Leitsatz (amtlich)
Der Antrag im Sinne des BVG § 1 Abs 5 braucht nicht förmlich gestellt zu werden. Es genügt, wenn der Antragsteller vor einer zur Entgegennahme von Versorgungsanträgen zuständigen Stelle seinen Willen zum Ausdruck bringt, Versorgungsleistungen zu begehren.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 5 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Berlin vom 3. März 1955 wird die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. August 1954 zurückgewiesen.
Der Beklagte hat der Klägerin die im zweiten und dritten Rechtszug entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Gebühren für die Berufstätigkeit des Rechtsanwalts ... als Prozeßbevollmächtigten der Klägerin im Revisionsverfahren einschließlich der Vertretung in der mündlichen Verhandlung werden auf 180,- DM festgesetzt.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin war in erster Ehe mit ... der als Soldat im zweiten Weltkrieg verschollen ist und im Jahre 1950 für tot erklärt wurde, verheiratet. Als Zeitpunkt seines Todes ist das Ende des 31. Juli 1949 festgestellt worden. Am 8. März 1952 schloß die Klägerin, die früher in ... gewohnt hat, in ... eine zweite Ehe mit .... Am 15. März 1952 wurde ihr unbefristete Zuzugsgenehmigung nach ... erteilt.
Nach ihrer Eheschließung, und zwar am 10. und 15. März 1952, hat die Klägerin, die zwei waisenrentenberechtigte Kinder unterhält, in ihrer Versorgungsangelegenheit bei der Fürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene des Bezirksamts ... vorgesprochen. Am 30. Juni 1952 ist sie beim Bezirksamt ... vorstellig geworden und hat laut einer Verhandlungsniederschrift unter Hinweis auf ihre Wiederverheiratung und die Zuzugsgenehmigung ausdrücklich die Gewährung einer Heiratsabfindung beantragt. Das Versorgungsamt ... hat diesen Antrag mit Bescheid vom 10. November 1952 abgelehnt, weil er erst am 30. Juni 1952, also nach Ablauf des Monats ihrer Wiederverheiratung und mithin verspätet, gestellt worden sei.
Hiergegen hat die Klägerin beim Landesversorgungsamt Einspruch erhoben. Sie führte aus, daß ihr am 10. März 1952 beim Bezirksamt ..., als sie auch wegen der Waisenrente einen Antrag stellen wollte, auf ihre Frage wegen der Witwenabfindung erklärt wurde, sie hätte in der Westzone wohnen müssen, um diese erhalten zu können. Sie bat zu prüfen, ob ihr Antrag nicht doch zu Recht bestehe, da sie sich auf die Auskunft der Beamtin verlassen habe. Mit Bescheid vom 17. März 1953 hat das Landesversorgungsamt den Einspruch aus den gleichen Gründen wie das Versorgungsamt zurückgewiesen. Hiergegen hat die Klägerin beim Sozialgericht Berlin Klage erhoben und die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung der Heiratsabfindung beantragt. Sie wiederholte ihr Vorbringen, daß sie im März 1952 beim Bezirksamt ... wegen der Waisen- und Witwenversorgung vorgesprochen habe. Während man ihr bezüglich der Waisenrente ein Antragsformular aushändigte, habe man ihr wegen der Abfindung gesagt, es sei schade, daß sie aus ... komme. Die Beamtin hätte ihr zur Stellung eines förmlichen Antrags auf Heiratsabfindung genau so ein Formular übergeben können, wie sie es für die Waisenrente getan hat.
Durch Urteil vom 31. August 1954 hat das Sozialgericht Berlin unter Aufhebung der Bescheide des Versorgungsamts und Landesversorgungsamts das Land ... zur Zahlung der Heiratsabfindung von 1200,- DM und zur Erstattung der außergerichtlichen Kosten verurteilt. Das Sozialgericht hat die Berufung auf Grund des § 150 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zugelassen. Es begründete seine Entscheidung damit, für die Klägerin sei es nicht notwendig gewesen, den Antrag auf Heiratsabfindung noch im Heiratsmonat zu stellen. Nach dem Zweiten Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) vom 7. August 1953 (BGBl. I S. 862) sei die Heiratsabfindung binnen eines Jahres nach der Wiederverheiratung zu beantragen. Das Gericht müsse bei der Entscheidung über alle an diesem Tage noch nicht entschiedenen Ansprüche den § 44 BVG in der Fassung anwenden, die im Zeitpunkt der Entscheidung gelte.
Gegen das Urteil des Sozialgerichts hat der Beklagte Berufung eingelegt. Aus der Verhandlungsniederschrift vom 3. März 1955 ergibt sich, daß sich die Klägerin auch im Berufungsverfahren auf ihre Vorsprachen beim Bezirksamt ... am 10. und 15. März 1952 wegen ihrer Waisen- und Witwenversorgung berufen hat. Dort führte sie aus, sie sei am 15. März 1952 von der Verwaltungsangestellten, mit der sie verhandelte, darauf hingewiesen worden, daß sie Heiratsabfindung bekommen müßte. Darauf habe sie erwidert, sie komme aus dem Ostsektor, worauf die Angestellte sagte, dann stehe sie ihr nicht zu.
Durch Urteil vom 3. März 1955 hat das Landessozialgericht Berlin das Urteil des Sozialgerichts aufgehoben und die Klage abgewiesen. In der Urteilsbegründung ist ausgeführt, die Neufassung des § 44 BVG nach dem Zweiten Änderungsgesetz könne nicht auf Eheschließungen, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes stattgefunden haben, angewandt werden. Das Inkrafttreten der Änderung des § 44 sei gemäß Art. V dieses Gesetzes nicht auf den 1. Oktober 1950 wie gewisse andere Änderungen des BVG zurückverlegt worden. Daraus ergebe sich, daß durch die Änderung neues materielles Recht geschaffen worden sei. Davon werden nur die versorgungsberechtigten Witwen erfaßt, die nach dem 11. August 1952, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Ergänzungsgesetzes in ..., sich wiederverheiratet haben. In allen von der Änderung nicht betroffenen Fällen sei von der ursprünglichen Fassung des § 44 BVG auszugehen. Danach sei Voraussetzung für die Abfindung das Bestehen eines Witwenrentenanspruchs. Da die Klägerin im Antragsmonat Juni 1952 bereits wieder verheiratet war, habe gemäß § 61 Abs. 2 BVG ein Witwenrentenanspruch nicht mehr entstehen können. Deshalb könne ihr auch keine Abfindung "an Stelle" des Anspruchs auf Rente gewährt werden. Die Klägerin sei nicht durch ein schuldhaftes Verhalten der Angestellten des Beklagten an der rechtzeitigen Einreichung des Antrags verhindert worden; denn sie habe erst bei der Rücksprache auf der KB-Fürsorgestelle in ... erfahren, daß es überhaupt eine Witwenabfindung gibt. Es könne dahingestellt bleiben, ob die ihr erteilte Auskunft, sie habe keinen Anspruch auf Abfindung, richtig war, denn sie selbst habe nicht versucht, im März 1952 einen Antrag auf Abfindung bei dem Beklagten einzureichen.
Gegen das ihr am 7. April 1955 zugestellte Urteil des Landessozialgerichts Berlin, in welchem die Revision auf Grund des § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen wurde, hat die Klägerin durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten mit Schreiben vom 29. April 1955, eingegangen am 2. Mai 1955, Revision eingelegt und beantragt,
1. unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin eine Witwenabfindung in Höhe von DM 1200 zu zahlen,
2. die Erstattung der der Klägerin erwachsenen außergerichtlichen Kosten anzuordnen.
Die am 4. Mai 1955 eingegangene Revisionsbegründung vom 3. Mai 1955 rügt, daß § 44 BVG in der alten Fassung angewandt wurde. Bei der neuen Fassung des § 44 handele es sich um eine Auslegung des Gesetzes durch den Gesetzgeber. Das Gericht müsse das zur Zeit der Entscheidung geltende Recht, also § 44 BVG in der Fassung des Zweiten Änderungsgesetzes anwenden. Danach habe die Klägerin ihren Antrag rechtzeitig gestellt und habe einen Anspruch auf Witwenabfindung in Höhe von 1200 DM.
Der Beklagte hat die Zurückweisung der Revision beantragt und ausgeführt, die Neufassung des § 44 BVG durch das Zweite Änderungsgesetz habe dieser Vorschrift einen neuen, von dem bisherigen abweichenden Inhalt gegeben. Für alle von der Neufassung nicht erfaßten Fälle der Wiederverheiratung sei die frühere Fassung des § 44 BVG maßgebend. Diese setze das Bestehen eines Witwenrentenanspruchs voraus, der gemäß § 61 Abs. 2 BVG erst mit der Anmeldung entstehe. Durch Beschluß vom 21. Juli 1955 wurde der Klägerin das Armenrecht für das Verfahren vor dem Bundessozialgericht bewilligt. In der mündlichen Verhandlung stellte der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin den Antrag, die Gebühren für seine Berufstätigkeit im Revisionsverfahren nach § 196 SGG festzusetzen.
Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Sie mußte auch Erfolg haben.
Nach § 44 Satz 1 BVG, dessen Fassung durch das Zweite Gesetz zur Änderung und Ergänzung des BVG vom 7. August 1953 nicht geändert wurde, erhält die Witwe bei Wiederverheiratung an Stelle des Anspruchs auf Rente eine Abfindung. Im Schrifttum ist umstritten, ob der Anspruch auf Rente schon vor dem Antrag auf Rentenzahlung beim Vorliegen aller übrigen Voraussetzungen oder erst durch das Hinzutreten eines Antrages auf Gewährung der Rente nach § 1 Absatz 5 BVG entsteht. Diese Frage brauchte indessen hier nicht entschieden zu werden, da die Klägerin schon im Monat ihrer Wiederverheiratung einen Antrag auf Witwenrente rechtswirksam gestellt hatte.
Das Landessozialgericht hat die tatsächlichen Vorgänge anläßlich der Vorsprachen der Klägerin am 10. März und 15. März 1952 bei der KB-Fürsorgestelle in dem angefochtenen Urteil rechtlich einwandfrei festgestellt. Es hat aber die Vorsprachen der Klägerin nur als Einholung einer Auskunft gewertet und ist damit dem Begriff des Antrags im Sinne des § 1 Abs. 5 BVG nicht gerecht geworden. Das Bundesversorgungsgesetz und die auf Grund des § 92 Abs. 2 erlassenen Verwaltungsvorschriften schreiben eine bestimmte Form für den Antrag, insbesondere Schriftlichkeit, nicht vor. Erst vom 1. April. 1955 an ist die Form der Antragstellung bundeseinheitlich und für ... in § 6 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung vom 2. Mai 1955 (BGBl. I S. 202) - Gesetz zur Übernahme des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung vom 6. Mai 1955 (GVOBl. für Berlin S. 324) - geregelt worden. Dieses Gesetz kommt aber für die Beurteilung eines im Jahre 1952 gestellten Antrags nicht in Betracht. Bis zum 31. März 1955 galt hinsichtlich der Form eines Antrags auf Gewährung von Versorgungsleistungen für ... § 36 des Gesetzes über die Versorgung von Kriegs- und Militärdienstbeschädigten sowie ihren Hinterbliebenen vom 24. Juli 1950 (VOBl. für Groß-Berlin I S. 318) (KVG), der erst durch Art. III des obengenannten Übernahmegesetzes außer Kraft gesetzt wurde, und § 54 der Ersten Durchführungsverordnung (DurchfVO) vom 13. Dezember 1950 (VOBl. für Berlin I S. 570). Diese Vorschrift stimmt, soweit es sich um die Form des Antrags handelt, im wesentlichen überein mit § 6 Abs. 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung vom 2. Mai 1955 und mit § 78 Satz 1 des Gesetzes über das Verfahren in Versorgungssachen vom 10. Januar 1922 in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. November 1934 (RGBl. I S. 1113) Nach diesen Vorschriften sind die Anträge in Versorgungsangelegenheiten "schriftlich oder mündlich unter Aufnahme einer Niederschrift" zu stellen. Alle diese Formvorschriften dienen der Rechtssicherheit (vgl. Arendts, Gesetz über das Verfahren in Versorgungssachen, 1935, S. 155 Anm. 2 zu § 78), wollen aber nicht zwingend vorschreiben, daß ein bloß mündlich gestellter Antrag unter allen Umständen rechtsunwirksam ist. Grundsätzlich ist daher als Antrag im Sinne des § 1 BVG jede Erklärung anzusehen, durch die jemand gegenüber einer zuständigen Stelle das Begehren zum Ausdruck bringt, als Beschädigter oder als Hinterbliebener eines Beschädigten Versorgungsleistungen zu erhalten. Dabei sind die mündlichen Erklärungen des Berechtigten nicht wörtlich, sondern so auszulegen, wie sie seinem wirklichen, aus Fragen und Antworten erkennbaren Willen entsprechen.
Es kann dahingestellt bleiben, ob bei den Vorsprachen der Klägerin beim Bezirksamt ... das Gespräch über die Heiratsabfindung von ihr ausging, wie aus dem Einspruchsschreiben an das Versorgungsamt vom 5. Dezember 1952 entnommen werden kann, oder von der Behördenangestellten; auch wenn die Angestellte zuerst auf die Möglichkeit einer Abfindung hinwies, so mag wohl die Klägerin Bedenken geäußert haben, ob sie einen Anspruch auf Abfindung mit Erfolg geltend machen könne. Ihre Erwiderung, sie komme aus dem Ostsektor, konnte aber nicht etwa bedeuten, daß sie von sich aus die Abfindung aus diesem Grunde ablehne. Sie wollte vielmehr nur weitere Umstände mitteilen, die ihr für die Entscheidung über einen Antrag auf Abfindung bedeutsam erschienen. Daß bei dem Gespräch nur von Abfindung und nicht von Witwenrente die Rede war, erklärt sich daraus, daß die Abfindung von 1200,- DM gegenüber der Witwenrente für nur einen Monat wirtschaftlich viel mehr ins Gewicht fiel. Das Begehren einer Abfindung hat die Vorstufe hierzu, nämlich die Witwenrente für den Heirats-Monat März 1952, mit umfaßt. Hätte die Klägerin durch eingehendere Belehrung von der Behördenangestellten erfahren, daß das Versorgungsamt die Abfindung nur gewährt, wenn im Zeitpunkt der Wiederverheiratung ein Anspruch auf Witwenrente besteht, so hätte sie nicht unterlassen, die Witwenrente ausdrücklich zu beantragen. Aus dem Ergebnis der Unterredung konnte die Behördenangestellte, die zur Entgegennahme dieses Antrags zuständig war, entnehmen, daß die Klägerin den Wunsch hatte, die Witwenrente für den Heiratsmonat und die Heiratsabfindung zu erhalten. In dem gesamten Vorbringen der Klägerin bei der Fürsorgestelle war mithin, wie die richtige Anwendung der Auslegungsgrundsätze ergibt, ein Antrag auf Versorgung durch Gewährung der Witwenrente und Heiratsabfindung (§ 9 Nr. 5 BVG) enthalten.
Das Bezirksamt ..., Abt. Sozialwesen, Fürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene, war zur Entgegennahme von Anträgen der Versorgungsberechtigten zuständig gemäß § 36 Abs. 1 des Gesetzes über die Versorgung von Kriegs- und Militärdienstbeschädigten sowie ihren Hinterbliebenen vom 24. Juli 1950 (VOBl. für Groß-Berlin I S. 318) und § 54 DurchfVO vom 13. Dezember 1950 (VOBl. für Berlin I S. 570).
Da die Klägerin ihren Antrag so rechtzeitig gestellt hat, daß noch für den Heiratsmonat eine Witwenrente festgestellt werden konnte, war ihr Anspruch auf Heiratsabfindung nach § 44 Satz 1 BVG begründet.
Die Klägerin hat im Klageweg nur ihren Anspruch auf Heiratsabfindung, nicht auch den Anspruch auf Auszahlung der Witwenrente für den Monat März 1952 verfolgt. Es war deshalb gemäß § 123 SGG in diesem Rechtsstreit nur über diesen Anspruch - die Heiratsabfindung - zu entscheiden.
Da der Rechtsstreit entscheidungsreif ist, war unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. August 1954 zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 SGG.
Die Gebühren für die Berufstätigkeit des prozeßbevollmächtigten Rechtsanwalts der Klägerin einschließlich der Vertretung in der mündlichen Verhandlung vor dem Revisionsgericht wurden nach § 196 SGG auf 180,- DM festgesetzt.
Fundstellen