Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufskrankheit. haftungsbegründende Kausalität. Aids. Ärztin
Orientierungssatz
1. Zur Anerkennung einer HIV-Infektion bei einer Ärztin als Berufskrankheit gemäß BKVO Anl 1 Nr 3101.
2. Auch wenn eine Infektionskrankheit auf einer einmaligen Ansteckung beruht, also rechtlich die Voraussetzungen für einen Arbeitsunfall gegeben wären, ist die BKVO jedenfalls dann anzuwenden, wenn die Infektion sich hinsichtlich des Zeitpunktes und der direkten Infektionsquelle nicht feststellen läßt.
Normenkette
BKVO Anl 1 Nr. 3101; RVO § 551 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die bei der Klägerin bestehende HIV-Infektion auf ihrer Tätigkeit als Ärztin im klinischen Bereich beruht und als Berufskrankheit (BK) nach der Nr 3101 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) zu entschädigen ist.
Bei der im Jahre 1963 geborenen Klägerin war nach einer ärztlichen Bescheinigung im Rahmen ihrer Blutspende der letzte negative Anti-HIV-Test im Mai 1986 durchgeführt worden. Im Juni 1989 zeigte Dr. S. von der Medizinischen Klinik und Poliklinik der Georg-August-Universität Göttingen dem Beklagten die "am ehesten beruflich verursachte" im Oktober 1988 erstmals festgestellte HIV-Infektion an.
In seinem von dem Beklagten eingeholten Gutachten vom 23. Februar 1990 kamen Prof. Dr. Dr. M., Leiter der Medizinischen Klinik und Poliklinik der Johann-Gutenberg-Universität Mainz, und Oberarzt Prof. Dr. H. zu dem Ergebnis, die Klägerin habe die HIV-Infektion mit überwiegender Wahrscheinlichkeit im beruflichen Bereich erworben. In dem Gewerbeärztlichen Gutachten vom 21. Mai 1991 führte Dr. B. abschließend aus, der vorliegende Fall sei mehr als unsicher und hinsichtlich des beruflichen Infektionsrisikos nicht beurteilbar; angesichts der nicht einmal nachgewiesenen Infektionsquelle könne im Zweifelsfall eine Berufskrankheit nicht angenommen werden.
Die Beklagte lehnte Entschädigungsansprüche ab (Bescheid vom 20. September 1991 und Widerspruchsbescheid vom 6. April 1992): Dem ärztlichen Votum im Gutachten vom 23. Februar 1990 wäre nicht zu folgen, weil der Beweis einer beruflichen Infektion nicht geführt werden könnte. Es wäre in beweisrechtlicher Hinsicht unzulässig, zugunsten der Betroffenen einen bestimmten Geschehensablauf zu unterstellen, weil berufliche Infektionsquellen nicht nachgewiesen werden könnten. Vielmehr wäre es so, daß der Nachweis einer beruflichen Infektion positiv erbracht sein müsse.
Das Sozialgericht (SG) hat, gestützt auf das Gutachten von Prof. Dr. Dr. M. und Prof. Dr. H., den Beklagten verurteilt, der Klägerin unter Anerkennung der HIV-Infektion als BK nach der Ziffer 3101 der Anlage 1 zur BKVO Entschädigungsleistungen zu gewähren (Urteil vom 14. Dezember 1992).
