Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 10. Dezember 1991 aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 12. April 1991 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in sämtlichen Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger wehrt sich gegen die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) und gegen den Entzug des Merkzeichens „B”.
Mit Bescheid vom 15. Mai 1987 stellte der Beklagte den GdB ua wegen einer Sehbehinderung mit 100 fest, außerdem die gesetzlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen „G”, „B” und „RF”. Dieser Entscheidung lag ein augenfachärztliches Gutachten zugrunde, wonach die erhebliche Sehbehinderung mit einem Einzel-GdB von 90 zu bewerten war. Nachdem ihm ein anderes augenfachärztliches Gutachten bekanntgeworden war, das die Sehschärfe auf dem rechten Auge – bei Blindheit links – wesentlich höher einschätzte, nahm der Beklagte nach Anhörung des Klägers den Bescheid mit Wirkung für die Zukunft teilweise zurück, verneinte die gesetzlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen „B” und „RF” und setzte den GdB auf 90 herab (Bescheide vom 3. Juni 1988; Widerspruchsbescheid vom 15. September 1989). Das Augenleiden sei falsch beurteilt worden. Zu Unrecht seien deshalb die gesetzlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen „B” und „RF” angenommen worden. Der unzutreffende Einzel-GdB von 90 allein für die Sehbehinderung habe sich in einem zu hohen Gesamt-GdB ausgewirkt.
Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen, nachdem der Beklagte sich verpflichtet hatte, das Merkmal „RF” wieder zuzuerkennen (Urteil vom 12. April 1991). Diese Entscheidung und die angegriffenen Bescheide des Beklagten – einschließlich des am 2. Juli 1991 ergangenen Ausführungsbescheides zum Merkmal „RF” – hat das Landessozialgericht (LSG) aufgehoben (Urteil vom 10. Dezember 1991). Der Bescheid vom 15. Mai 1987 sei zwar von Beginn an teilweise rechtswidrig gewesen und habe vom Beklagten insoweit zurückgenommen werden dürfen. Auf die vom Kläger geltend gemachte Verschlimmerung seines Gesundheitszustandes im Jahre 1991 komme es nicht an. Abzustellen sei auf die Sach- und Rechtslage zur Zeit des angegriffenen Rücknahmebescheides vom 3. Juni 1988. Auch ergebe sich aus der Interessenabwägung nach § 45 Abs 2 Satz 2 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) kein Rücknahmeverbot. Der Beklagte habe aber über die Rücknahme entgegen § 45 Abs 1 SGB X keine Ermessensentscheidung getroffen.
Der Beklagte hat – die vom LSG wegen Abweichung von BSG SozR 1300 § 45 Nrn 24 und 46 zugelassene – Revision eingelegt. Für die Ausübung von Ermessen verbleibe nach der in § 45 Abs 2 SGB X vorgeschriebenen Interessenabwägung im Regelfall kein Raum. Ein solcher Regelfall liegt hier vor. Bei einer Ermessensentscheidung zu berücksichtigende Tatsachen seien weder aus den Akten ersichtlich noch von dem Kläger vorgetragen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Berlin vom 10. Dezember 1991 aufzuheben.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten ist begründet.
Das LSG hat zwar zutreffend die Rechtswidrigkeit des begünstigenden Bescheides vom 15. Mai 1987 festgestellt und ein Rücknahmeverbot wegen Vertrauensschutzes nach § 45 Abs 2 Satz 1 SGB X verneint. Zu Unrecht hat es aber die angegriffenen Rücknahmebescheide wegen fehlender Ermessensentscheidung aufgehoben. Die vermißte Ermessensentscheidung konnte der Beklagte nicht treffen, weil es keine Gesichtspunkte gibt, die für das Ermessen Bedeutung haben könnten.
