Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. künstliche Befruchtung. Altersgrenze für Männer verstößt nicht gegen Verfassungsrecht
Leitsatz (amtlich)
Dass Eheleute seit dem 1.1.2004 nur bis zur Vollendung des 50. Lebensjahres des Mannes Anspruch auf Maßnahmen der künstlichen Befruchtung gegen ihre Krankenkasse haben, widerspricht nicht dem Grundgesetz.
Normenkette
SGB 5 § 27a Abs. 3; GG Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1-2, Art. 20 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Maßnahmen der künstlichen Befruchtung mittels intracytoplasmatischer Spermieninjektion (ICSI).
Der am 28.7.1946 geborene Kläger und die am 21.3.1969 geborene Klägerin sind verheiratet und bei der beklagten Ersatzkasse krankenversichert. Bei der Klägerin liegt Sterilität vor, der Kläger leidet an einer Asthenospermie mit einem Anteil an normal beweglichen Spermien von unter 60 %. Den auf den auf den Behandlungsplan des Gynäkologen Dr. Z. gestützten Antrag der Kläger (22.4.2004), die Kosten für eine künstliche Befruchtung mittels ICSI zu übernehmen, lehnte die Beklagte unter Hinweis auf die seit 1.1.2004 in § 27a Abs 3 SGB V festgelegte Altersgrenze für Männer (Vollendung des 50. Lebensjahres) ab (Bescheid vom 29.10.2004; Widerspruchsbescheid vom 22.3.2005).
Das Sozialgericht Osnabrück (SG) hat die Klage auf Übernahme der Kosten einer künstlichen Befruchtung abgewiesen, da der Kläger die gesetzliche Altersgrenze bereits überschritten habe. Diese Regelung sei aus Gründen der Kosteneinsparung, biologischer Umstände und des Kindeswohls unter Berücksichtigung der Auswirkungen des Alters verfassungsrechtlich gerechtfertigt (Urteil vom 31.1.2006).
Mit ihrer vom SG zugelassenen Sprungrevision rügen die Kläger die Verletzung der Art 3 Abs 1, 6 Abs 1 und 20 Abs 3 GG. Die gesetzliche Altersgrenze für männliche Versicherte sei willkürlich. Es fehlten Erkenntnisse sowohl über abnehmende Erfolgsaussichten einer künstlichen Befruchtung bei zunehmendem Alter des Mannes als auch über einen Zusammenhang zwischen dem Alter der Eltern und dem Wohl des Kindes. Die Grenzziehung sei nicht erforderlich, um die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu sichern.
Die Kläger beantragen,
das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 31. Januar 2006 sowie den Bescheid der Beklagten vom 29. Oktober 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. März 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihnen Leistungen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft mittels künstlicher Befruchtung zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt,
die Sprungrevision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Sprungrevision ist unbegründet. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen. Den Klägern steht kein Anspruch auf Gewährung von Leistungen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft aus § 27a SGB V (in der ab 1.1.2004 geltenden Fassung des GKV-Modernisierungsgesetzes - GMG vom 14.11.2003, BGBl I 2190) gegen die beklagte Ersatzkasse zu. Dessen Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Der am 28.7.1946 geborene Kläger hat die in § 27a Abs 3 SGB V festgelegte Altersgrenze für Männer bereits überschritten, denn er hat sein 50. Lebensjahr vollendet. Die Regelung verstößt nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 GG; dazu 1.) und ist auch sonst verfassungsgemäß (dazu 2.).
1. Der allgemeine Gleichheitssatz gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Damit ist dem Gesetzgeber allerdings nicht jede Differenzierung verwehrt. Er verletzt das Grundrecht nur, wenn er eine Gruppe von Normadressaten anders als eine andere behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und von solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen (BVerfGE 112, 50, 67 = SozR 4-3800 § 1 Nr 7 RdNr 55 mwN; zuletzt Bundesverfassungsgericht - BVerfG -, Urteil vom 28.2.2007 - 1 BvL 5/03 - S 15, NJW 2007, 1343 f; stRspr).
Die Altersgrenze für Männer in § 27a SGB V verletzt diese Anforderungen nicht. Sie begründet zwar eine Ungleichbehandlung: Die Überschreitung der Grenze schließt gesetzlich krankenversicherte Eheleute von der Gewährung einer medizinischen Maßnahme nach § 27a SGB V aus, auch wenn im Übrigen die Voraussetzungen gegeben sind. Die Eheleute werden dadurch im Verhältnis zu Paaren, bei denen der Ehemann noch nicht 50 Jahre alt ist, benachteiligt. Sie müssen, wenn sie die gewünschte künstliche Befruchtung vornehmen lassen wollen, deren gesamten Kosten selbst tragen.
Diese unterschiedliche Behandlung ist jedoch sachlich gerechtfertigt. Das Gewicht der Ungleichbehandlung ist beschränkt. § 27a SGB V regelt keinen Kernbereich der Leistungen der GKV, sondern begründet einen eigenständigen Versicherungsfall, vor dem Maßnahmen der Krankenbehandlung Vorrang haben. Der Anspruch auf Maßnahmen der künstlichen Befruchtung knüpft, wie sich aus Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte der Vorschrift ergibt, nicht an den regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand des versicherten Ehegatten, sondern an die Unfruchtbarkeit des Ehepaares an. Vorausgesetzt wird allein, dass die vorgesehenen Maßnahmen zur Herbeiführung der gewünschten Schwangerschaft erforderlich und nach ärztlicher Einschätzung erfolgversprechend sind. Welche Umstände die Infertilität verursachen und ob ihr eine Krankheit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne zugrunde liegt, ist unerheblich.
Ein Leistungsanspruch besteht auch dann, wenn keiner der Eheleute nachweisbar krank ist und die Unfruchtbarkeit des Paares medizinisch nicht erklärt werden kann (sog idiopathische Sterilität). Denn aus medizinischer Sicht wird auch bei dieser Fallgestaltung eine Indikation zur künstlichen Befruchtung bejaht (vgl Nr 3.2.1 der Richtlinien der Bundesärztekammer zur Durchführung der assistierten Reproduktion, DÄ 1998, A-3166). Nicht die Krankheit, sondern die Unfähigkeit des Paares, auf natürlichem Wege Kinder zu zeugen und die daraus resultierende Notwendigkeit einer künstlichen Befruchtung bildet den Versicherungsfall (vgl BSGE 88, 62, 64 = SozR 3-2500 § 27a Nr 3, stRspr; BVerfG Urteil vom 28.2.2007, NJW 2007, 1343, 1344) . Betroffen ist ein Grenzbereich zwischen Krankheit und solchen körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen eines Menschen, deren Beseitigung oder Besserung durch Leistungen der GKV nicht von vornherein veranlasst ist. Hier hat der Gesetzgeber grundsätzlich die Freiheit, selbst die Voraussetzungen der Gewährung dieser Leistungen der GKV näher zu bestimmen (vgl BVerfGE 115, 25, 45 ff; BVerfG NJW 2007, 1343, 1344) .
Die Sachgründe des Gesetzgebers, hierbei zwecks Ausgabenbegrenzung zum 1.1.2004 eine Altersgrenze für Männer mit der Vollendung des 50. Lebensjahres einzuführen, haben ein hinreichendes, die Grenzziehung rechtfertigendes Gewicht. Der Gesetzgeber hat die Grenzen seines Einschätzungsermessens (vgl dazu auch zB BVerfG SozR 3-2200 § 551 Nr 15) , bei dem ihm eine typisierende Betrachtung erlaubt ist (BVerfG, NJW 2007, 1343, 1344) , nicht überschritten. Jede gesetzliche Regelung muss verallgemeinern (BVerfGE 96, 1, 6; 99, 280, 290; 105, 73, 127 = SozR 3-1100 Art 3 Nr 176 S 185). Bei der Ordnung von Massenerscheinungen ist der Gesetzgeberberechtigt, die Vielzahl der Einzelfälle in dem Gesamtbild zu erfassen, das nach den ihm vorliegenden Erfahrungen die regelungsbedürftigen Sachverhalte zutreffend wiedergibt (BVerfGE 78, 214, 226 f mwN; 82, 126 151 f; 99, 280, 290; 105, 73, 127; vgl auch BVerfGE 96, 1, 6) . Auf dieser Grundlage darf er grundsätzlich generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen treffen, ohne wegen der damit unvermeidlich verbundenen Härten gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu verstoßen (vgl BVerfGE 84, 348, 359 mwN; 99, 280, 290; 105, 73, 127). Auch bei der Ausgestaltung der Ansprüche aus der GKV darf der Gesetzgeber Sachverhalte typisieren oder pauschalieren, ohne dabei für jeden Einzelfall Ausnahmen schaffen zu müssen ( st Rspr zBBVerfGE 77, 308, 338; 80, 109, 118; 87, 234, 255 = SozR 3-4100 § 137 Nr 3 S 30; 99, 280, 290 ). Das gilt auch, wenn der Gesetzgeber die Grenzen von Ansprüchen neu gestaltet ( BVerfG SozR 3-2500 § 48 Nr 7 = NJW 1998, 2731; Schlegel, VSSR 2004, 313, 315, 321 f ), erst recht aber dann, wenn - wie hier - gerade kein Kernbereich der GKV-Leistungen betroffen ist.
Der Gesetzgeber durfte die Ehe einer Frau mit einem zur Zeit der Befruchtung höchstens 50-Jährigen als besonders geeignet ansehen, die mit den erstrebten medizinischen Maßnahmen verbundenen Belastungen und Risiken - etwa bei der hier in Frage stehenden ICSI-Methode auch das erhöhte Risiko einer Fehlbildung des Kindes betreffend - gemeinsam zu bewältigen. Zweck der oberen Altersgrenze für Männer in § 27a Abs 3 Satz 1 SGB V ist nach der Gesetzesbegründung insbesondere, das Kindeswohl zu wahren (vgl Entwurf der Fraktionen der SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/DIE GRÜNEN eines GMG, BT-Drucks 15/1525 S 83, zu Nr 14 Buchst b) . Das Kindeswohl ist ein unbestimmter Begriff, der durch die Rechtsprechung eine Konkretisierung gefunden hat ( BVerfGE 68, 176, 188; 75, 201, 218; DVBl 2006, 179 = NJW 2006, 827; BGH, NJW 2005, 1781 ). Er meint das Wohlbefinden eines Kindes in körperlicher, geistiger und seelischer Hinsicht ( vgl im Ergebnis Coester, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff, 1983, S 176 ff ). Das Kindeswohl findet seine Ausprägung zB in Art 6 Abs 2 GG ( BVerfGE 24, 119, 144; FamRZ 2002, 535 ), ist Ausdruck der Garantie der Würde des Kindes in Art 1 Abs 1 GG sowie seiner Grundrechte und hat damit ebenso wie der allgemeine Gleichheitssatz Verfassungsrang ( stRspr des BVerfG, zuletzt BVerfG - Kammer - NJW 2005, 1765 = FamRZ 2005, 783 ).
Das BVerfG hat bereits entschieden, dass es mit dem GG vereinbar ist, dass § 27a Abs 1 Nr 3 SGB V die Leistung medizinischer Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft (künstliche Befruchtung) durch die GKV - auch in Würdigung des Kindeswohls - auf Personen beschränkt, die miteinander verheiratet sind (vgl BVerfG, NJW 2007, 1343 Leitsatz 1) . Es hält sich danach im Rahmen sachlicher Erwägungen, die auf Dauer angelegte Ehe als besonders geeignet dafür anzusehen, die mit der künstlichen Befruchtung einhergehenden Risiken gemeinsam zu tragen. Das Risiko einer Fehlbildung liegt bei einer ICSI-Maßnahme bei 8,6 % der Lebendgeburten und damit über dem Durchschnitt (vgl BVerfG, Urteil vom 28.2.2007, aaO, RdNr 14, unter Hinweis auf Felberbaum/Küpker/Diedrich, DÄ 2004, A 95 ff, A 100).
Im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative konnte der Gesetzgeber auch die gewöhnliche Lebenserwartung der Eheleute einbeziehen und typisierend davon ausgehen, dass mit der 50-Jahres-Grenze jedenfalls bis zum regelmäßigen Abschluss der Schul- und Berufsausbildung des Kindes die Ehe als eine Lebensbasis für das Kind besteht, die den Kindeswohlbelangen besser Rechnung trägt, als die Erziehung und Versorgung nur durch einen (überlebenden) Ehegatten. Nach der Sterbetafel 2002/2004 des Statistischen Bundesamtes (vglhttp://www.destatis.de/download/d/bevoe/sterbet04.xls) liegt die durchschnittliche Lebenserwartung 50-jähriger Männer bei 28,32 Jahren. Sie sinkt mit jedem weiteren vollendeten Lebensjahr um rund 0,75 Jahre (9 Monate) bis auf zB 17 Jahre bei 64-Jährigen ab.
Der Gesetzgeber hat sich unter Berücksichtigung dieser statistischen Lebenserwartung der Eltern und des typischerweise in Betracht kommenden Abschlusses der Schul- und Berufsausbildung des Kindes einer Typisierung bedient, die er in ähnlicher Weise auch in anderen Leistungsbereichen unbeanstandet verwendet, etwa bei der Altersgrenze für Kinder in der Familienversicherung in der GKV (§ 10 Abs 2 Nr 3 SGB V: Vollendung des 25. Lebensjahres), für die (Halb)-Waisenrente (§ 48 Abs 4 Nr 2 SGB VI: Vollendung des 27. Lebensjahres ) , im Einkommensteuerrecht (§ 32; § 63 EStG: bisher Vollendung des 27., seit 1.1.2007 des 25. Lebensjahres; vgl dazu BVerfGE 112, 164 = SozR 4-7410 § 32 Nr 1) oder im Kindergeldrecht (§ 2 Abs 2 Nr 2 BKGG: bisher Vollendung des 27., seit 1.1.2007 des 25. Lebensjahres) .
2. Auch andere Grundrechte der Kläger sind nicht verletzt. Art 6 Abs 1 GG ist nicht berührt, weil ihm - auch in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip - keine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Gesetzgebers entnommen werden kann, die Entstehung einer Familie durch medizinische Maßnahmen der künstlichen Befruchtung mit den Mitteln der GKV zu fördern. Eine derartige Förderung liegt vielmehr in seinem Ermessen (BVerfG NJW 2007, 1343, RdNr 40; aA Sodan, Künstliche Befruchtung und gesetzliche Krankenversicherung, 2006, S. 66 ff.).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen