Entscheidungsstichwort (Thema)
Ersatzzeit. Regelaltersgrenze. 65. Lebensjahr. Verschiebung des Versicherungsfalles. Altersruhegeld
Leitsatz (amtlich)
Zeiten nach Erreichen der Altersgrenze von 65 Jahren können – von Ausnahmefällen abgesehen – auch dann nicht als Ersatzzeiten rentensteigernd berücksichtigt werden, wenn der Versicherungsfall des Alters hinausgeschoben wurde (Forcführung von BSGE 51, 272 = SozR 2200 § 1251 Nr. 83).
Normenkette
RKG § 48 Abs. 5-6, § 51 Abs. 1 Nr. 3; SGB VI § 250 Abs. 1 Nr. 3
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Beschluss vom 15.08.1994; Aktenzeichen L 5 Kn 4/94) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 25.01.1994; Aktenzeichen S 5 Kn 70/93) |
Tenor
1. Die Revision der Klägerin gegen den Beschluß des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 15. August 1994 wird zurückgewiesen,
2. Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die am 14. Januar 1902 in Armawer/Kaukasus/UdSSR geborene Klägerin ist Volksdeutsche. Während des Krieges wurde sie nach Kasachstan deportiert. Sie besitzt den Vertriebenenausweis „A” und ist nach der Heimkehrerbescheinigung vom 21. Februar 1991 Heimkehrerin iSd § 1 Abs. 3 des Heimkehrergesetzes (HkG). Nach dieser Urkunde wurde sie im Oktober 1941 interniert, im Januar 1956 aus der Internierung entlassen, bis zu ihrer Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland am 5. Mai 1990 jedoch weiter in der UdSSR festgehalten. Seit 21. August 1965 hatte sie eine Altersrente aus den bis 20. August 1965 in der UdSSR zurückgelegten Beschäftigungszeiten bezogen.
Die Beklagte bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 4. August 1992 rückwirkend ab 5. Mai 1990 Knappschaftsruhegeld und berücksichtigte dabei – soweit nicht mit nach dem Fremdrentengesetz (FRG) anerkannten Pflichtbeitragszeiten belegt – neben den Internierungszeiten lt der Heimkehrerbescheinigung auch Ersatzzeiten bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres (13. Januar 1967). Mit Widerspruchsbescheid vom 3. August 1993 wies die Beklagte das Begehren der Klägerin, unter Verschiebung des Versicherungsfalles des Alters weitere Ersatzzeiten bis zu Ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland im Lebensalter von 88 Jahren anzuerkennen, zurück. Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht abgewiesen (Urteil vom 25. Januar 1994). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Beschluß vom 15. August 1994): Die Anrechnung von Ersatzzeiten bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres trotz des Altersrentenbezuges in der UdSSR sei bereits eine Besserstellung gegenüber inländischen Versicherten und sei vom Gesetzgeber mit Wirkung ab 1. Juli 1993 ausgeschlossen worden. Das 65. Lebensjahr stelle bereits die äußerste Grenze für Anrechnung von Ersatzzeiten dar, denn es sollten und dürften nur Nachteile ausgeglichen werden, die während der übiichen Dauer eines Erwerbslebens aufgrund eines Aufopferungstatbestandes eingetreten seien. Wirtschaftliche Nachteile, die der Klägerin durch die Ausreiseverhinderung nach Vollendung des 65. entstanden seien, könnten nicht durch die Anrechnung weiterer Ersatzzeiten kompensiert werden.
Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie trägt im wesentlichen vor, sie habe durch die zwangsweise Ausreiseverhinderung ihr Bestimmungsrecht nach § 48 Abs. 6 Reichsknappschaftsgesetz (RKG) (= § 1248 Abs. 6 Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫) nicht ausüben können. Die Anrechnung von Ersatzzeiten nach Vollendung des 65. Lebensjahres sei grundsätzlich zulässig und führe bei Rußlanddeutschen auch zu keiner Besserstellung gegenüber inländischen Versicherten, da letztere nicht bis zu ihrer Ausreise auf das höhere deutsche Altersruhegeld verzichten mußten.
Sie beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 25. Januar 1994 und den Beschluß des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 15. August 1994 aufzuheben, den Bescheid vom 4. August 1992 abzuändern, den Widerspruchsbescheid vom 3. August 1993 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin unter Berücksichtigung eines am 30. April 1990 eingetretenen Versicherungsfalles sowie einer weiteren Ersatzzeit vom 14. Januar 1967 bis 30. April 1990 höheres Altersruhegeld zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin gegen den Beschluß des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 15. August 1994 zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Sie hat auch nach der im Widerspruchsverfahren vorgenommenen Verschiebung des Versicherungsfalles des Alters nach § 48 Abs. 6 RKG (= § 25 Abs. 6 AVG, § 1248 Abs. 6 RVO) auf den 30. April 1990 keinen Anspruch darauf, daß die Beklagte die Zeit vom 14. Januar 1967 bis 30. April 1990 als Ersatzzeit beim Knappschaftsruhegeld rentensteigernd berücksichtigt.
Der Anspruch der Klägerin richtet sich noch nach „altem Recht”, also dem RKG. Nach der Übergangsvorschrift des § 300 Abs. 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) ist das SGB VI nicht anzuwenden, wenn der Anspruch bis zum 31. März 1992 geltend gemacht wurde und der Leistungsbeginn vor dem 1. Januar 1992 liegt. Die Klägerin hatte den Antrag auf Knappschaftsruhegeld am 19. Juni 1990 gestellt; ihre Rente beginnt am 5. Mai 1990.
Rechtsgrundlage für die begehrte Anrechnung von Ersatzzeiten ist § 51 Abs. 1 Nr. 3 RKG (= § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO, § 28 Abs. 1 Nr. 3 AVG). Danach sind Ersatzzeiten auch Zeiten, in denen der Versicherte während oder nach Beendigung des Krieges, ohne Kriegsteilnehmer zu sein, durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr aus dem Ausland oder aus den unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten verhindert gewesen oder dort festgehalten worden ist. Zwischen den Beteiligten ist auf der Grundlage der Heimkehrerbescheinigung unstreitig, daß die Klägerin bis zu ihrem Eintreffen im Bundesgebiet am 5. Mai 1990 durch „feindliche Maßnahmen” im Ausland festgehalten wurde (vgl. BSG vom 8. April 1987, SozR 2200 § 1251 Nr. 126). Die Beklagte hat deshalb auch die Zeit bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres (13. Januar 1967) als Ersatzzeit rentensteigernd berücksichtigt. Im Anschluß an die ständige Rechtsprechung des BSG (BSG vom 28. Februar 1978, BSGE 46, 54 = SozR 2200 § 1251 Nr. 45; BSG vom 28. Juni 1979, SozR 2200 § 1251 Nr. 65; BSG vom 21. Juni 1983, SozR 2200 § 1251 Nr. 102; BSG vom 8. April 1987, aaO) stand der Anrechnung dieser Zeiten auch nicht der Bezug einer Altersrente in der UdSSR entgegen.
Auch wenn in § 51 Abs. 1 Nr. 3 RKG für die Anrechnung jener Ersatzzeiten keine Altersgrenzen aufgeführt sind, ergibt sich aus Sinn und Zweck der Ersatzzeitregelung, daß solche Zeiten nach Erreichen der Regelaltersgrenze von 65 Jahren in der Regel nicht mehr angerechnet werden können. Der Senat schließt sich der entsprechenden Auffassung des 5. Senats des BSG (Urteil vom 12. April 1995 – 5 RJ 56/94) an.
Ersatzzeiten sind Zeiten ohne Beitragsieistung, in denen wegen außergewöhnlicher (meist kriegs- oder verfolgungsbedingter) Umstände, die im Katalog des § 51 Abs. 1 Nrn 1 bis 6 RKG aufgeführt sind, eine Beitragsentrichtung entweder regelmäßig nicht möglich war oder allgemein nicht erwartet werden konnte. Werden in diesen Zeiträumen keine Beiträge entrichtet, unterstellt der Gesetzgeber, daß allein diese außergewöhnlichen Umstände für die unterbliebene Beitragsentrichtung ursächlich gewesen sind (vgl. mwN BSG vom 30. Mai 1985, SozR 2200 § 1251 Nr. 113). Wenn allerdings während dieser Zeit aus Rechtsgründen keine Beiträge hätten entrichtet werden können, verbietet der Sinn und Zweck der Ersatzzeitregelung, Ersatzzeiten anzurechnen. Das BSG hat deshalb die Anrechnung von Ersatzzeiten vor Vollendung des 16. Lebensjahres abgelehnt, wenn im streitigen Zeitraum (bis 31. Oktober 1922) Versicherungszeiten in der Rentenversicherung erst vom vollendeten 16, Lebensjahr an erworben werden konnten (BSG vom 17. Februar 1970, BSGE 31, 14 = SozR Nr. 43 zu § 1251 RVO).