Im Berufungsverfahren hat das Landessozialgericht (LSG) weiteren Beweis erhoben und ein Gutachten von Privatdozent Dr. S. und Dr. F., Klinik für Innere Medizin der Universität zu Köln, eingeholt. Die Sachverständigen sind in ihrem Gutachten vom 30. September 1995 zu dem Ergebnis gekommen: Es sei ausgehend von den Angaben der Klägerin zu ihren während des Infektionszeitraumes ausgeübten beruflichen Tätigkeiten mit den einzelnen Verrichtungen und den dabei aufgetretenen Vorkommnissen und ausgehend davon, daß sich unter den Materialien, mit denen sie dabei in Berührung gekommen sei, auch HIV-Kontaminierte befunden hätten, möglich, daß die bei der Klägerin bestehende HIV-Infektion durch berufliche Tätigkeit verursacht worden sei. In einer weiteren Stellungnahme vom 20. November 1995 hat Dr. F. ausgeführt, in dem Gutachten sei gemeint, daß unter Berücksichtigung der vorgenannten epidemiologischen Daten sowohl möglich als auch wahrscheinlich sei, daß die HIV-Infektion der Klägerin durch berufliche Tätigkeiten verursacht worden sei. Der Ärztliche Leiter der AIDS-Beratungsstelle der Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales, Dr. J. J., Hamburg, hat in seinem Gutachten vom 10. Juli 1996 darauf hingewiesen, daß die Klägerin an der Universitätsklinik Mainz tätig gewesen sei, die zu den Schwerpunktkrankenhäusern gehöre, in denen es grundsätzlich zu einer Verdichtung von HIV/AIDS-Patienten komme. Für die HIV-Infektion der Klägerin durch die berufliche Tätigkeit spreche, daß außerberufliche HIV-Infektionsrisiken unwahrscheinlich seien, eine erhöhte HIV-Seroprävalenz im Arbeitsbereich im fraglichen Infektionszeitraum wahrscheinlich bzw regelmäßig ein gewisser Prozentsatz der von der Klägerin betreuten Personen HIV-infiziert gewesen sei und eine besondere Gefährdung durch die ausgeübten Tätigkeiten nachgewiesen worden seien.
Das LSG hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 22. Januar 1997) und dies ua wie folgt begründet: Die Klägerin habe während ihrer Famulatur im Februar/März 1988 Kontakt zu einer nachweislich HIV-infizierten afrikanischen Patientin gehabt. Selbst wenn man aber mit den Sachverständigen Privatdozent Dr. S. und Dr. J. davon ausgehe, aufgrund der von der Klägerin selbst beschriebenen Umstände sei die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der pflegerischen Betreuung dieser Patientin und der HIV-Infektion unwahrscheinlich, sei dennoch die Wahrscheinlichkeit des Kausalzusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit der Klägerin und ihrer HIV-Infektion zu bejahen. Es sei davon auszugehen, daß sich unter den von der Klägerin in der Medizinischen Universitätsklinik Mainz gepflegten Patienten ein gewisser Prozentsatz unerkannt HIV-Infizierter befunden haben müsse. Bei dieser Klinik habe es sich um ein Schwerpunktkrankenhaus auch hinsichtlich HIV-infizierter und AIDS-erkrankter Patienten gehandelt. Bei den Bereichen, in denen die Klägerin während ihrer Tätigkeit als unständige Nachtwache und während ihrer Famulatur in der Universitäts-Klinik Mainz gearbeitet habe (Hämatologie, Onkologie, Nephrologie - Dialysestation -, Innere Allgemeinstation), hätten sich mit hoher Wahrscheinlichkeit regelmäßig HIV-infizierte Patienten befunden. Soweit Prof. Dr. Dr. M. ausgeführt habe, die meisten Patienten seien auf HIV getestet worden, habe die Klägerin dem entgegengehalten, im relevanten Zeitpunkt seien die bis dahin routinemäßig durchgeführten HIV-Testungen unter dem Druck staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen eingestellt worden.
Der Beklagte hat die - vom LSG zugelassene - Revision eingelegt und führt aus: Die Annahme des LSG, in den internistischen Stationen der Universitäts-Klinik Mainz seien HIV-Tests in der Zeit von 1986 bis 1988 nicht durchgeführt worden, stehe im Widerspruch zu den Angaben des Leiters dieser Klinik Prof. Dr. Dr. M. Dr. J. habe dagegen lediglich ausgeführt, daß die Angabe der Klägerin nach seiner langjährigen Erfahrung plausibel sei. Deshalb hätte sich das LSG veranlaßt sehen müssen, bei der Klinik eine entsprechende Nachfrage zu halten. Das LSG ziehe außerdem Beweiserleichterungen heran, die von der Rechtsprechung für die Hepatitis entwickelt worden seien. Es gebe aber anders als im Falle der Hepatitis bei den HIV-Infektionen keinen allgemeinen Erfahrungssatz, wonach in den Klinikabteilungen, in denen die Klägerin von 1986 bis 1988 beruflich tätig gewesen sei, "über das normale Maß hinausgehende Gefahren", bezogen auf die HIV-Infektion, vorhanden gewesen seien. Das LSG gehe zudem von einer besonderen Gefährdung durch einzelne Tätigkeiten aus, die die Klägerin in den Jahren 1986 bis 1988 verrichtet habe. Die Angaben der Klägerin als zutreffend unterstellt, rechtfertigten sie nicht die rechtliche Wertung, es habe eine besondere Gefährdung bestanden. Eine Infektion mit AIDS sei durch den Kontakt mit Blut eines HIV-positiven Patienten keineswegs wahrscheinlich.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. Januar 1997 und das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 14. Dezember 1992 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
Der Entschädigungsanspruch der Klägerin richtet sich noch nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO), da die von der Klägerin geltend gemachte BK vor Inkrafttreten des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches, Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII), am 1. Januar 1997 aufgetreten ist (Art 36 des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes, § 212 SGB VII).
Die Klägerin war während ihrer ärztlichen Tätigkeit in der Universitätsklinik Mainz in der gesetzlichen Unfallversicherung gegen Arbeitsunfall und Berufskrankheit versichert (§ 539 Abs 1 Nr 1, § 551 RVO).
Nach der Nr 3101 der Anlage zur BKVO ist eine Infektionskrankheit dann eine BK, wenn die Versicherten im Gesundheitswesen, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium tätig oder durch eine andere Tätigkeit der Infektionsgefahr in ähnlichem Maße besonders ausgesetzt waren.
Auch wenn eine Infektionskrankheit auf einer einmaligen Ansteckung beruht, also rechtlich die Voraussetzungen für einen Arbeitsunfall gegeben wären, ist die BKVO jedenfalls dann anzuwenden, wenn die Infektion sich hinsichtlich des Zeitpunktes und der direkten Infektionsquelle nicht feststellen läßt (BSG SozR 5670 Anlage 1 Nr 3102 Nr 1; Brackmann/Krasney, Handbuch der Sozialversicherung, Gesetzliche Unfallversicherung, 12. Aufl, § 9 RdNr 19; Elster, Berufskrankheitenrecht, § 551 RdNr 7; Kater/Leube Gesetzliche Unfallversicherung, SGB VII, 1997, § 9 RdNr 58).
Die Klägerin war im Zeitpunkt der Infektion im Gesundheitswesen tätig. HIV-Infektion ist eine Infektionskrankheit. Weitere Voraussetzung für den Versicherungsschutz ist, daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der schädigenden Einwirkung und einer der versicherten Tätigkeiten gegeben ist (BSG Urteil vom 30. Mai 1988 - 2 RU 33/87 - NZA 1988, 823 = USK 8887). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist die zumindest erforderliche Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und einer Infektionskrankheit nach der Nr 3101 der Anlage 1 zur BKVO grundsätzlich gegeben, wenn nachgewiesen ist, daß die Versicherte bei der Berufstätigkeit - sei es durch einen Patienten, einen Mitarbeiter oder auf sonstige Weise - einer besonderen, über das normale Maß hinausgehenden Ansteckungsgefahr ausgesetzt gewesen ist (BSGE 6, 186, 188; BSG SozR Nr 1 zu 6. BKVO Anlage 37; BSG Urteile vom 15. Dezember 1966 - 2 RU 215/63 - und vom 30. Mai 1988 - 2 RU 33/87 -). Bei diesem Nachweis kann dann in der Regel auch davon ausgegangen werden, daß sich die Versicherte die bei ihr aufgetretene Infektionskrankheit durch ihre besondere berufliche Exposition zugezogen hat (BSGE aaO; BSG Urteil vom 30. Mai 1988 aaO). Die Feststellung der bei der Klägerin vorliegenden HIV-Infektion als BK setzt somit voraus, daß ihre Tätigkeit als Ärztin mit besonderen, über das normale Maß hinausgehenden Gefahren verbunden war, eine HIV-Infektion zu erleiden (vgl BSG Urteil vom 30. Mai 1988 aaO). Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG war auch diese Voraussetzung bei der Klägerin erfüllt. Zu diesem Beweisergebnis ist das LSG aufgrund der von ihm festgestellten Tätigkeiten der Klägerin in der maßgebenden Infektionszeit und aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen Dr. J. gelangt, daß die Universität Mainz zu den Schwerpunktkrankenhäusern gehörte, in denen es grundsätzlich zu einer Verdichtung von HIV/AIDS-Patienten gekommen war. Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Fall wesentlich von dem Sachverhalt, der dem Urteil des Senats vom 30. Mai 1988 (2 RU 33/87) zugrunde gelegen hat. Das LSG ist darauf aufbauend wiederum revisionsrechtlich nicht zu beanstanden aufgrund seiner eingehenden Beweiswürdigung zu dem Ergebnis gelangt, daß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit der Klägerin und ihrer HIV-Infektion besteht. Dabei hat es nicht übersehen, daß die Infektion - wie auch bei zahlreichen anderen Infektionskrankheiten - auch außerhalb der beruflichen Tätigkeit der Klägerin im Gesundheitsdienst möglich gewesen ist. Die Vorinstanzen haben jedoch festgestellt, daß die wahrscheinliche Ansteckungszeit in die Zeit der versicherten Tätigkeit der Klägerin in der Universitäts-Klinik Mainz fällt und die Klägerin, wie bereits ausgeführt, durch ihre Tätigkeit in dieser Klinik einer besonderen, über das normale Maß hinausgehenden Gefahr ausgesetzt war, eine HIV-Infektion zu erleiden. Die Revision rügt, das LSG habe verfahrensfehlerhaft Prof. Dr. Dr. M. nicht zu der vom Berufungsgericht mit in die Beweiswürdigung einbezogenen Feststellung gehört, die zunächst routinemäßig durchgeführten HIV-Tests seien auf staatsanwaltschaftliches Drängen nicht mehr durchgeführt worden (s hierzu ua OLG Koblenz NStZ 1990, 426; LG Köln NJW 1995, 1621). Das LSG hat jedoch ausgeführt, im übrigen hätte selbst im Falle der Durchführung von HIV-Tests jedenfalls bei einem neu in die Klinik aufgenommenen Patienten mit einer relativ frischen HIV-Infektion diese im Hinblick auf die erforderliche Serokonversionslatenzzeit noch nicht nachweisbar sein und deshalb unerkannt bleiben können. Angesichts dieser Beweiswürdigung hat sich das LSG nicht zu einer erneuten Anhörung von Prof. Dr. Dr. M. gedrängt fühlen müssen, zumal da auch dieser Sachverständige davon ausgegangen war, daß trotz der von ihm angeführten HIV-Tests es wahrscheinlich sei, daß sich die Klägerin die Infektion durch ihre ärztliche Tätigkeit zugezogen habe.
Soweit die Revision, gestützt auf Ausführungen und Schrifttum, eine besondere Gefährdung der Klägerin verneint, weil HIV vergleichsweise schwer übertragbar sei, kommt sie im Kern ihrer Ausführungen lediglich zu einem anderen Beweisergebnis, was aber allein noch kein revisionsrechtlich erhebliches Überschreiten der Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung durch das LSG ergibt. Das LSG konnte sich vielmehr auch insoweit auf die ärztlichen Gutachten und dabei insbesondere auf die Ausführungen des Sachverständigen Dr. J. stützen. Entgegen der Ansicht der Revision hat das Berufungsgericht, wie seine Ausführungen vor allem auf Seite 28 der Urteilsgründe zeigen, auch nicht verkannt, daß die im Rahmen der Beweiswürdigung zu beachtenden Besonderheiten bei der Gefährdung durch Hepatitis B (HBV) und Hepatitis C (HCV) nicht ohne weiteres auf die bei HIV-Infektionen übertragen werden können.
Die Revision war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen
ArztR 1999, 75 |
MedR 1999, 45 |
KHuR 1998, 22 |
KHuR 1999, 56 |