Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Prozessvertretung einer Berufsgenossenschaft. Nachweis der Prozessvollmacht des Bevollmächtigten. gesetzliche Unfallversicherung. Beitragsnachforderung. Aufhebung der früheren Beitragsfestsetzung. hinreichende Bestimmtheit
Leitsatz (amtlich)
1. Für den Nachweis der Prozessvollmacht gelten für Bevollmächtigte eines beklagten Trägers keine anderen Grundsätze als für die Prozessvertreter anderer Beteiligter (vgl § 73 Abs 2 SGG).
2. § 168 Abs 2 SGB 7 ermächtigt den zuständigen Träger dazu, frühere Beitragsfestsetzungen aufzuheben. Die Aufhebung kann auf verschiedene Weise erfolgen, muss aber hinreichend bestimmt erklärt werden, um die wirksame und bindende Beitragserstfestsetzung zu beseitigen.
Orientierungssatz
Maßgebliche Gesetzesfassung der Ermächtigungsgrundlage ist bei Anfechtungsklagen, die sich gegen Verwaltungsakte ohne Dauerwirkung richten, die zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Verwaltungsakte geltende Fassung (vgl BSG vom 11.3.1987 - 10 Rar 5/85 = BSGE 61, 203).
Normenkette
SGG § 73 Abs. 4, 2 Fassung: 2006-12-02, Abs. 6 S. 1 Fassung: 2007-12-12; SGB 7 § 168 Abs. 2 Nr. 2 Fassung: 1996-08-07; SGB 10 § 33
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist, ob die Beklagte von der Klägerin Beiträge für die Jahre 2001 sowie 2003 bis 2005 nachfordern darf.
Die Klägerin betreibt ein Unternehmen der Maschinenreinigung. Sie wurde mit Bescheid der Rechtsvorgängerin der Beklagten vom 7.6.1983 in das Unternehmensverzeichnis aufgenommen, das Unternehmen wurde zuletzt durch Bescheid vom 19.12.2000 nach dem Gefahrtarif der Beklagten veranlagt. Die Beklagte setzte die Beiträge für 2001, 2003 bis 2005 fest.
Die Beklagte prüfte im November 2006 das Unternehmen der Klägerin. Im Prüfbericht vom 15.11.2006 betreffend den Zeitraum von 2001 bis 2005 vermerkte der Prüfer, dass ua die Entgelte eines Objektleiters in den Jahren 2001, 2003 bis 2005 der falschen Tarifstelle zugeordnet gewesen seien. Mit Bescheid vom 30.11.2006 forderte die Beklagte von der Klägerin deshalb Beiträge für das Jahr 2001 in Höhe von weiteren 1.339,58 Euro nach, mit gesonderten Bescheiden vom 30.11.2006 setzte sie für 2003 weitere 1.677,18 Euro, für 2004 weitere 1.424,74 Euro und für 2005 weitere 2.033,11 Euro fest. In keinem der Beitragsbescheide wurden die früheren Beitragsfestsetzungen erwähnt.
Das Sozialgericht (SG) Karlsruhe hat auf die von der Klägerin nach erfolglosen Widersprüchen (Widerspruchsbescheid vom 7.2.2007) erhobenen Klagen mit Urteil vom 20.2.2008 die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Es könne offen bleiben, ob der Lohnnachweis der Klägerin unrichtig gewesen sei. Denn jedenfalls seien die Bescheide der Beklagten formell rechtswidrig, weil sie das ihr durch § 168 Abs 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt habe. Auch habe sie es unterlassen, in den angefochtenen Bescheiden die zuvor für die Beitragsjahre 2001, 2003 bis 2005 erlassenen Beitragsbescheide aufzuheben.
Die Beklagte hat Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. § 168 Abs 2 SGB VII sei keine Ermessensvorschrift. Hilfsweise habe sie durch die Bezugnahme auf § 76 SGB IV ihr Ermessen ausreichend betätigt. Das LSG hat die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 29.9.2008 zurückgewiesen. Trotz der unrichtigen Angaben im Lohnnachweis seien die Bescheide der Beklagten aufzuheben, da diese ihr Ermessen nicht ausgeübt habe. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat die Revision eingelegt. Sie rügt die Verletzung von § 168 Abs 2 SGB VII. Die Klägerin habe in den Jahren 2001, 2003 bis 2005 unrichtige Angaben gemacht. Die Voraussetzungen nach § 168 Abs 2 Nr 2 SGB VII seien gegeben. Die Bescheide seien nicht deshalb rechtswidrig, da § 168 Abs 2 SGB VII keine Ermessensvorschrift sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 29. September 2008 und das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 20.2.2008 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie rügt, die Beklagte sei bei Einlegung der Revision nicht ordnungsgemäß vertreten gewesen. Die angefochtenen Beitragsbescheide seien formell und materiell rechtswidrig. Sie stützt sich auf das bisherige Vorbringen.
Die Beteiligten sind zur Frage des Streitwerts gehört worden. Sie haben diesen übereinstimmend mit 6.474,61 Euro angegeben.
Entscheidungsgründe
1. Die Revision der Beklagten ist zulässig.
Sie ist bei der Einlegung der Revision (§ 164 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) insbesondere durch eine postulationsfähige und mit Prozessvollmacht ausgestattete Beschäftigte vertreten worden (§ 73 Abs 4 Satz 4 SGG).
Nach § 73 Abs 4 Satz 1 SGG müssen sich - außer im Prozesskostenhilfeverfahren - alle Beteiligten vor dem Bundessozialgericht (BSG), durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Die Prozessvollmacht ist schriftlich zu erteilen und bis zur Verkündung der Entscheidung zu den Akten einzureichen (§ 73 Abs 2 Satz 1 SGG) . Das Vorhandensein der Vollmacht und die daran geknüpfte Zulässigkeit des Rechtsbehelfs sind im sozialgerichtlichen Verfahren grundsätzlich von Amts wegen zu prüfen (vgl Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 17.4.1984 - SozR 1500 § 73 Nr 4; BSG Urteil vom 15.8.1991 - 12 RK 39/90 - SozR 3-1500 § 73 Nr 2 mwN). Vor der Verwerfung eines Rechtsbehelfs wegen fehlender Vollmacht bedarf es allerdings der Fristsetzung des Gerichts mit der Aufforderung, die Prozessvollmacht vorzulegen, sowie des Hinweises auf die Möglichkeit, dass ohne Nachweis der Vollmacht der Rechtsbehelf als unzulässig verworfen werden kann (BSG Urteil vom 15.8.1991 - 12 RK 39/90 - SozR 3-1500 § 73 Nr 2 mwN).
Vorliegend hat die zum Richteramt befähigte und damit postulationsfähige (§ 73 Abs 4 Satz 4 SGG) Beschäftigte der Beklagten F. die Revision eingelegt. Die Beklagte hat für diese Mitarbeiterin am 9.12.2008 eine Prozessvollmacht vorgelegt ("erneuert"). Für den Nachweis der Prozessvollmacht gelten für die Bevollmächtigten der Beklagten keine anderen Grundsätze wie für die Prozessvertreter anderer Beteiligter (vgl § 73 Abs 2 SGG). Der Senat hegt keine Zweifel daran, dass die Mitarbeiterin bereits innerhalb der Revisionseinlegungsfrist bevollmächtigt gewesen ist (dazu BSG Beschluss vom 11.3.1985 - 7 RAr 117/84 - SozR 1500 § 166 Nr 12) .
2. Die Revision der Beklagten ist unbegründet.
Das angefochtene Urteil des LSG hat die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen und die Aufhebung der angefochtenen Bescheide durch das SG bestätigt. Die jeweils mit der Anfechtungsklage angegriffenen Beitragsbescheide der Beklagten sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Denn die Beklagte hat ihre Beitragsforderungen für die Jahre 2001, 2003 bis 2005 neu festgestellt, ohne zuvor ihre früheren Beitragsbescheide aufzuheben. Diese sind daher bindend geblieben, sodass die Neufeststellungen rechtswidrig waren.
Ermächtigungsgrundlage für die Aufhebung der bindenden Beitragsbescheide für die Jahre 2001 und 2003 bis 2005 ist § 168 Abs 2 SGB VII in der ab 1.1.1997 geltenden Fassung des Art 1 des Gesetzes zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch vom 7.8.1996 (BGBl I 1254) , die bis zum 4.11.2008 in Kraft gewesen ist. Die Vorschrift ist mit Wirkung zum 5.11.2008 in ihrer Rechtsfolge neu gefasst worden ("ist" aufzuheben; vgl Art 1 Nr 22a Buchst a Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung vom 30.10.2008; BGBl I 2130 ). Maßgeblich ist aber auch insoweit die zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Verwaltungsakte geltende Gesetzesfassung, weil sich die isolierten Anfechtungsklagen gegen Verwaltungsakte ohne Dauerwirkung richten und in einem solchen Fall der Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Verwaltungsakts maßgeblich ist (vgl BSG Urteil vom 11.3.1987 - 10 RAr 5/85 - BSGE 61, 203, 205) . Nach § 168 Abs 2 Nr 2 SGB VII aF darf ein Beitragsbescheid mit Wirkung für die Vergangenheit zuungunsten der Beitragspflichtigen nur dann aufgehoben werden, wenn der Lohnnachweis unrichtige Angaben enthält oder sich die Schätzung als unrichtig erweist.
Die Vorschrift ist aufgrund der Voraussetzungen "zuungunsten der Beitragspflichtigen" und "Aufheben des Beitragsbescheids" nur anwendbar, wenn (1.) eine Beitragsfestsetzung nach § 168 Abs 1 SGB VII für das jeweilige Umlagejahr bereits ergangen ist und (2.) der Beitrag darin zu Gunsten des Beitragspflichtigen der Höhe nach rechtswidrig zu niedrig festgesetzt worden ist (ähnlich BSG Urteil vom 04.03.2004 - B 3 KR 15/03 R - juris RdNr 10) . Der aufzuhebende Beitragsbescheid muss, damit die Aufhebung eines Verwaltungsakts zuungunsten des Beitragspflichtigen überhaupt möglich ist, einen den Beitragspflichtigen begünstigenden Verwaltungsakt verlautbart haben. Dieser besteht darin, dass die Zahlungspflicht der Höhe nach auf den festgestellten Betrag begrenzt und damit festgestellt ist, dass der Beitragsschuldner nicht mehr als diesen Betrag zahlen muss. Die begünstigende Entscheidung steht seit ihrem Erlass nicht mehr zur Disposition der Verwaltung. Der zuständige Träger ist an seine begünstigende Höchstbetragsregelung in der Beitragserstfestsetzung gebunden (vgl auch BSG Urteil vom 2.12.1992 - 6 RKa 33/90 - BSGE 71, 274, 277) . Das bedeutet, dass zwischen ihm und dem Beitragsschuldner kraft des Verwaltungsakts feststeht, dass er nicht mehr fordern darf.
Die Bindungswirkung der Höchstbetragsregelung besteht nach § 77 SGG nicht, soweit durch Gesetz anderes bestimmt ist, soweit es insbesondere eine Aufhebung des Verwaltungsakts erlaubt. § 168 Abs 2 SGB VII befugt zur Aufhebung von wirksamen und bindenden Höchstbetragsregelungen in Beitragsbescheiden.
§ 168 Abs 2 SGB VII ermächtigt den zuständigen Träger dazu, wirksame Beitragsfestsetzungen, soweit sie einen Höchstbetrag rechtswidrig zu niedrig feststellen, aufzuheben. Die Aufhebung der Höchstbetragsregelung kann auf verschiedene Weise erklärt werden (vgl BSG Urteil vom 22.9.2009 - B 2 U 2/08 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen) . Der zuständige Träger kann entweder - wie in § 168 Abs 2 SGB VII gesagt - den früheren Beitragsbescheid insgesamt aufheben und den gesamten Beitrag für ein Umlagejahr neu festsetzen oder er kann sich darauf beschränken, die Beitragshöchstfestsetzung aufzuheben. Verfährt der Träger nach der zweiten Alternative, ist und bleibt die Pflicht zur Zahlung des festgestellten Beitrags verbindlich geregelt. Er hat nur noch festzustellen, bis zu welcher neuen Höhe der Beitragspflichtige weitere Beiträge zu zahlen hat.
Die Aufhebung muss hinreichend bestimmt erklärt werden (§ 33 Abs 1 SGB X). Der Träger muss sagen, ob und in welchem Umfang er den ersten Beitragsbescheid aufhebt. Erst mit der gestaltenden Entscheidung über das Ob und Wie der Aufhebung steht fest, welcher der ergangenen Bescheide den Umfang der Beitragspflicht mit welchem Inhalt regelt. Ohne eine Aufhebung oder Teilaufhebung bleibt dagegen die Beitragserstfestsetzung wirksam und bindend. Wurde hingegen die Festsetzung einer Beitragsnachforderung ohne vorherige Aufhebung der bisherigen Beitragshöchstfestsetzung erlassen, könnten mehrere einander widersprechende Verwaltungsakte über der Beitragszahlungspflicht vorliegen, die eine rechtssichere Feststellung der Beitragsschuld und ggf deren Beitreibung nicht zulassen.
Die Beklagte hat in den angefochtenen Bescheiden vom 30.11.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7.2.2007 keine Aufhebung ihrer Beitragserstfestsetzungen für die fraglichen Jahre verfügt. Es fehlt an einer Regelung über die Aufhebung der Beitragserstbescheide. Die Beklagte hat in den vier angefochtenen Bescheiden vielmehr gleichlautend geregelt: "Die Beitragsberechnung für das Jahr … (Umlagejahr) hat sich geändert … Die Differenz zur bisherigen Berechnung wird am … fällig und beträgt ...". Die Klägerin müsse für die jeweiligen Umlagejahre Beiträge in bestimmter Höhe zahlen. Wie sich diese Beitragsforderung zu den Beitragserstfestsetzungen für dieselben Umlagezeiträume verhält, hat sie nicht bestimmt. Da weder die Beitragserstfestsetzungen insgesamt noch die Bestimmung der Beitragshöchstgrenze beseitigt worden sind, ist der Erlass neuer Verwaltungsakte zur Regelung von Beiträgen für die entsprechenden Umlagejahre rechtswidrig. Sie verstoßen gegen die Bindungswirkung der ersten Beitragserstfestsetzungen und verletzen dadurch die Klägerin in ihren Rechten.
Auf die Rechtsfrage, ob § 168 Abs 2 Nr 2 SGB VII aF die Ausübung pflichtgemäßen Ermessens durch die Beklagte erfordert, kommt es in diesem Rechtsstreit nicht an.
Da sich die mit der Revision angegriffene Entscheidung des LSG im Ergebnis als zutreffend erweist, ist die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Halbsatz 3 SGG iVm einer entsprechenden Anwendung der §§ 154 ff Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Danach trägt die Beklagte die Kosten der von ihr erfolglos geführten Revision (§ 154 Abs 2 VwGO).
4. Die Festsetzung des Streitwerts hat ihre Grundlage in § 197a Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 52 Abs 1, § 47 Abs 1 und 2 Gerichtskostengesetz (GKG).
Liegt einem Rechtsstreit das Begehren nach Erhalt eines höheren Geldbetrages oder nach Minderung einer finanziellen Belastung zugrunde, so ist der Streitwert gemäß § 52 Abs 1 GKG nach dem verfolgten wirtschaftlichen Interesse zu bemessen. Zu diesem Zweck ist eine betragsmäßige Berechnung vorzunehmen. Das wirtschaftliche Interesse der mit dem Rechtsstreit verfolgten Anfechtung einer Beitragsnachforderung entspricht dem Betrag der in den angefochtenen Bescheiden geforderten Beiträge, das sind 6.474,61 €. Auf diesen Betrag hat der Senat den Streitwert festgesetzt.
Fundstellen