Nach der Rechtsprechung des Senats fehlt es im Regelfall auf den Gebieten des Versorgungsrechts (BSGE 60, 147, 150 = SozR 1300 § 45 Nr 24) und des Schwerbehindertenrechts (SozR 1300 § 45 Nr 46) an Gestaltungsspielraum für eine Ermessensentscheidung. Ob tatsächlich Ermessen ausgeübt werden kann, ist im wesentlichen das Ergebnis der Würdigung aller Umstände des Einzelfalles. Verbleiben im Anschluß an die durch § 45 Abs 2 Satz 1 SGB X gebotene Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Rücknahme mit dem Interesse des Begünstigten am Bescheid des Verwaltungsakts keine Gesichtspunkte, die für das Ermessen Bedeutung haben könnten, so ist es auf null reduziert. Eine Ermessensentscheidung entfällt dann, wenn es an Tatsachen für eine Abwägung im Rahmen des Ermessens fehlt (BSGE 67, 232, 234 = SozR 3-4100 § 155 Nr 2).
Hier konnte keine Ermessensentscheidung getroffen werden. Das LSG nennt als einzigen dabei zu würdigenden Gesichtspunkt den des Verschuldens der Verwaltung am Zustandekommen des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts: Bei genauerer Kontrolle hätte dem Beklagten möglicherweise auffallen können, daß im zunächst zugrundegelegten Gutachten die Sehbehinderung überbewertet worden war. Dieser Gesichtspunkt der Verantwortungszuweisung geht indes bereits in die – gerichtlich voll überprüfbare – Interessenabwägung nach § 45 Abs 2 Satz 1 SGB X ein (BSG SozR 1300 § 45 Nr 46). Selbst wenn der Beklagte für die Fehlentscheidung verantwortlich sein sollte, spräche dies nicht dafür, ein etwaiges Vertrauen in die Richtigkeit des Verwaltungsaktes als schutzwürdig anzusehen und ihm die mit einem GdB von 100 und dem Merkzeichen „B” verbundenen Vorteile auch dann für die Zukunft zu belassen, wenn tatsächlich nur ein GdB von 90 besteht und die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „B” fehlen.
Der Kläger hat als Gesichtspunkt für eine Ermessensentscheidung lediglich den Umstand benannt, daß der geänderte Gesamt-GdB nach Klärung des Einzel-GdB für die Sehbehinderung ohne erneute körperliche Untersuchung zur Frage des Gesamt-GdB allein aufgrund der Aktenlage erfolgt sei. Dieser Gesichtspunkt hat für eine Ermessensentscheidung keine Bedeutung. Er weist auch nicht auf eine Verletzung der Aufklärungspflicht hin. Es ist nicht die eigentliche Aufgabe der ärztlichen Sachverständigen, den GdB zu bewerten (vgl Urteil des Senats vom 9. März 1988 – 9/9a RVs 14/86 – SozSich 1988, 381 unter Bezugnahme auf die MdE im Unfallversicherungsrecht BSGE 41, 99, 101 = SozR 2200 § 581 Nr 5; SozR 3870 § 3 Nrn 4, 5 und SozR 3-3870 § 4 Nr 1 sowie Urteil des Senats vom 5. Mai 1993 – 9/9a RVs 2/92 –). Ihre vorrangige Aufgabe ist es, die Gesundheits-und Funktionsstörungen zu beschreiben. Die Auswirkungen dieser Funktionsstörungen in Beruf, Arbeit und Gesellschaft – das ist die Grundlge des GdB -sind durch die Verwaltung und die Gerichte zu bewerten.
Der Beklagte hat dem Kläger auch Gelegenheit gegeben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern, bevor er den Bescheid vom 15. Mai 1987 zurückgenommen hat. § 24 Abs 1 SGB X fordert ua, über den beabsichtigten Verwaltungsakt zu unterrichten. Dazu mag auch der Hinweis gehören, daß es sich bei einer Rücknahme nach § 45 SGB X um eine Ermessensentscheidung handelt. Ein derartiger Hinweis fehlte im Anhörungsschreiben vom 29. März 1988. Dort hatte der Beklagte lediglich mitgeteilt, „der Bescheid vom 15. Mai 1987 ist daher gemäß § 45 SGB X insoweit zurückzunehmen”. Ein etwaiger Verstoß gegen das Anhörungsgebot ist aber geheilt. Den Anforderungen des § 24 Abs 1 SGB X genügt jedenfalls der Rücknahmebescheid vom 3. Juni 1988. Dort ist nicht nur der Text des § 45 SGB X vollständig wiedergegeben, es heißt dort außerdem, „daß die Verwaltung von dem ihr eingeräumten Ermessen, einen Rücknahmebescheid zu erteilen”, nach den vom Kläger in der Anhörung vorgetragenen Gesichtspunkten keinen Gebrauch habe machen können. Damit ist die Anhörung des Klägers im Vorverfahren jedenfalls wirksam nachgeholt worden.
Der danach rechtmäßige Rücknahmebescheid vom 3. Juni 1988 ist auch nicht durch die spätere tatsächliche Entwicklung rechtswidrig geworden. Zu Recht hat das LSG in diesem Zusammenhang nicht geprüft, ob eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes im Frühjahr/Sommer 1991 (stationärer Krankenhausaufenthalt vom 26. Mai bis zum 19. August 1991 wegen Ulkusperforation) dazu geführt hat, daß von da an die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „B” erfüllt sind und der GdB sich auf 100 erhöht hat. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Überprüfung des Herabsetzungsbescheides ist der Erlaß der letzten Verwaltungsentscheidung, hier der 15. September 1989, weil ein Herabsetzungsbescheid mit der Anfechtungsklage anzugreifen ist (vgl BSGE 68, 228, 231 mwN; BSG, Urteil vom 5. Mai 1993 – 9/9a RVs 2/92 –). Ein solcher Herabsetzungsbescheid ist dann rechtmäßig, wenn der ursprüngliche Bescheid zum Zeitpunkt seines Erlasses rechtswidrig war. Insoweit ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des aufgehobenen Bescheides maßgeblich. Spätere Ereignisse, Erkenntnisse aus Beweisaufnahmen, insbesondere eine Änderung der Sach- und Rechtslage im Verlauf des Gerichtsverfahrens beeinflussen die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Rücknahmebescheides nicht. Sie sind im Rahmen der Anfechtungsklage unbeachtlich (BSG, Urteile vom 20. April 1993 – 2 RU 52/92 -und vom 5. Mai 1993 – 9/9a RVs 2/92 –).
Zwar sind für die Prüfung einer Anfechtungsklage ausnahmsweise auch andere Zeitpunkte zugrunde zu legen, so vor allem für Verwaltungsakte mit Dauerwirkung (BSGE 68, 228, 231 mwN; Bley, GesamtKomm zur Reichsversicherungsordnung, Stand: August 1989, § 54 SGG, Anm 7c), bei denen es wegen tatsächlicher Änderungen auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz und wegen Änderungen in der Rechtslage auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Revisionsinstanz ankommen soll (Bley, aaO). Hier kommt eine solche Ausnahme aber nicht in Betracht: Der Rücknahmebescheid vom 3. Juni 1988 ist ein bereits vollzogener Verwaltungsakt ohne Dauerwirkung. Er bezieht sich zwar auf einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, erschöpft sich aber im teilweisen Entzug der vormals bewilligten Leistung, ohne selbst Dauerwirkung zu entfalten (BSGE 7, 8, 13; 8, 11, 13 f; 21, 79, 80; BSG, Urteil vom 20. April 1993 – 2 RU 52/92 –). Da es sich um eine reine Anfechtungsklage handelt, bleiben mithin die Änderungen im Gesundheitszustand aus dem Jahre 1991 unberücksichtigt, weil sie erst nach dem Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung am 15. September 1989 (Widerspruchsbescheid) eingetreten sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen