Entscheidungsstichwort (Thema)
Versicherungsschutz
Leitsatz (amtlich)
Der Versicherungsschutz nach § 539 Abs 2 RVO ist nicht allein nach der unmittelbar zum Unfall führenden einzelnen Verrichtung, sondern nach dem Gesamtbild des ausgeführten und beabsichtigten Vorhabens zu beurteilen.
Normenkette
RVO § 539 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, § 548 Abs. 1 S. 1; SGB X § 102; SG § 30 Abs. 3, 1; BBG § 87a; SGB I § 18
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 13. Juni 1990 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerin verlangt von der Beklagten Erstattung ihrer Aufwendungen, die ihr für den Krankentransport und die ärztliche Behandlung des Beigeladenen nach dessen Unfall am 10. Dezember 1983 entstanden sind.
Der Beigeladene, Feldwebel bei der Bundeswehr, hatte sich am Unfalltag mit seinem Stubenkameraden, dem Stabsunteroffizier und Kraftfahrzeugmechaniker H (H) verabredet, in der Freizeit Arbeiten an ihren Privatfahrzeugen auszuführen und sich dabei gegenseitig zu helfen. Die beiden Fahrzeuge standen in der Bundeswehr-Hobbyhalle in H . H wollte an seinem Pkw die Zündung und Kompression einstellen. Hierzu war es erforderlich, daß der Beigeladene ein Motortestgerät in die Hand nahm und festhielt, während H den Pkw startete. Als dieser bei eingelegtem Gang den Fuß von der Kupplung nahm, machte das Fahrzeug plötzlichen einen Satz nach vorne, stieß gegen den Beigeladenen und verletzte ihn an den Beinen. An Kosten für den Krankentransport sowie für die stationäre und ambulante Behandlung des Beigeladenen wandte die Klägerin insgesamt 28.401,29 DM auf.
Ein zunächst von der Klägerin gegen H und dessen Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung erhobener Zivilrechtsstreit auf Ersatz der dem Beigeladenen während der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit gezahlten Dienstbezüge sowie auf Ersatz der Kosten für die Heilbehandlung blieb ohne Erfolg (rechtskräftiges Urteil des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 10. September 1987 - 7 U 231/86 -), weil H das Haftungsprivileg des § 636 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zugute komme und weder vorsätzlich noch grob fahrlässig gehandelt habe. Freiwillige Helfer bei einer Kraftfahrzeugreparatur stünden zum Fahrzeughalter in einem arbeitnehmerähnlichen Verhältnis und seien nach §§ 539 Abs 2, 539 Abs 1 Nr 1 RVO unfallversichert.
Nachdem die Beklagte sich geweigert hatte, der Klägerin die aufgewandten Kosten zu erstatten, hat die Klägerin vor dem Sozialgericht (SG) Klage auf Ersatz der ihr für den Krankentransport und die Heilbehandlung entstandenen Kosten in Höhe von 28.401,29 DM nebst 7 % Zinsen erhoben.
Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 9. März 1989). Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG geändert, die Beklagte zur Erstattung der Kosten in der geforderten Höhe verurteilt und hinsichtlich des geltend gemachten Zinsanspruchs die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 13. Juni 1990). Das LSG ist zu der Auffassung gelangt, der Beigeladene habe einen Arbeitsunfall iS des § 548 RVO erlitten. Das Handeln des Beigeladenen sei eine ernstliche, dem Unternehmen des H dienende und seinem fachkundigen Willen unterworfene Tätigkeit gewesen, die ihrer Art nach auch von Personen verrichtet werden könne, die in einem Arbeitsverhältnis stünden. Die Handlung des Beigeladenen sei auch nicht von verwandtschaftlichen oder familiären Beziehungen geprägt; normale freundschaftliche oder kameradschaftliche Beziehungen begründeten nicht den Verdacht, daß der Versicherungsschutz nach § 539 Abs 2 RVO mißbraucht werde.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts (§ 539 Abs 2 RVO). Sie ist der Auffassung, daß im Gegensatz zur Entscheidung des Senats vom 27. März 1990 (- 2 RU 32/89 - HV-Info 1990, 1176) zu einer ähnlichen Fallkonstellation im vorliegenden Fall von einer nur geringfügigen Tätigkeit auszugehen sei. Denn der helfende Beitrag des Beigeladenen habe im bloßen Festhalten eines Motortestgeräts bestanden. Weitere Mitwirkungshandlungen des Beigeladenen seien nach den Feststellungen des LSG nicht vorgesehen gewesen. Der Umfang der Mithilfe des Beigeladenen sei geringer zu bewerten als etwa das nach der Rechtsprechung dem Unfallversicherungsschutz unterliegende Anschieben eines Pkw oder das Herausziehen eines im Sand steckengebliebenen Wagens.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 13. Juni 1990 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 9. März 1989 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Beigeladene hat keinen Antrag gestellt und sich auch nicht zur Sache geäußert.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
II
Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Aufgrund der bisher vom LSG im angefochtenen Urteil getroffenen Feststellungen läßt sich nicht bestimmen, ob der Beigeladene am 12. Dezember 1983 einen von der Beklagten zu entschädigenden Arbeitsunfall iS des § 548 Abs 1 RVO erlitten hat.
Nach dem vom LSG für die Begründung des Versicherungsschutzes festgestellten Sachverhalt vermag der Senat dessen Auffassung nicht beizutreten, daß der Beigeladene allein durch das Halten des Meßgeräts eine nach § 539 Abs 2 RVO versicherte Tätigkeit ausgeübt hatte und sein dabei erlittener Unfall deshalb ein entschädigungspflichtiger Arbeitsunfall ist.
Zutreffend geht das LSG zunächst davon aus, daß das Klagebegehren in den speziellen Erstattungsvorschriften der §§ 102 ff Sozialgesetzbuch - Zehntes Buch - (SGB X) keine Stütze findet. Die Klägerin hat nicht als Leistungsträger Sozialleistungen iS dieser Vorschriften erbracht. Zu den Leistungsträgern gehören nur die in den §§ 18 bis 29 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) genannten Körperschaften, Anstalten und Behörden (§ 12 SGB I). Die Klägerin hat jedoch als Dienstherrin des Beigeladenen nach dem Soldatengesetz (SG) Heilfürsorge und Geldleistungen gewährt.
Entgegen der Ansicht des LSG scheidet als Anspruchsgrundlage aber auch § 30 Abs 3 SG iVm § 87a Bundesbeamtengesetz (BBG) aus. § 87a BBG regelt nur den Übergang gesetzlicher Schadensersatzansprüche. Um einen solchen Schadensersatzanspruch handelt es sich aber bei dem von der Klägerin geforderten Ersatz der Kosten aus Anlaß eines Arbeitsunfalls iS des § 548 Abs 1 Satz 1 RVO gegen die beklagte Berufsgenossenschaft nicht (BSG SozR 2200 § 539 Nr 13; BSGE 49, 227, 229, jeweils mwN).
Das Begehren der Klägerin könnte aber als öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch begründet sein. Dieser im allgemeinen Verwaltungsrecht entwickelte und auch noch nach dem Inkrafttreten der Erstattungsvorschriften der §§ 102 ff SGB X gültige Grundsatz (s BSGE 61, 19, 21) besagt, daß ein nicht verpflichteter Leistungsträger, der anstelle des eigentlich Verpflichteten geleistet hat, von diesem Ersatz seiner Aufwendungen verlangen kann (BSG SozR § 539 Nr 13 mwN). Dieser Anspruch bezweckt also, - iS einer Abwälzung - einen Ausgleich für eine rechtsgrundlose Vermögensverschiebung zwischen zwei Trägern der öffentlichen Verwaltung herbeizuführen (BSGE 39, 137, 138).
