Entscheidungsstichwort (Thema)
Rentenversicherung. Nachentrichtung. Verfolgter. Antragsfrist. Versäumung. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Leitsatz (amtlich)
Eine Nachentrichtung von Beiträgen nach den §§ 21, 22 WGSVG scheidet aus, wenn ein Verfolgter die Antragsfrist (31.12.1999) versäumt hat und später geltend macht, er habe erst nach Fristablauf in Israel von der Nachentrichtungsregelung erfahren.
Normenkette
WGSVG §§ 21-22; SGB X § 27
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. September 1995 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darum, ob der Kläger zur Nachentrichtung von Beiträgen zur Rentenversicherung berechtigt ist.
Der 1928 in Lodz/Polen geborene Kläger ist Verfolgter. Er gelangte im Jahre 1945 nach Palästina. Seit 1948 ist er israelischer Staatsangehöriger. Er lebt in Israel.
Mit Schreiben vom 10. Dezember 1991 beantragte der Kläger bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) 1. die Feststellung von Versicherungszeiten, 2. die Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen und 3. die Zulassung zur Entrichtung laufender freiwilliger Beiträge. Das Schreiben ging am 11. Dezember 1991 bei der BfA ein, die es zuständigkeitshalber an die beklagte Landesversicherungsanstalt weiterleitete. Diese lehnte die Anträge mit getrennten Bescheiden vom 24. November 1992 ab. Die vom Kläger geltend gemachten Zeiten im Ghetto Lodz kämen nicht als Beitragszeiten, sondern nur als Ersatzzeiten in Betracht. Der Antrag auf Zulassung zur Nachentrichtung scheitere daran, daß die Antragsfrist (31. Dezember 1990) versäumt und eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht möglich sei. Für eine laufende freiwillige Versicherung fehle der erforderliche Vorbeitrag. Der Kläger hat in einem Schreiben gegen alle drei Bescheide Widerspruch erhoben, den die Beklagte durch einheitlichen Widerspruchsbescheid vom 25. Februar 1993 zurückgewiesen hat.
Der Kläger hat beim Sozialgericht (SG) Klage erhoben. Das SG hat das Verfahren zur Nachentrichtung abgetrennt und insofern die Klage mit Urteil vom 27. Juli 1994 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung mit Urteil vom 29. September 1995 zurückgewiesen. Die Beklagte habe die Nachentrichtung nach den §§ 21, 22 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) mit Recht abgelehnt, weil die Antragsfrist nicht gewahrt sei. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Nachsichtgewährung und ein Herstellungsanspruch schieden aus.
Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers. Er rügt die Verletzung der §§ 21, 22 WGSVG. Bei einem Inkrafttreten dieser Vorschriften am 1. Januar 1990 sei die Frist zur Antragstellung (31. Dezember 1990) zu kurz gewesen. Jedenfalls bei Verfolgten wie ihm, die Arbeitseinsätze im Ghetto Lodz als Beitragszeiten geltend machen könnten, hiervon und von der Nachentrichtungsregelung aber erstmals im November 1991 in Israel durch eine Vereinigung der ehemaligen Einwohner von Lodz informiert worden seien, müsse die Nachentrichtung noch zugelassen werden.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG vom 29. September 1995 und das Urteil des SG vom 27. Juli 1994 aufzuheben sowie die Beklagte unter Aufhebung des Nachentrichtungsbescheides vom 24. November 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Februar 1993 zu verpflichten, die Nachentrichtung von Beiträgen nach den §§ 21, 22 WGSVG zuzulassen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben zutreffend entschieden, daß der angefochtene Bescheid rechtmäßig ist. Der Kläger ist nicht zur Nachentrichtung von Beiträgen nach § 21 oder § 22 WGSVG berechtigt.
Diese Vorschriften sind durch Art. 21 Nr. 5 des Rentenreformgesetzes 1992 (RRG 1992) vom 18. Dezember 1989 (BGBl I 2261) eingeführt worden und nach Art. 85 Abs. 5 RRG 1992 am 1. Januar 1990 in Kraft getreten. Ihren Inhalt, ihre Entstehungsgeschichte und ihren Anwendungsbereich hat der Senat in Urteilen vom 5. Mai 1994 näher dargelegt (vgl BSGE 74, 165 = SozR 3-5070 § 22 Nr. 1; SozR 3-5070 § 22 Nr. 2), insbesondere für Verfolgte in Israel. Ob der Kläger zu einem Personenkreis gehört, der nach einer der beiden Vorschriften (§§ 21, 22 WGSVG) nachentrichtungsberechtigt war, kann offenbleiben. Denn der Kläger ist schon deswegen nicht nachentrichtungsberechtigt, weil er die Antragsfrist versäumt hat.
Gemäß Abs. 4 Satz 1 des § 21 WGSVG konnte der Nachentrichtungsantrag nach Abs. 1 dieser Vorschrift nur bis zum 31. Dezember 1990 gestellt werden. Ebenso bestimmte Abs. 4 Satz 1 des § 22 WGSVG, daß Nachentrichtungsanträge nach Abs. 1 dieser Vorschrift nur bis zum 31. Dezember 1990 gestellt werden konnten. Die Frist ist versäumt. Der Kläger hat den Nachentrichtungsantrag erst im Dezember 1991 gestellt.
Die Beklagte hat dem Kläger im Ergebnis zutreffend eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 des Sozialgesetzbuches – Verwaltungsverfahren (SGB X) versagt. Der Senat hat mit Urteil vom 25. Oktober 1988 (BSGE 64, 153 = SozR 1300 § 27 Nr. 4) allerdings entschieden, daß eine Wiedereinsetzung grundsätzlich auch bei Versäumung einer Frist des materiellen Sozialrechts zulässig ist. Unzulässig ist die Wiedereinsetzung allerdings, wenn die Fristregelung dieses ausdrücklich bestimmt oder ihre Auslegung dieses ergibt (vgl § 27 Abs. 5 SGB X). Ob dem § 21 Abs. 4 Satz 1 und dem § 22 Abs. 4 Satz 1 WGSVG, wie die Beklagte meint, ein gänzlicher Ausschluß der Wiedereinsetzung zu entnehmen ist, obwohl dieses (anders als etwa in dem ebenfalls durch das RRG 1992 eingeführten § 197 Abs. 4 des Sozialgesetzbuches – Gesetzliche Rentenversicherung ≪SGB VI ≫) hier nicht ausdrücklich bestimmt ist, kann offenbleiben. Denn jedenfalls war der Kläger nicht iS des § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB X ohne Verschulden gehindert, die Frist einzuhalten. Die von ihm für die Fristversäumnis angegebenen Gründe, er habe erst im November 1991 von einer möglichen Berücksichtigung der Arbeitseinsätze im Ghetto Lodz als Versicherungszeiten und von der Nachentrichtungsregelung erfahren, reichen dazu nicht aus. Das ergibt sich aus dem Grundsatz der formellen Publizität bei der Verkündung von Gesetzen, mit dem sich der Senat im Urteil vom 21. Juni 1990 befaßt hat (BSGE 67, 90 = SozR 3-1200 § 13 Nr. 1). Nach diesem Grundsatz gelten Gesetze mit ihrer Verkündung im Bundesgesetzblatt allen Normadressaten als bekannt, ohne Rücksicht darauf, ob und wann sie von ihnen tatsächlich Kenntnis erlangt haben. Nach dem weiteren Urteil des Senats vom 9. Februar 1993 (BSGE 72, 80, 83 = SozR 3-1300 § 27 Nr. 3 S 5/6) ist dieser Grundsatz auch für die Beantwortung der Frage bedeutsam, welche Gründe eine etwa zulässige Wiedereinsetzung rechtfertigen können und ob dazu auch die Unkenntnis von dem Recht und der Befristung seiner Ausübung geeignet ist (dort für eine Befreiung von der Versicherungspflicht in der Krankenversicherung). Dieses ist, wie in der letztgenannten Entscheidung ausgeführt, jedenfalls bei einer Unkenntnis von Rechten, deren Ausübung im Gesetz selbst ausdrücklich und datumsmäßig befristet ist, nicht der Fall (vgl zu anderen Sachverhalten in der Krankenversicherung BSGE 64, 153 = SozR 1300 § 27 Nr. 4; BSG SozR 3-2200 § 176b Nr. 1). Das gilt auch hier. Der Sinn und Zweck der Fristenregelungen in § 21 Abs. 4 Satz 1 und in § 22 Abs. 4 Satz 1 WGSVG, die Ausübung des Nachentrichtungsrechts zu begrenzen, würde verfehlt, wenn die von der Revision geltend gemachte Rechtsunkenntnis als unverschuldet im Sinne der Wiedereinsetzungsregelung angesehen würde. Dies würde der zeitlichen Befristung für Nachentrichtungsanträge bei einer Vielzahl möglicher Antragsteller die beabsichtigte Wirkung nehmen. Da die hier vorgetragene Rechtsunkenntnis demnach eine Wiedereinsetzung nicht begründen kann, scheidet auch eine Nachsichtgewährung aus, falls für sie bei einer grundsätzlichen Anwendung der Wiedereinsetzung auch auf Fristen des materiellen Sozialrechts überhaupt noch Raum sein sollte (vgl BSG SozR 5750 Art. 2 § 51 a Nr. 55).
Ein Herstellungsanspruch kommt, wie das LSG zutreffend entschieden hat, ebenfalls nicht in Betracht. Eine Verletzung der Beratungspflicht durch einen Versicherungsträger (§ 14 des Sozialgesetzbuches – Allgemeiner Teil ≪SGB I≫) ist in der Zeit vor dem Fristablauf nicht ersichtlich. Der Kläger hat sich erst 1991 an einen deutschen Versicherungsträger gewandt. Bei unterlassener oder ungenügender Aufklärung der Bevölkerung, insbesondere über ein befristetes Recht zur Beitragsnachentrichtung, hat der einzelne, der die Frist versäumt hat, gegen den Versicherungsträger (§ 13 SGB I) nach dem genannten Urteil vom 21. Juni 1990 (BSGE 67, 90 = SozR 3-1200 § 13 Nr. 1) keinen Herstellungsanspruch, es sei denn, daß die Fristversäumung auf unrichtigen oder mißverständlichen Informationen des Versicherungsträgers über die Nachentrichtung beruht. Dieses ist indes vom LSG nicht festgestellt und auch von der Revision nicht geltend gemacht worden.
Das Vorbringen der Revision, die Frist des § 21 Abs. 4 Satz 1 und des § 22 Abs. 4 Satz 1 WGSVG (ein Jahr nach Inkrafttreten) sei zu kurz gewesen, verhilft dem Begehren des Klägers ebenfalls nicht zum Erfolg. Ob die Nachentrichtungsregelungen überhaupt geschaffen wurden und welche Antragsfrist bestimmt wurde, unterlag der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Er hat hier ausdrücklich nur eine Jahresfrist vorgesehen, obwohl ihm, wie die Gesetzesbegründung ergibt (vgl BSGE 74, 165, 168, 169 = SozR 3-5070 § 22 Nr. 1 S 5, 6), bekannt war, daß sich die Betroffenen häufig im Ausland aufhielten. Die Gerichte sind nicht befugt, die gesetzliche Frist zu verlängern, und können sie außer bei Verfassungswidrigkeit nicht beanstanden. Eine Unvereinbarkeit der Frist mit dem Grundgesetz kommt jedoch nicht in Betracht.
Schließlich verhilft auch die neue, durch Art. 1 des Zusatzabkommens vom 12. Februar 1995 (BGBl 1996 II 299) zum Abkommen vom 17. Dezember 1973 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel über Soziale Sicherheit eingeführte Nachentrichtungsregelung in Nr. 11 des Schlußprotokolls der Revision nicht zum Erfolg. Abgesehen davon, daß ihr Inkrafttreten bisher nicht im Bundesgesetzblatt bekannt gemacht worden ist, setzt dieses Nachentrichtungsrecht nach Nr. 11 Buchst a Satz 1 des Schlußprotokolls ua voraus, daß der Nachentrichtungswillige bis zu dem Zeitpunkt, in dem der nationalsozialistische Einflußbereich sich auf sein Heimatgebiet erstreckte, das 16. Lebensjahr bereits vollendet hatte. Dieses traf, wie die Revision einräumt, auf den aus Lodz/Polen stammenden Kläger, der erst 1944 16 Jahre alt wurde, nicht zu.
Die Revision erwies sich hiernach als unbegründet und war zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen
Haufe-Index 1049446 |
Breith. 1997, 142 |
SozSi 1997, 120 |