Verfahrensgang
LSG Bremen (Urteil vom 01.03.1994) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 1. März 1994 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten um Entschädigungs- und Hinterbliebenenleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
Die Klägerin macht diese Ansprüche als Sonderrechtsnachfolgerin und Witwe ihres verstorbenen Ehemannes (Versicherter) geltend. Der Versicherte hatte an einem metastasierenden Bronchialkarzinom im rechten Oberlappen gelitten. Am 3. Februar 1986 unterzog er sich deshalb einer Oberlappenresektion. Danach kam es zu postoperativen Komplikationen, in deren Verlauf der Versicherte am 1. März 1986 verstarb.
Im Revisionsverfahren ist noch umstritten, ob der Klägerin die geltend gemachten Entschädigungsansprüche zustehen, weil das Bronchialkarzinom des Versicherten nach den Behauptungen der Klägerin auf der Grundlage einer asbestbedingten Erkrankung entstanden ist, die die Träger der Unfallversicherung wie eine Berufskrankheit (BK) nach § 551 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) entschädigen sollen.
Zu dem Entschädigungsantrag vom 25. Februar 1986 wegen einer berufsbedingten Asbestose gab die Klägerin an, der Versicherte sei seit dem Jahre 1959 zunächst fünf Jahre lang am Hochofen und dann einundzwanzig Jahre lang als Zimmermann in der Zimmerei tätig gewesen. In der gesamten Beschäftigungszeit sei er durch die Einwirkung von Asbeststaub und Abgasen gefährdet gewesen. Mit Bescheid vom 14. April 1987, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 21. August 1987, lehnte die Beklagte die Entschädigungsansprüche ab. Nach dem Ergebnis der Obduktion und des am 8. Dezember 1986 eingegangenen pathologisch-anatomischen Zusammenhangsgutachtens sei das Bronchialkarzinom nicht durch die nur in geringem Ausmaß gefundenen Asbeststaubeinlagerungen entstanden. Asbestotische Veränderungen der Lungen seien nicht festgestellt worden. Todesursache sei eine durch die Langzeitbeatmung nach der Operation eingetretene Lungenfibrose. Eine entschädigungspflichtige BK nach den Nrn 4104 oder 4105 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) – „Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose) in Verbindung mit Lungenkrebs” und „durch Asbest verursachtes Mesotheliom des Rippenfells oder des Bauchfells” – liege nicht vor.
Die Klage hat keinen Erfolg gehabt (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Bremen vom 20. März 1990).
Im Berufungsverfahren hat die Klägerin beantragt, ihr als Sonderrechtsnachfolgerin des Versicherten für die Zeit vom 21. Januar 1986 bis zum 1. März 1986 Verletztengeld und Heilbehandlung sowie ab 1. März 1986 Hinterbliebenenrente zu gewähren.
Auf Anregung des Landessozialgerichts (LSG) Bremen vom 20. März 1992, ein Feststellungsverfahren nach § 551 Abs 2 RVO über die Frage durchzuführen, ob der Lungenkrebs des Versicherten durch Einwirkung einer kumulativen Asbestfaserstaub-Dosis am Arbeitsplatz von mindestens 25 Faserjahren verursacht worden ist, hat die Beklagte mit Bescheid vom 26. März 1993 auch eine Entschädigung nach § 551 Abs 1 RVO iVm Nr 4104 Variante 3 der Anlage 1 zur Zweiten Verordnung zur Änderung der BKVO vom 18. Dezember 1992 (BGBl I 2343 ≪2. ÄndVO≫) abgelehnt, weil der Versicherungsfall jedenfalls nicht in die Zeit nach dem 31. März 1988 gefallen und deshalb eine Anerkennung als BK in diesem Sinne gemäß Art 2 Abs 2 der 2. ÄndVO ausgeschlossen sei. Dazu hat die Beklagte die Meinung vertreten, durch diese Rückwirkungsvorschrift der 2. ÄndVO fehle es auch an einer Rechtsgrundlage, noch nach Inkrafttreten der 2. ÄndVO über einen entsprechenden Anspruch nach § 551 Abs 2 RVO zu entscheiden. Sie hätte aber auch bei einem früheren Abschluß des Feststellungsverfahrens nicht anders entschieden, weil sie die im Entwurfstadium der 2. ÄndVO bekannt gewordene Rückwirkungsklausel und Ausschlußfrist pflichtgemäß beachtet hätte.