Aus dem Wesen der Ersatzzeit folgt aber auch, daß Zeiten, die außerhalb einer typischen Versicherungsbiographie liegen, nicht als Ersatzzeiten berücksichtigt werden können. Es ist nicht Sinn und Zweck der Ersatzzeitregelung, einen Ausgleich dort zu gewähren, wo ein Schaden allenfalls denkmöglich, aber äußerst unwahrscheinlich ist. An Anlehnung an die Regelung des § 8 Abs. 2 Versicherungsunterlagenverordnung (VuVO) hat deshalb das BSG mit Urteil vom 14. April 1981 (BSGE 51, 272 = SozR 2200 § 1251 Nr. 83) Zeiten vor Vollendung des 14, Lebensjahres des Versicherten grundsätzlich nicht als Ersatzzeiten anerkannt. Der zweite Eckpunkt der Versicherungsbiographie ist das Erreichen der Altersgrenze für das Regel-Alters- bzw Knappschaftsruhegeld, dh mit Vollendung des 65. Lebensjahres (§ 48 Abs. 5 RKG, § 1248 Abs. 5 RVO, § 25 Abs. 5 AVG). Typischerweise werden jenseits dieser Altersgrenze keine Pflichtbeiträge mehr entrichtet. In § 8 Abs. 3 der VuVO wird deshalb auch die Vermutung aufgestellt, daß eine Beitragszeit mit dem Eintritt des Versicherungsfalles endet.
Die Klägerin hat zwar den Versicherungsfall des Alters nach § 48 Abs. 6 RKG verschoben. Die Verschiebung des Versicherungsfalles war grundsätzlich zulässig, denn der Rentenbescheid war noch nicht bindend (vgl. BSG vom 22. Juni 1978, BSGE 46, 279 = SozR 2200 § 1248 Nr. 25).
Dies kann jedoch nicht zur Anrechnung weiterer Ersatzzeiten, hier konkret 23 weiterer Versicherungsjahre (vom 65. bis zum 88. Lebensjahr) unter Erhöhung der laufenden Rentenbezüge um ca die Hälfte, führen. Denn die Klägerin würde sonst über eine künstlich erweiterte Versicherungsbiographie Rentenanwartschaften erhalten, in deren Genuß inländische Versicherte, denen sie über die Ersatzzeitregelung gleichgestellt werden soll, in der Regel nicht gelangen. So weist der Rentenbestand des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger zum 1. Januar 1991 aus, daß von insgesamt 8.522.528 Beziehern von Altersruhegeld lediglich 19.398, also nur ca 0,2 %, ein Altersruhegeld aufgrund eines hinausgeschobenen Versicherungsfalls bezogen (VDR-Statistik, Bd. 95, S 3, 8); von den 72.790 der im Jahre 1902 geborenen Rentenempfängern bezog keiner ein derartiges Altersruhegeld (aaO S 9). Beim Rentenzugang 1990 waren lediglich 214 der 544.057 erstmaligen Bezieher von Altersruhegeld (0,04 %) älter als 66 Jahre, als sie erstmalig Altersruhegeld aufgrund eines hinausgeschobenen Versicherungsfalls bezogen (VDR-Statistik, Bd. 96, S 230).
Im übrigen bewirkt die Anrechnung von Ersatzzeiten bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres im Regelfalle bereits eine Besserstellung der im Ausland festgehaltenen Volksdeutschen gegenüber Inländern. Denn das durchschnittliche Rentenzugangsalter in der Bundesrepublik liegt wesentlich niedriger (im Jahre 1990 für Frauen bei 61,6 Jahren: VDR-Statistik, Bd. 96, S 78); die Inanspruchnahme des Altersruhegeldes mit Vollendung des 65. Lebensjahres ist nicht mehr die Regel. Dem tragen § 8 Abs. 1 der Berufsschadensausgleichsverordnung bei der Berechnung des Einkommensverlustes von Kriegsopfern ebenso Rechnung wie die einschränkenden Regelungen des SGB VI, auf die noch einzugehen ist.
Keinesfalls kann die von der Klägerin begehrte zusätzliche Anrechnung von Ersatzzeiten damit begründet werden, daß damit eine Entschädigung für die in der UdSSR erlittenen Nachteile bewirkt werde und deshalb eine Besserstellung gegenüber inländischen Versicherten nicht vorliege. Eine solche „Kompensation” ist allein der Lastenausgleichs- und Entschädigungsgesetzgebung vorbehalten. Die Sozialgerichtsbarkeit ist nicht befugt, insoweit die Rolle des Gesetzgebers zu übernehmen.
Der Senat kann offenlassen, ob die Anrechnung von Ersatzzeiten über das 65. Lebensjahr hinaus im Ausnahmefall möglich ist – etwa wenn bei Erreichen dieser Altersgrenze die Wartezeit noch nicht erfüllt war oder extrem niedrige Rentenanwartschaften bestanden. In solchen Fällen könnte uU angenommen werden, daß ohne den Ersatzzeittatbestand auch nach Vollendung des 65, Lebensjahres Beiträge zur Rentenversicherung geleistet worden wären (Kasseler Komm-Niesel § 1251 RVO RdNr. 4). Im vorliegenden Fall sind solche besonderen Umstände nach den Feststellungen des LSG sowie angesichts einer praktisch durchgehenden Beitragsentrichtung in der UdSSR und des Bezugs der dortigen Altersrente ab 21. August 1965 jedoch nicht ersichtlich. Sie wurden von der Klägerin auch nicht vorgetragen.
Der Auffassung des Senats steht auch die neuere Rechtsentwicklung nicht entgegen. Der Gesetzgeber ist vielmehr in § 250 Abs. 2 Nr. 2 SGB VI einen Schritt weitergegangen und hat ausdrücklich bestimmt, daß Ersatzzeiten neben dem Bezug einer Altersrente wegen Vollendung des 65. Lebensjahres außerhalb der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr entstehen können. Hieraus kann jedoch nicht geschlossen werden, daß im Falle der Klägerin nach altem Recht noch eine großzügige Lösung möglich wäre. Denn die gegen die Fortführung der Erwerbstätigkeit nach Vollendung des 65. sprechende Indizwirkung des Altersrentenbezugs bestand bereits nach der Rechtslage vor dem Inkrafttreten des SGB VI.
Abschließend sei darauf hingewiesen, daß Art. 1 Nr. 10 Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz (Rü-ErgG) vom 24. Juni 1993 (BGBl I, 1038) mit Wirkung ab 1. Juli 1993 eine weitere Einschränkung gebracht hat. Nunmehr führt unabhängig vom Lebensalter jeglicher Bezug einer Altersrente zum Ausschluß von Ersatzzeiten. Durch die Anfügung der Nr. 3 in § 250 Abs. 2 SGB VI wurde zudem normiert, daß zwischen der Beschäftigungslosigkeit und ua dem Ersatzzeittatbestand des Abs. 1 Nr. 5 ein innerer Zusammenhang bestehen müsse. Die bisherige Unterstellung der Kausalität wurde also aufgehoben. Der Gesetzgeber hat damit die oben zitierte Rechtsprechung des BSG korrigiert, die jedenfalls bis zur Vollendung des 65, Lebensjahres die Anrechnung von Ersatzzeiten trotz des Bezugs einer Altersrente im Ausland zugelassen hatte. Nach den Gesetzesmaterialien habe die Anerkennung von Ersatzzeiten von bis zu zehn Jahren (vom 55. bis zum 65. Lebensjahr) zu einer Besserstellung gegenüber den Versicherten im Bundesgebiet geführt. Zudem verfolgte der Gesetzgeber die Absicht, die Anrechnung von Ersatzzeiten auf das „ursprüngliche Regelungsziel” zurückzuführen, dh Ersatzzeiten sollten nur Zeiten ersetzen, in denen der Versicherte aus nicht in seiner Person liegenden Gründen an der Beitragszahlung gehindert war, weil durch die mit diesen Zeiten verbundenen außergewöhnlichen Umstände eine Beitragszahlung nicht zu erwarten war (Beschlußempfehlung und Bericht des 11. Ausschusses zu Nr. 8a des Rü-ErgG, BT-Drucks 12/5017 S 48).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen