Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Belastungsgrenze bei den Zuzahlungen seit 1.1.2004. keine Aufhebung der Befreiungsbescheide nach altem Recht ab 1.1.2004. Verfassungsmäßigkeit
Orientierungssatz
1. Befreiungsbescheide nach §§ 61, 62 SGB 5 aF bedurften ab 1.1.2004 keiner Aufhebung durch den Leistungsträger (vgl BSG vom 22.4.2008 - B 1 KR 10/07 R).
2. Die gesetzlichen Neuregelungen im Bereich der Zuzahlungen, die zum 1.1.2004 durch das GMG in das SGB 5 eingeführt wurden, sind verfassungsgemäß. Sie verstoßen insbesondere nicht gegen das Sozialstaatsprinzip, gegen Grundrechte und gegen das Rückwirkungsverbot des GG.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1, 3; GMG; SGB 5 §§ 61, 62 Abs. 1 S. 1 Fassung: 2003-11-14, S. 2 Fassung: 2003-11-14; SGB 10 § 48 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die vollständige Befreiung von Zuzahlungen.
Der 1967 geborene, schwerbehinderte Kläger war im Jahr 2003 von Zuzahlungen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) vollständig befreit und hatte darüber von der beklagten Ersatzkasse eine entsprechende Bescheinigung erhalten. Mit Schreiben vom 15.12.2003 teilte sie ihm mit, dass er infolge des ab 1.1.2004 geltenden Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GMG) künftig Zuzahlungen bis zur Belastungsgrenze selbst aufbringen müsse. Mit Bescheid vom 19.3.2004 legte die Beklagte die Belastungsgrenze des Klägers für 2004 unter Anwendung der Belastungsgrenze für chronisch Kranke (= 1 vH der jährlichen Bruttoeinnahmen) auf 74,66 Euro fest. Seinen auf verfassungsrechtliche Einwendungen gegen die Neuregelungen gestützten Widerspruch wies sie zurück (Widerspruchsbescheid vom 30.6.2004).
Das Sozialgericht hat die dagegen erhobene Klage abgewiesen (Urteil vom 17.3.2005). Die Berufung des Klägers ist beim Landessozialgericht (LSG) ohne Erfolg geblieben: Die Beklagte habe bei ihm als chronisch Krankem die Zuzahlungen zutreffend auf 74,66 Euro festgelegt, was zur Zuzahlungsbefreiung vom 1.7. bis 31.12.2004 führe. Die vor dem 1.1.2004 erteilte Bescheinigung über vollständige Befreiung von Zuzahlungen habe sich durch das GMG erledigt, ohne dass es einer förmlichen Aufhebung bedurft habe. Die Neuregelungen verstießen nicht gegen das Sozialstaatsprinzip. Dass der Gesetzgeber mit dem GMG die Eigenverantwortlichkeit der Versicherten habe weiterentwickeln wollen, sei angesichts des die Grenze des Zumutbaren nicht überschreitenden Ausmaßes der Eigenbeteiligung hinzunehmen. Auch gegen Vertrauensschutzgesichtspunkte sei nicht verstoßen worden. Einer Übergangsregelung habe es wegen des dem Gesetzgeber zustehenden weiten Gestaltungsspielraums nicht bedurft (Beschluss vom 30.5.2007).
Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung des Rechtsstaatsprinzips (unverhältnismäßige unechte Rückwirkung) sowie des Sozialstaatsgebots (Gefährdung einer ordnungsgemäßen medizinischen Versorgung einkommensschwächerer Versicherter). Er habe nicht damit rechnen müssen, dass er Zuzahlungen auch für bereits bei Verkündung der Gesetzesänderung bestehende Krankheiten zu leisten habe. Er werde de facto aus finanziellen Gründen von notwendigen Arztbesuchen abgehalten, was wegen Krankheitsverschleppung letztlich sogar zu Kostensteigerungen führe; die Neuregelungen seien daher ungeeignet, Kostensenkungen herbeizuführen. Der Gesetzgeber habe es zudem ermöglichen müssen, dass Versicherte Rücklagen für künftige Behandlungsmaßnahmen bilden könnten.