Daraufhin hat das LSG die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 1. März 1994). Bei dem Versicherten habe keine BK vorgelegen, weder eine „Asbeststaublungenerkrankung (Asbestose)” noch ein „Lungenkrebs in Verbindung mit Asbestose oder mit durch Asbeststaub verursachte Erkrankung der Pleura”. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens hätten bei dem Versicherten weder eine Asbestose noch eine Erkrankung der Pleura vorgelegen, die durch Asbeststaub hätte verursacht sein können. Nicht zu entscheiden sei, ob die Einwirkung einer kumulativen Asbestfaserstaub-Dosis am Arbeitsplatz von mindestens 25 Faserjahren nachweisbar sei im Sinne der Nr 4104 Variante 3 der Anlage 1 zur BKVO idF der 2. ÄndVO. Denn ein möglicher Entschädigungsanspruch scheitere an Art 2 Abs 2 der 2. ÄndVO, weil der Versicherungsfall spätestens vor dem Tode des Versicherten am 1. März 1986 und damit vor dem Stichtag am 1. April 1988 eingetreten sei. Der Klägerin stehe auch kein Entschädigungsanspruch nach § 551 Abs 2 RVO zu. Zwar sei der Verfahrensschritt, diesen Anspruch erst im Berufungsverfahren geltend zu machen, entweder nach § 153 Abs 1 iVm § 99 Abs 3 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) oder nach § 153 Abs 1 iVm § 99 Abs 1 und 2 SGG zulässig, weil sich die Beklagte darauf eingelassen habe, aber der Anspruch sei nicht begründet. Von der Rückwirkungsvorschrift des Art 2 Abs 2 der 2. ÄndVO würden auch die Fälle des § 551 Abs 2 RVO umfaßt.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 551 Abs 2 RVO. Die Rechtsauffassung des LSG, daß die Rückwirkungsvorschrift des Art 2 Abs 2 der 2. ÄndVO auch die Fälle des § 551 Abs 2 RVO erfasse, sei unzutreffend. Das Bundessozialgericht (BSG) habe dargelegt, daß eine Rückwirkungsvorschrift die Anwendung des § 551 Abs 2 RVO möglicherweise dann nicht ausschließe, wenn der Rückwirkungszeitraum nicht weit genug bemessen sei. Das treffe auf Art 2 Abs 2 der 2. ÄndVO zu. Die darin vorgeschriebene Frist von nur vier Jahren und neun Monaten sei zu gering bemessen. Schon vor dem Stichtag am 1. April 1988 hätten in ganz beträchtlichem Ausmaß neue Erkenntnisse der ärztlichen Wissenschaft vorgelegen. Tatsächlich seien die wissenschaftlichen Erhebungen und Untersuchungen, die die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse im Hinblick auf asbestbedingte Lungenerkrankungen begründeten, bereits in den siebziger Jahren durchgeführt worden, wie zB die Veröffentlichungen von Woitowitz und Valentin, Bohlig und Otto bewiesen. Es seien insbesondere diese schon in den siebziger Jahren veröffentlichten wissenschaftlichen Erkenntnisse, die den Verordnungsgeber bewogen hätten, die BKVO durch die 2. ÄndVO zu ändern. Dieser Schritt sei spätestens seit Beginn der achtziger Jahre überfällig gewesen. Hätten die Berufsgenossenschaften dies frühzeitiger als herrschende Meinung akzeptiert, wäre ihr Anspruch zumindest auf der Grundlage des § 551 Abs 2 RVO anerkannt worden. Die zeitliche Verzögerung bei der Akzeptanz der beschriebenen wissenschaftlichen Erkenntnisse dürfe nicht zu Lasten der Versicherten gehen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die angefochtenen Urteile und Bescheide aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr als Sonderrechtsnachfolgerin ihres verstorbenen Ehemannes für die Zeit vom 21. Januar 1986 bis 1. März 1986 Heilbehandlung und Verletztenrente sowie ab 1. März 1986 Hinterbliebenenrente zu gewähren, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Nach der Revisionsbegründung sei davon auszugehen, daß die Feststellungen und Ausführungen des LSG zu § 551 Abs 1 Satz 1 RVO nicht angegriffen würden. Das angefochtene Urteil sei aber auch im übrigen zutreffend. Das LSG habe sich für seine Auffassung von der Bedeutung und Tragweite des Art 2 Abs 2 der 2. ÄndVO auch für die Ansprüche nach § 551 Abs 2 RVO auf die auch von ihr, der Beklagten, gebilligte Rechtsprechung des BSG gestützt. Zu Unrecht greife die Klägerin diese Rechtsmeinung an.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist unbegründet.
Entschädigungsansprüche nach § 551 Abs 2 RVO, die nach der Revisionsbegründung noch allein Gegenstand des Revisionsverfahrens sind, stehen der Klägerin nicht zu, wie das LSG in Übereinstimmung mit der Beklagten zutreffend entschieden hat.
Die Erkrankung des Versicherten an einem Bronchialkarzinom ist im konkreten Fall auch unter dem Gesichtspunkt der medizinischen Erkenntnisse, die zur Neuaufnahme der Nr 4104 Variante 3 in die Anlage 1 zur BKVO durch die 2. ÄndVO geführt haben, keine Krankheit gewesen, die die Träger der Unfallversicherung gemäß § 551 Abs 2 RVO wie eine BK entschädigen dürfen. Das ist gemäß Art 2 Abs 2 der 2. ÄndVO ausgeschlossen, weil der Versicherungsfall nicht nach dem 31. März 1988 eingetreten ist.
„Lungenkrebs bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Asbestfaserstaub-Dosis am Arbeitsplatz von mindestens 25 Faserjahren” als Variante 3 der Nr 4104 darf erst aufgrund der 2. ÄndVO als BK anerkannt werden. In die vorausgegangene Anlage 1 zur BKVO idF der 1. ÄndVO vom 22. März 1988 (BGBl I 400) war diese BK-Variante noch nicht aufgenommen. Für neu in die Anlage 1 zur BKVO aufgenommene Krankheiten bestimmt Art 2 Abs 2 der 2. ÄndVO ausdrücklich, daß nur dann eine BK anzuerkennen ist, wenn der Versicherungsfall nach dem 31. März 1988 eingetreten ist. Das trifft im vorliegenden Falle nicht zu, weil der Versicherte bereits vor dem 31. März 1988 an dem Lungenkrebs litt (s hierzu auch BSG SozR 2200 § 551 Nr 35, BSG Urteil vom 25. August 1994 – 2 RU 42/93 – zur Veröffentlichung bestimmt und den Beteiligten vorab zur Kenntnis gegeben; Eilebrecht BG 1993, 187 ff, 193). In dieser Regelung liegt kein Verstoß gegen die Art 3 und 20 Grundgesetz (GG). Im allgemeinen bleibt es dem Gesetzgeber überlassen, inwieweit er neu eingeführte Leistungsverbesserungen auch auf abgeschlossene, in der Vergangenheit liegende Sachverhalte ausdehnt; sogar der völlige Ausschluß einer Rückwirkung muß nicht gegen den Gleichheitssatz des Art 3 GG verstoßen (BSGE 21, 296, 297; 22, 63, 65; 72, 303, 304; vgl auch BVerfGE 75, 108, 157). Allerdings kann bei berufsbedingten Erkrankungen im Hinblick auf das Sozialstaatsprinzip des Art 20 Abs 1 GG in gewissen Grenzen eine rückwirkende Gewährung von Leistungen geboten sein (BSGE 22 aaO). Durch Art 3 Abs 1 GG ist es dem Gesetzgeber indessen grundsätzlich nicht verwehrt, zur Regelung bestimmter Sachverhalte Stichtage einzuführen, obwohl jeder Stichtag unvermeidlich gewisse Härten mit sich bringt (BVerfGE 87, 1, 43). Die Wahl des Zeitpunkts muß sich allerdings am gegebenen Sachverhalt orientieren (BVerfGE 75, 108, 157; 87, 1, 43). Diesen Grundsätzen trägt Art 2 Abs 2 der 2. ÄndVO Rechnung.
Das gilt insbesondere für die Frage, ob der Verordnungsgeber die Anspruchsberechtigung im Interesse einer Gleichbehandlung der Versicherten auf ausreichend weit in der Vergangenheit liegende Versicherungsfälle erstreckt hat (BSGE 72, 303, 306). Aus der amtlichen Begründung zu Art 2 Abs 2 der 2. ÄndVO ergibt sich, daß der Verordnungsgeber diese Frage geprüft und die Rückwirkung aus sachlichen Gründen auf den Tag des Inkrafttretens der BKVO idF der 1. ÄndVO begrenzt hat. Er sah sich an der Anerkennung von Versicherungsfällen vor dem 1. April 1988 auf dem Wege der Rückverlegung des Stichtages in die weitere Vergangenheit gehindert, weil der damalige Verordnungsgeber sich bei der Vorbereitung der 1. ÄndVO ua intensiv „mit der möglichen Ausweitung bei Lungenkrebs nach Asbestexposition (Faserjahrmodell) befaßt” und die Anerkennung einer solchen BK ausdrücklich abgelehnt hatte (BR-Drucks 773/92 S 15 zu Art 2). Nach der Einschätzung des Verordnungsgebers haben danach die neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse erst nach dem Inkrafttreten der vorausgegangenen ÄndVO vorgelegen. Auf diesen Zeitraum hat er auch die Rückwirkung erstreckt. Das ist ein sachlich begründeter, ausreichender Rückwirkungszeitraum.
Zutreffend hat das LSG dementsprechend entschieden, daß die Erkrankung des Versicherten an einem Bronchialkarzinom auch unter dem Gesichtspunkt der medizinischen Erkenntnisse, die zur Neuaufnahme der Nr 4104 Variante 3 in die Anlage 1 zur BKVO durch die 2. ÄndVO geführt haben, keine Krankheit gewesen ist, die die Träger der Unfallversicherung etwa unbeschadet dessen oder trotz des Ausschlusses gemäß Art 2 Abs 2 der 2. ÄndVO nach § 551 Abs 2 RVO wie eine BK entschädigen dürfen. Der Senat hat bereits entschieden, daß diese Ausschlußbestimmung auch den Versicherungsschutz nach § 551 Abs 2 RVO erfaßt. Sie verbietet es dem Träger der Unfallversicherung, in Versicherungsfällen, die vor dem Stichtag eingetreten sind, nach § 551 Abs 2 RVO tätig zu werden. Mit dieser Entscheidung des Verordnungsgebers ist es dem Unfallversicherungsträger untersagt, in diesem Einzelfalle festzustellen, daß die übrigen Voraussetzungen des § 551 Abs 1 RVO erfüllt sind und die Krankheit nach neuen medizinischen Erkenntnissen wie eine BK zu entschädigen ist. Auch das ist der Zweck dieser begrenzten Rückwirkungsbestimmung (Urteil vom 25. August 1994 – 2 RU 42/93 -mwN aaO). Daran hält der Senat auch nach erneuter Prüfung fest.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen