugt worden; eine unmittelbare Gesundheitsgefahr habe für das Kind allerdings nicht bestanden (Urteil vom 18. Mai 1966).
Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat auf die Berufung der beklagten Krankenkasse die Klage abgewiesen: Bettina L. sei körperbehindert, aber nicht krank. Nach BSG 13, 164 erfordere zwar eine Krankheit im Sinne der Sozialversicherung keine augenblickliche Behandlungsbedürftigkeit, setze jedoch bei einem Körperbehinderten voraus, daß ohne sofortige ärztliche Behandlung unmittelbar die Gefahr einer wesentlichen Verschlimmerung des Zustandes drohe; das sei bei Bettina L. nicht der Fall gewesen. Ihr Leiden sei auch nicht durch ärztliche Maßnahmen, sondern allein durch die Gewöhnung des Kindes an den Gebrauch der Prothese gebessert worden; sie habe damit gelernt zuzugreifen, zu spielen und die in der Schule erforderlichen Hantierungen auszuführen. Ihr körperlicher Zustand sei aber unverändert geblieben. Da sie nicht behandlungsbedürftig gewesen sei, brauche die Beklagte auch keinen Zuschuß zu der Prothese zu gewähren (Urteil vom 25. Oktober 1966).
Gegen dieses Urteil hat der Kläger die zugelassene Revision eingelegt; er rügt: Das LSG habe verkannt, daß nach der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) eine Krankheit nicht erst dann anzunehmen sei, wenn eine unmittelbare Verschlimmerungsgefahr drohe, also ein Notfall vorliege. Im übrigen hätte sich der Zustand des Kindes ohne die erfolgte Behandlung in naher Zukunft verschlimmert. In den regionalen Behandlungszentren für Dysmelien versuche jeweils ein Orthopäde mit seinen Mitarbeitern, nämlich einer Krankengymnastin, einer Beschäftigungstherapeutin, einer Kindergärtnerin, einer Krankenschwester und dem Orthopädiemechaniker, durch eine möglichst frühzeitige und deshalb besonders aussichtsreiche Behandlung die schweren Funktionsstörungen zu bessern. Die Behandlung bestehe in einer gründlichen orthopädischen, klinischen und röntgenologischen Untersuchung, einer Schulung und Aktivierung der vorhandenen körperlichen Funktionen, der Versorgung mit einer Prothese und einer intensiven Übungsbehandlung in Form von Massagen, orthopädischem Turnen und einer Beschäftigungstherapie. Dadurch sei auch bei Bettina L. eine wesentliche Besserung der Armfunktion erreicht worden, wenn auch ihr Unterarmdefekt als solcher nicht behebbar gewesen sei. Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG Niedersachsen vom 25. Oktober 1966 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die Behandlungskosten für Bettina L. in Höhe von 2.772 DM und von den Prothesenkosten 200 DM zu erstatten.
Die beklagte BKK beantragt unter Hinweis auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Dem Kind Bettina L. hätten unmittelbare Gesundheitsgefahren nicht gedroht, durch die Behandlung seien die Gebrechen im medizinischen Sinne nicht gebessert worden; ein Funktionsausfall sei als solcher keine Krankheit. Im übrigen gehöre die Beseitigung eines schmerz- und beschwerdefreien Zustandes nicht zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung.
II
Die Revision des klagenden Landes, mit der nach den zuletzt gestellten Anträgen nur noch ein – auf §§ 1531 ff der Reichsversicherungsordnung (RVO) gestützter – Anspruch auf Ersatz der Kosten der Krankenhausbehandlung des Kindes und eines Teils der Kosten seiner Armprothese geltend gemacht wird, ist begründet.
Wie der Senat schon wiederholt entschieden hat, kann das Gebrechen eines Körperbehinderten (§ 39 Abs. 1 Nr. 1 BSHG, früher § 1 Abs. 1 und 2 KBG) zugleich eine Krankheit im Sinne des Versicherungsrechts sein (BSG 13, 134, 136; 16, 177, 178; 20, 129, 131). Das Gebrechen ist Krankheit, wenn und soweit es als regelwidriger Körper- oder Geisteszustand einer Heilbehandlung zugänglich und bedürftig ist; Behandlungsbedürftigkeit in diesem Sinne liegt vor, wenn der Leidenszustand ohne ärztliche Hilfe nicht mit Aussicht auf Erfolg behoben, gebessert oder vor Verschlimmerung bewahrt werden kann (vgl. Urteil des Senats vom 17. Oktober 1969, 3 RK 82/66). Eine Verschlimmerungsgefahr braucht dabei – entgegen der Ansicht des LSG – nicht in der Weise „unmittelbar” zu drohen, daß ohne sofortige Behandlung mit dem alsbaldigen Eintritt einer wesentlichen Verschlimmerung zu rechnen ist. Das Leiden braucht dem Betroffenen auch (noch) keine besonderen Schmerzen oder Beschwerden zu bereiten. Es genügt vielmehr, daß es sich, unbehandelt, wahrscheinlich verschlimmern würde und daß dem Eintritt einer solchen Verschlimmerung am besten, d. h. mit der größten Aussicht auf Erfolg, durch eine möglichst frühzeitige Behandlung entgegengewirkt wird (ähnlich Peters, Festschrift für Bogs, 1959, S. 292, 298 f; vgl. zur Behandlung „im Frühstadium” auch BSG 13, 136, und Bayer. LSG in Breithaupt 1968, 725, sowie zur Frage der Verschlimmerungsgefahr bei Dauerleiden BSG 26, 240, 243).