Im vorliegenden Fall hatte der Beigeladene einen Anspruch auf umfassende kostenlose Heilfürsorge gegen die Klägerin nach § 30 Abs 1 Satz 1 SG iVm § 69 Abs 2 Bundesbesoldungsgesetz (BBesG). Stünde dem Beigeladenen daneben ein solcher Anspruch auch gegen die Beklagte nach §§ 539 Abs 2, 547 RVO aus Anlaß des während der Hilfeleistung bei der Kfz-Reparatur erlittenen Unfalls zu, wäre der geltend gemachte Anspruch der Klägerin nach dem Rechtsinstitut des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs begründet. Denn nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist bei Vorhandensein solcher gleichartiger Ansprüche auf Heilbehandlung die Risikosphäre dahin aufzuteilen und abzugrenzen, daß der Träger der Wehrbereichsverwaltung, der in seinem Sanitätsbereich einem verletzten Soldaten Heilbehandlung gewährt, die wegen der Folgen eines privaten Unfalls notwendig war, vom zuständigen Unfallversicherungsträger nach Maßgabe des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs grundsätzlich Ersatz seiner Aufwendungen verlangen kann (BSG SozR 2200 § 539 Nr 13). Auf die Begründung dieser Entscheidung, der sich der Senat in vollem Umfang anschließt, wird Bezug genommen.
Für den Erstattungsanspruch der Klägerin kommt es somit darauf an, ob die Beklagte einen Vermögensvorteil erlangt hat, indem sie die Kosten für die stationäre Heilbehandlung des Beigeladenen ersparte (s BSGE 39, 137, 139). Der beklagte Unfallversicherungsträger hätte diese Heilbehandlung gewähren oder die Kosten übernehmen müssen, wenn es sich um einen von ihm zu entschädigenden den Arbeitsunfall gehandelt hätte.
Nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ist Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Nach den vom LSG getroffenen Feststellungen war der Beigeladene zwar nicht aufgrund eines zu H bestehenden Arbeits-, Dienst- oder Lehrverhältnisses nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO gegen Arbeitsunfall versichert. Die Feststellungen des LSG reichen jedoch nicht aus, um zur Frage eines Versicherungsschutzes des Beigeladenen nach § 539 Abs 2 RVO abschließend Stellung nehmen zu können. Nach dieser Vorschrift sind gegen Arbeitsentgelt auch Personen versichert, die wie ein nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO Versicherter - nämlich hier wie ein im Unternehmen des nicht gewerbsmäßigen Kraftfahrzeughalters H (s § 658 Abs 2 Nr 2 RVO) Beschäftigter - tätig werden.
Das LSG ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, daß in dem Handeln des Beigeladenen eine ernstliche, dem Unternehmen des H dienende und seinem Willen entsprechende Tätigkeit zu sehen ist. Diese Tätigkeit kann ihrer Art nach auch von Personen verrichtet werden, die in einem Arbeitsverhältnis stehen. Die Hilfestellung durch den Beigeladenen wurde auch unter Umständen geleistet, die einer Tätigkeit aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses ähnlich ist. Insoweit erhebt die Revision auch keine Rügen.
Mit der Revision kann dem LSG indes nicht gefolgt werden, soweit es für die Annahme des Versicherungsschutzes nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO allein auf die unmittelbar zum Unfall führende einzelne Verrichtung, nämlich hier das bloße Halten des Motortestgerätes, abgestellt hat. Diese nur wenige Augenblicke in Anspruch nehmende Tätigkeit vermag, für sich allein betrachtet, keinen Versicherungsschutz nach § 539 Abs 2 RVO zu begründen.
Andererseits ist nach der Rechtsprechung des Senats für den Versicherungsschutz nach § 539 Abs 2 RVO die Tätigkeit des Verletzten nicht allein nach der unmittelbar zum Unfall führenden Verrichtung zu beurteilen, sondern nach dem Gesamtbild des ausgeführten und beabsichtigten Vorhabens (Urteil des Senats vom 27. März 1990 - 2 RU 32/89 - HV-Info 1990, 1176, mwN). Dabei kommt es auf die Zeitdauer der Tätigkeit allein nicht an; vielmehr sind der Zeitdauer lediglich innerhalb des Gesamtbildes vor allem bei Hilfeleistungen unter Verwandten und Tätigkeiten im Rahmen von Mitgliedschaftspflichten die ihr zukommende, nicht aber eine selbständige Bedeutung beizumessen (BSG SozR 2200 § 539 Nr 134). Wie bei allen anderen Zurechnungsentscheidungen sind dementsprechend die gesamten Umstände des Einzelfalls und das sich daraus ergebende Gesamtbild für die Beurteilung des Versicherungsschutzes nach § 539 Abs 2 RVO in Betracht zu ziehen.
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze läßt sich ein Versicherungsschutz des Beigeladenen nicht abschließend beurteilen. Zwar hat das LSG festgestellt, daß sich die Tätigkeit des Beigeladenen gerade nicht auf das bloße Halten des Meßgeräts beschränkte (s insbesondere S 2 des Urteils). Es hat jedoch keine weiteren Feststellungen darüber getroffen, worauf sich die Mithilfe des Beigeladenen bei der von H durchgeführten Reparatur an seinem eigenen Pkw insgesamt erstreckte. Das LSG hat damit nicht das Gesamtbild des ausgeführten und des möglicherweise noch beabsichtigten Vorhabens seiner Beurteilung zugrunde gelegt. Diese Feststellungen wird es nachzuholen haben. Dabei wird es insbesondere auch die Angaben der Klägerin zu berücksichtigen haben, wonach unter Mithilfe des Beigeladenen Zündkerzen und Kontakte gewechselt und danach der Schließwinkel der Kontakte und die Zündung neu eingestellt wurden (s Bl 77 LSG-Akte). Entsprechend den in der Entscheidung des Senats vom 27. März 1990 (SozR aaO) festgelegten Grundsätzen wäre bei einer Mithilfe des Beigeladenen in diesem Umfang seine Tätigkeit im Rahmen des § 539 Abs 2 RVO nicht geringer zu bewerten, als beispielsweise das - unter Versicherungsschutz stehende - Anschieben eines Pkw, dessen Motor nicht anspringt (BSGE 35, 140) oder das Herausziehen eines im Sand steckengebliebenen Wagens (BSG Urteil vom 25. Januar 1973 - 2 RU 159/72 -; s auch die weiteren Nachweise bei Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 475p I).
Auch die privaten Beziehungen zwischen dem Beigeladenen und H würden entgegen der Auffassung der Revision schließlich den Versicherungsschutz nach § 539 Abs 2 RVO nicht ausschließen. Zwar waren beide nach den Feststellungen des LSG befreundete Soldaten und bewohnten in der Kaserne gemeinsam eine Stube. Die dadurch begründeten Beziehungen sind jedoch nicht von einer rechtlichen Qualität, wie sie beispielsweise engen familiären Beziehungen (vgl zB BSG SozR 2200 § 539 Nrn 43, 55, 66, 134) oder mitgliedschaftlichen Verpflichtungen (vgl BSG SozR 2200 § 539 Nr 123) zukommt (s Brackmann aaO S 476e).
Bei seiner erneuten Entscheidung über die Kosten - einschließlich derjenigen des Revisionsverfahrens - wird das LSG § 193 Abs 4 SGG zu berücksichtigen haben. Außerdem wird das LSG eine - bisher unterbliebene - Entscheidung über die Erstattung der Kosten des Beigeladenen nachzuholen haben. Insoweit gilt das Verbot der Schlechterstellung nicht, obwohl nur die Beklagte Revision eingelegt hat (s BSGE 62, 131, 136 mwN).
Fundstellen