Der Kläger beantragt,
den Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 30. Mai 2007 und das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 17. März 2005 sowie die Bescheide der Beklagten vom 15. Dezember 2003 und 19. März 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Juni 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihn auch über den 31. Dezember 2003 hinaus vollständig von Zuzahlungen in der gesetzlichen Krankenversicherung zu befreien.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält den angefochtenen LSG-Beschluss für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet.
Das LSG hat zutreffend entschieden, dass er keinen Anspruch gegen die beklagte Ersatzkasse hat, über den 31.12.2003 hinaus vollständig von Zuzahlungen in der GKV befreit zu werden. Dem steht § 62 SGB V in der ab 1.1.2004 geltenden Fassung entgegen (dazu 1.). Diese Regelung ist im Falle des Klägers zutreffend angewandt worden (dazu 2.) und verstößt nicht gegen höherrangiges Recht (dazu 3.).
1. Nach § 62 Abs 1 Satz 1 SGB V in der ab 1.1.2004 geltenden Fassung des Gesetzes zur Modernisierung der GKV vom 14.11.2003 (Art 1 Nr 40 GKV-Modernisierungsgesetz ≪GMG≫, BGBl I 2190) haben Versicherte während jeden Kalenderjahres Zuzahlungen iS von § 61 SGB V bis zu einer Belastungsgrenze zu leisten; wird diese Belastungsgrenze bereits innerhalb eines Kalenderjahres erreicht, hat die Krankenkasse eine Bescheinigung darüber zu erteilen, dass für den Rest des Kalenderjahres keine Zuzahlungen mehr zu leisten sind. Die Belastungsgrenze beträgt 2 vH der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt; für chronisch Kranke, die wegen derselben schwerwiegenden Krankheit in Dauerbehandlung sind, beträgt sie 1 vH dieser jährlichen Bruttoeinnahmen (§ 62 Abs 1 Satz 2 SGB V).
Die dargestellten Regelungen lösten die bis 31.12.2003 geltenden Zuzahlungsregelungen ab, aufgrund derer der Kläger zuletzt vollständig von der Zuzahlungspflicht befreit war: Seit 1.1.1989 sah § 61 SGB V (idF des Gesundheits-Reformgesetzes vom 20.12.1988, BGBl I 2477) in bestimmten Fällen eine solche vollständige Befreiung vor, während § 62 SGB V aF eine teilweise Befreiung regelte, die abhängig von der Höhe der Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt und von der Eigenschaft als chronisch Kranker war. Nachdem zu Gunsten chronisch Erkrankter zunächst eine Belastungsgrenze in Höhe von 1 vH der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt ab dem zweiten Jahr der Behandlung gegolten hatte, wenn im ersten Jahr Zuzahlungen bis zur 2-vH-Grenze geleistet worden waren (Art 1 Nr 1 1. GKV-Neuordnungsgesetz vom 23.6.1997, BGBl I 1518) , wurden chronisch Kranke ab 1.1.1999 vollständig von Zuzahlungen während der weiteren Dauer der Behandlung befreit, wenn sie zuvor ein Jahr lang Zuzahlungen in Höhe von 1 vH der jährlichen Einnahmen aufgebracht hatten (Art 1 Nr 9 Buchst a GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz vom 19.12.1998, BGBl I 3853) .
Die sodann zum 1.1.2004 in Kraft getretenen, nunmehr im Falle des Klägers streitigen Zuzahlungsregelungen führten dazu, dass bis dahin von Zuzahlungen gänzlich ausgenommene Versicherte der GKV ebenfalls zur Zuzahlung verpflichtet wurden; als Bezugsrahmen für die 1-vH- bzw 2-vH-Belastungsgrenze wurden dabei allerdings die Bruttoeinnahmen zum Teil begrenzt (vgl § 62 Abs 2 Satz 4 und 5 SGB V). Die Neufassung des § 62 SGB V beschränkte die Anwendung der reduzierten 1-vH-Belastungsgrenze auf "schwerwiegende" chronische Erkrankungen und führte einen besonderen Nachweis für eine Dauerbehandlung ein. Zum 6.8.2004 ( Art 4 Nr 1 Kommunales Optionsgesetz vom 30.7.2004, BGBl I 2014) und zum 1.4.2007 (Art 1 Nr 37 GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz vom 26.3.2007, BGBl I 378) sind die Regelungen in § 62 SGB V weiter geändert bzw in Bezug auf andere Personengruppen ergänzt worden.
2. Die seit 1.1.2004 geltenden gesetzlichen Vorgaben sind im Falle des Klägers umgesetzt worden, ohne dass dies einer revisionsrechtlichen Beanstandung unterliegt.
a) Hat der Versicherte Zuzahlungen über die maßgebliche gesetzlich festgelegte Belastungsgrenze hinaus geleistet, weil die Krankenkasse die Grenze nicht rechtzeitig oder in einer zu großen Höhe bescheinigt hat, sind Zuzahlungen über die Belastungsgrenze hinaus zu erstatten. Bei der Berechnung der Belastungsgrenze für Zuzahlungen sind die Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt des laufenden Kalenderjahres zugrunde zu legen (vgl BSG SozR 4-2500 § 62 Nr 1 Leitsatz und RdNr 10) . Der hierauf gerichtete Anspruch ist prozessual grundsätzlich im Wege einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage durchzusetzen (vgl BSG SozR 3-2500 § 61 Nr 7 S 32; BSG SozR 4-2500 § 62 Nr 2 RdNr 8) . Dem steht nicht entgegen, dass sich der Kläger hier auf eine Anfechtungsklage beschränkt hat; denn die Beteiligten haben in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat einen Vergleich geschlossen, kraft dessen sich die Beklagte verpflichtet hat, dem Kläger für den Fall einer zu hoch festgesetzten Belastungsgrenze im hier betroffenen Jahr 2004 den sich dann ergebenden Differenzbetrag zu erstatten.
b) Der Kläger hat gegen die rechnerische und sachliche Richtigkeit der von der Beklagten vorgenommenen Festsetzung der Belastungsgrenze für das Jahr 2004, die nach den Feststellungen des LSG insoweit zutreffend ist, keine Revisionsrügen erhoben. Damit steht fest (vgl § 163 SGG), dass er als chronisch Kranker Zuzahlungen bis zur Höhe von 1 vH seiner jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt leisten musste, nämlich in Höhe von 74,66 Euro, und dass er erst vom 1.7.2004 bis 31.12.2004 von Zuzahlungen befreit war.
c) Der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide über die Zuzahlungspflicht des Klägers im Jahre 2004 steht nicht entgegen, dass ihm die Beklagte für das Jahr 2003 einen Bescheid über die vollständige Befreiung von Zuzahlungen erteilt hatte. Die Beklagte war nicht verpflichtet, den nach altem Recht ergangenen Befreiungsbescheid mit Wirkung zum 1.1.2004 aufzuheben. Denn, wie der Senat in seinem Urteil vom 22.4.2008 - B 1 KR 10/07 R (zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen) näher ausgeführt hat, gingen Befreiungsbescheide nach dem bis 31.12.2003 geltenden Recht mit Inkrafttreten des gänzlich neuen Regelungskonzepts des GMG am 1.1.2004 ins Leere, weil sie mit diesem Zeitpunkt ohne Weiteres gegenstandslos wurden. Der Kläger ist nicht dadurch beschwert, dass die Beklagte ihn noch im Jahr 2003 auf die ab 1.1.2004 geltenden gesetzlichen Neuregelungen hingewiesen hat. Zu Recht hat die Beklagte ausgeführt, dass der Kläger aus dem ihm erteilten Befreiungsausweis ab 1.1.2004 keine Rechte mehr herleiten kann.
3. Die gesetzlichen Neuregelungen im Bereich der Zuzahlungen, die zum 1.1.2004 durch das GMG in das SGB V eingeführt wurden, sind auch verfassungsgemäß. Sie verstoßen insbesondere nicht zu Lasten des Klägers gegen das Sozialstaatsprinzip, gegen seine Grundrechte und gegen das Rückwirkungsverbot des Grundgesetzes (GG).
a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und des Bundessozialgerichts (BSG) sind Zuzahlungsregelungen in der GKV grundsätzlich verfassungsgemäß, ohne dass das Sozialstaatsgebot oder die Grundrechte entgegenstehen (vgl zB statt vieler: BVerfGE 115, 25, 46 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5 RdNr 27;BSGE 92, 46 RdNr 28 ff = SozR 4-2500 § 61 Nr 1 RdNr 29 ff ≪zu § 61 SGB V aF≫ mwN; BSGSozR 4-2500 § 62 Nr 1 und Nr 2; zuletzt BSG, Urteile vom19.9.2007 - B 1 KR 1/07 R, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen, und vom 22.4.2008 - B 1 KR 10/07 R, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen, mwN). Denn die gesetzlichen Krankenkassen sind weder nach dem SGB V noch von Verfassungs wegen gehalten, alles zu leisten, was an Mitteln zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit verfügbar ist (BVerfGE 115, 25, 46 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5 RdNr 27; BVerfG, Beschluss der Zweiten Kammer des 1. Senats, NJW 1997, 3085; BSGE 96, 153 = SozR 4-2500 § 27 Nr 7, jeweils RdNr 28 f mwN; zuletzt BSG, Urteil vom 28.2.2008 - B 1 KR 16/07 R, RdNr 46 - Lorenzos Öl, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). Der Leistungskatalog der GKV darf vielmehr auch von finanzwirtschaftlichen Erwägungen mitbestimmt sein (vgl BVerfGE 68, 193, 218 = SozR 5495 Art 5 Nr 1; BVerfGE 70, 1, 26, 30 = SozR 2200 § 376d Nr 1). Gerade im Gesundheitswesen hat der Kostenaspekt für gesetzgeberische Entscheidungen erhebliches Gewicht (vgl BVerfGE 103, 172, 184 = SozR 3-5520 § 25 Nr 4) . Dem Gesetzgeber ist es im Rahmen seines Gestaltungsspielraums grundsätzlich erlaubt, den Versicherten über den Beitrag hinaus zur Entlastung der Krankenkassen und zur Stärkung des Kostenbewusstseins in der Form von Zuzahlungen zu bestimmten Leistungen zu beteiligen, jedenfalls, soweit dies dem Einzelnen finanziell zugemutet werden kann (BVerfGE 115, 25, 46 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5 RdNr 27; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats, NJW 1994, 3007; BVerfGE 70, 1, 26, 30 = SozR 2200 § 376d Nr 1).
Diesen Anforderungen genügt auch die ab 1.1.2004 geltende Regelung. Sie widerspricht insbesondere weder dem allgemeinen Gleichheitssatz (dazu b) noch unterschreitet sie das verfassungsrechtlich gewährleistete Existenzminimum (dazu c) oder verletzt verfassungsrechtlich geschütztes Vertrauen (dazu d).
b) Die gesetzliche Einbeziehung auch der Versicherten in die Zuzahlungsregelung, bei denen die monatlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt 40 vH der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 SGB IV nicht überschreiten - so der Kläger mit einem täglichen Anspruch auf Krankengeld (Krg) von 20,74 Euro -, beruht auf sachlichen Gründen, ohne dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG zu widersprechen (zu dessen Anforderungen vgl allgemeinBVerfGE 112, 50, 67 = SozR 4-3800 § 1 Nr 7 RdNr 55 mwN; BVerfGE 117, 316, 325 = SozR 4-2500 § 27a Nr 3 RdNr 31; BSG SozR 4-2500 § 27a Nr 4RdNr 9 mwN; vgl auch BSG, Urteil vom 28.2.2008 - B 1 KR 16/07 R -, zur Veröffentlichung vorgesehen).
Der Gesetzgeber hatte bei Schaffung des GMG die Absicht, eine von ihm befürchtete Finanzierungslücke in der GKV durch ein Bündel von Maßnahmen zu schließen, um ein hohes Versorgungsniveau bei angemessenen Beitragssätzen auch in Zukunft zu gewährleisten. Dies sollte ua durch eine zukunftssichere beitragssatzwirksame Neuordnung der Finanzierung geschehen, ausgewogene Sparbeiträge aller Beteiligten im Gesundheitswesen umfassen und neben der Übertragung bestimmter Leistungen in die Eigenverantwortung der Versicherten auch die Neugestaltung der Zuzahlungs- und Befreiungsregelungen des SGB V unter Aspekten der sozialen Gerechtigkeit einschließen. Versicherte sollten eine angemessene Beteiligung an ihren Krankheitskosten tragen, andererseits aber durch Überforderungsregelungen vor unzumutbaren finanziellen Belastungen geschützt werden (so: Gesetzentwurf der Fraktionen SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen zum Entwurf des GMG, BT-Drucks 15/1525 S 1, 71 unter 2, 76 f, 95 zu Nr 40 ≪§ 62≫) ; zugleich wurden Bonusregelungen für Versicherte neu eingeführt, die an präventiven oder an besonderen Versorgungsformen teilnehmen (§ 65a SGB V). Dass der Gesetzgeber ab 1.1.2004 mithin allen, auch den zuvor von Zuzahlungen befreiten Versicherten zumutete, nunmehr in begrenztem Umfang Zuzahlungen zu leisten, ist vor dem dargestellten Hintergrund beanstandungsfrei. Mit seiner Regelungskonzeption wollte der Gesetzgeber nämlich nicht allein eine spürbare Entlastung der GKV, sondern eine Steuerungswirkung erreichen, um strukturellen Mängeln entgegenzuwirken, die zunehmend zu einer Fehlleitung von Mitteln führten. Er war der Überzeugung, dass die durch den bisherigen Ausgabenanstieg entstandene Finanzierungslücke nicht einfach nur durch eine weitere Steigerung der Beitragssätze finanziert werden könne, die zwangsläufig zu höheren Arbeitskosten und zu einer steigenden Arbeitslosigkeit führe. Zentrale medizinische Leistungen zu rationieren, lehnte der Gesetzgeber strikt ab. Er zog es stattdessen vor, durch strukturelle Reformen Effektivität und Qualität der medizinischen Versorgung zu verbessern und gleichzeitig alle Beteiligten maßvoll in Sparmaßnahmen einzubeziehen. Auf diese Weise sollten durch Effizienzsteigerung Beitragssatzsenkungen ermöglicht und weiterhin eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung für alle Versicherten der GKV gewährleistet werden (vgl BT-Drucks 15/1525, S 71).
Aus dem Vorbringen des Klägers, die zum 1.1.2004 in Kraft getretenen Neuregelungen entbehrten einer sachlichen Rechtfertigung, weil Versicherte dadurch aus Kostengründen von notwendigen Behandlungsmaßnahmen abgehalten würden, was wegen Krankheitsverschleppung letztlich sogar Kostensteigerungen bewirke, lässt sich zu seinen Gunsten nichts herleiten. Für die Frage, ob ein bestimmtes Mittel zur Verfolgung eines gesetzlichen Zwecks geeignet ist, kommt es nicht maßgeblich auf die Einschätzung eines davon Betroffenen an. Es genügt vielmehr schon die Möglichkeit, den gesetzlichen Zweck zu erreichen, wobei der Gesetzgeber einen Einschätzungs- und Prognosevorrang hat; denn es ist vornehmlich seine Sache, unter Beachtung der Sachgesetzlichkeiten des betreffenden Sachgebiets zu entscheiden, welche Maßnahmen er im Interesse des Gemeinwohls ergreifen will ( vgl BVerfGE 103, 293, 307;BVerfGE 115, 25, 46 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5 RdNr 26;BSG, Urteil vom 14.2.2007 - B 1 A 3/06 R, SozR 4-2400 § 35a Nr 1 RdNr 29 mwN, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen ). Wie der Senat aber bereits entschieden hat, können Zuzahlungen und Eigenbeteiligungen durchaus die Funktion wahrnehmen, das Verhalten der Versicherten beim Zugriff auf die Leistungen der GKV - unabhängig von ihren individuellen Verhältnissen - zu steuern und einen Anreiz zu deren sparsamer Inanspruchnahme zu bieten ( soBSGE 92, 46 RdNr 31 = SozR 4-2500 § 61 Nr 1 RdNr 32 unter Hinweis aufden Regierungsentwurf zum GRG, BT-Drucks 11/2237 S 149 unter b), bestätigt durch Nichtannahme-Beschluss des BVerfG ≪1. Senat 3. Kammer≫ vom 12.9.2007 - 1 BvR 1098/04; BSG SozR 3-2500 § 61 Nr 6 S 29; siehe auch Schlegel in juris PK-SGB V, 2008, § 1 RdNr 79 ). Im Übrigen wäre die gesetzliche Regelung nach der Rechtsprechung des Senats verfassungsrechtlich nur zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber die maßgeblichen Pflichten zur Ermittlung des Sachverhalts im Tatsächlichen entweder überhaupt außer Acht gelassen oder ihnen offensichtlich nicht genügt hätte. Das ist bei den streitigen Neuregelungen nicht der Fall gewesen . Nur gesetzliche Regelungen, die darauf abzielen, sich bei der Ausgestaltung der sozialrechtlichen Sicherung der Existenz der verfassungsrechtlichen Untergrenze des physischen Existenzminimums zu nähern, müssen auf - vom Gericht überprüfbar - sorgfältigen Tatsachenermittlungen und vertretbaren Einschätzungen beruhen ( vgl näher Senat, Urteil vom 22.4.2008 - B 1 KR 10/07 R, unter II. 7. g, mwN).
c) Der Kläger macht im Revisionsverfahren selbst nicht geltend, dass unter Berücksichtigung der Absicherung seines Lebensunterhalts sein verfassungsrechtlich gesichertes Existenzminimum durch die Zuzahlungslast von 74,66 Euro jährlich unterschritten war. Im Jahr 2004 bezog er nach dem Inhalt der vom LSG in Bezug genommenen, bei der Berechnung der Höhe der Belastungsgrenze von ihm zugrunde gelegten Verwaltungsakten Krg in Höhe von kalendertäglich 20,74 Euro, mithin insgesamt 7.466,40 Euro; zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass er in vollem Umfang zu Leistungen der GKV berechtigt war, ohne hierfür mit Beiträgen belastet zu sein. Der Senat hat eine Unterschreitung des Existenzminimums aber selbst für einen Bezieher von 6.757,66 Euro Arbeitslosenhilfe im Jahr 2004 abgelehnt (vgl im Einzelnen BSG, Urteil vom 22.4.2008 - B 1 KR 10/07 R unter II. 3.).
d) Die Änderung der Zuzahlungsregelungen des SGB V durch das GMG verletzt schließlich ebenfalls nicht verfassungsrechtlich geschütztes Vertrauen des Klägers.
Die mit der Gesetzesänderung zum 1.1.2004 verbundene, lediglich unechte Rückwirkung oder tatbestandliche Rückanknüpfung wäre nur dann unzulässig, wenn damit zugleich ein entwertender Eingriff vorgenommen worden wäre, mit dem der Betroffene nicht zu rechnen brauchte, den er also bei seinen Dispositionen nicht berücksichtigen konnte (BVerfGE 69, 272, 309 = SozR 2200 § 165 Nr 81 mwN; BSGE 69, 76, 79 f = SozR 3-2500 § 59 Nr 1 S 4 mwN; BSGSozR 4-2500 § 58 Nr 1 RdNr 21mwN; zuletzt BSG, Urteil vom 19.9.2007 - B 1 KR 9/07 R, RdNr 20 mwN) . Ein solches schützenswertes Vertrauen in die dauerhafte Aufrechterhaltung der Zuzahlungsregelungen in der von 1999 bis Ende 2003 geltenden Fassung konnte bei dem Kläger nicht entstehen. Dies folgt aus dem dargestellten weiten gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum sowie der seit Inkrafttreten des SGB V zum 1.1.1989 ohnehin wiederholt geänderten Zuzahlungsregelungen einerseits und der nur begrenzten, die individuelle Leistungsfähigkeit des Betroffenen berücksichtigenden Höhe der auf den Kläger ab 1.1.2004 zukommenden Belastungen andererseits. Weder hat der Gesetzgeber damit den Krankenversicherungsschutz insgesamt entwertet, noch wurde der Kläger damit angesichts des dargestellten Gesamtregelungskonzepts des GMG für die Zukunft vor finanziell erkennbar nicht mehr zu bewältigende Belastungen bei der Erlangung angemessenen Krankenversicherungsschutzes gestellt. Der Gesetzgeber musste daher auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit Übergangsregelungen vorsehen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2000660 |
DStR 2008, 2376 |