Daß dem Kind Bettina L. ohne die ihm zuteil gewordene orthopädische Behandlung eine Verschlimmerung seines Gebrechens in Gestalt bestimmter Folgeschäden (Gelenkversteifungen, Muskelatrophien, statische Fehlhaltung) drohte und diese Schäden ohne die erfolgte Frühbehandlung mit Wahrscheinlichkeit eingetreten wären, hat der vom SG gehörte ärztliche Sachverständige Dr. Sch. ausgeführt und offenbar auch das LSG angenommen. Die Voraussetzungen der Behandlungsbedürftigkeit lagen mithin zur Zeit der Krankenhausaufnahme des Kindes vor. Im übrigen sollte – und konnte – mit der Krankenhausbehandlung nicht nur eine spätere Verschlimmerung verhindert, sondern auch und vor allem eine Besserung des vorhandenen Leidenszustandes erreicht werden, obwohl der Unterarmdefekt selbst nicht zu beheben war. Ein Gebrechen, wie es bei Bettina L. besteht, ist schon dann behandlungsbedürftig, wenn sich durch eine der Art des Leidens angepaßte Heilbehandlung, zu der auch die Versorgung mit einer Prothese und eine anschließende Übungsbehandlung gehören kann, eine nicht unwesentliche Besserung der Körperfunktion erzielen läßt. Bettina L. litt somit zu der fraglichen Zeit an einer behandlungsbedürftigen, nur durch stationäre Behandlung beeinflußbaren Krankheit, deren Kosten die Beklagte bei richtiger Ausübung ihres Verwaltungsermessens hätte übernehmen müssen und die sie deshalb dem – vorläufig eingetretenen – Kläger nach §§ 1531, 1533 Nr. 3 RVO in vollem Umfang zu erstatten hat.
Das gleiche gilt für die Kosten der Armprothese des Kindes, soweit der Kläger dafür Erstattung seiner Aufwendungen verlangt, d. h. in Höhe des satzungsmäßigen Zuschusses der Beklagten für größere Heil- oder Hilfsmittel von seinerzeit 200 DM. Dabei spricht vieles dafür, die Prothese hier nicht, wie es das LSG getan hat, den „Hilfsmitteln” zuzurechnen, die nach beendetem Heilverfahren nötig sind, um die Arbeitsfähigkeit des Versicherten herzustellen oder zu erhalten (§ 187 Nr. 3 RVO i.V.m. § 39 Abs. 11 der Satzung der Beklagten), sondern als ein zur Erzielung des Heilerfolges notwendig Gewesenes „Heilmittel” anzusehen (vgl. Peters, Handbuch der Krankenversicherung, 16. Aufl., § 182 Anm. 4 b, 4 e und 4 f). Die Frage braucht indessen nicht abschließend entschieden zu werden, da die Beklagte nach ihrer Satzung (§ 39 Abs. 7) den gleichen Zuschuß wie für Hilfsmittel gegen Verkrüppelung auch für größere Heilmittel gewährt. Wäre die Prothese im übrigen den Hilfsmitteln zuzurechnen, so würde eine entsprechende Anwendung des § 39 Abs. 11 der Satzung im Rahmen der Familienhilfe (vgl. § 51) nicht erfordern, daß durch das Hilfsmittel die „Arbeitsfähigkeit” des mitversicherten Familienangehörigen hergestellt oder erhalten wird; bei einem Kind wie Bettina L. genügt es, daß sich die Versorgung mit einer Prothese günstig auf die Schulfähigkeit auswirkt.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes.
Unterschriften
Dr. Langkeit, Dr. Krebs, Spielmeyer
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 18.11.1969 durch Schäfers RegHauptsekretär Schriftführer
Fundstellen
Haufe-Index 707761 |
BSGE, 151 |