Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Aufhebung einer Bewilligungsentscheidung nach § 48 Abs 1S 2 Nr 3 SGB 10, Widerspruchsbescheid jedoch gestützt auf § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB 10. Erforderlichkeit einer erneuten Anhörung. Anhörungsmangel. Anforderungen an eine Nachholung im Gerichtsverfahren. Bekanntgabe des Verwaltungsakts gegenüber dem Prozessbevollmächtigten. Aussetzung der Verhandlung zur Heilung von Verfahrensfehlern. Sachdienlichkeit. Verfahrenskonzentration. Ablauf der für die Rücknahme geltenden Jahresfrist. Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs
Leitsatz (redaktionell)
1. Für den Fall, dass sich eine Behörde erstmals im Widerspruchsbescheid auf die innere Tatsache bezieht, dass die betroffene Person die Rechtswidrigkeit des Bescheids zumindest infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt hat, weil sie den Ausgangsbescheid noch auf § 48 SGB X gestützt hat, hat sie erneut Gelegenheit zu einer vorherigen Stellungnahme einzuräumen.
2. Die Nachholung der fehlenden Anhörung während des Gerichtsverfahrens setzt voraus, dass die Behörde dem Betroffenen in einem mehr oder minder förmlichen Verwaltungsverfahren – das regelmäßig ein gesondertes Anhörungsschreiben, eine angemessene Äußerungsfrist, die Kenntnisnahme des Vorbringens durch die Behörde und deren abschließende Äußerung zum Ergebnis der Überprüfung erfordert – Gelegenheit zur Stellungnahme zu den entscheidungserheblichen Tatsachen und im Anschluss zu erkennen gibt, ob sie nach erneuter Prüfung dieser Tatsachen am bisher erlassenen Verwaltungsakt festhält.
3. Während eines bei Gericht anhängigen Rechtsstreits ist das Ermessen der Behörde hinsichtlich der Bekanntgabe von Verwaltungsakten, die den Klagegegenstand betreffen, dahingehend auf Null reduziert, dass eine Bekanntgabe gegenüber dem Prozessbevollmächtigten zu erfolgen hat.
4. Eine Sachdienlichkeit einer Aussetzung des Verfahrens zur Nachholung einer Anhörung im Sinne einer Verfahrenskonzentration ist zu verneinen, wenn kein weiteres Verwaltungs- und Gerichtsverfahren in der gleichen Sache droht, welches durch die Aussetzung zur Heilung des Anhörungsmangels überflüssig würde; dem stünde schon entgegen, wenn die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X bereits verstrichen wäre.
Leitsatz (amtlich)
Für eine Aussetzung des gerichtlichen Verfahrens zur Nachholung einer Anhörung in einem formalisierten Verfahren fehlt es an der tatbestandlich vorausgesetzten Sachdienlichkeit im Sinn einer Verfahrenskonzentration, wenn die für die Rücknahme geltende Jahresfrist verstrichen ist.
Orientierungssatz
1. Gelegenheit zu einer vorherigen Stellungnahme ist für den Fall erneut einzuräumen, dass sich eine Behörde erstmals im Widerspruchsbescheid auf die innere Tatsache, dass die betroffene Person die Rechtswidrigkeit des Bescheids zumindest infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt hat, bezieht, weil sie den Ausgangsbescheid noch auf § 48 SGB 10 gestützt hat (vgl BSG vom 9.11.2010 - B 4 AS 37/09 R = SozR 4-1300 § 41 Nr 2).
2. Die Nachholung der fehlenden Anhörung während des Gerichtsverfahrens setzt voraus, dass die Behörde dem Betroffenen in einem mehr oder minder förmlichen Verwaltungsverfahren Gelegenheit zur Stellungnahme zu den entscheidungserheblichen Tatsachen und im Anschluss zu erkennen gibt, ob sie nach erneuter Prüfung dieser Tatsachen am bisher erlassenen Verwaltungsakt festhält. Dieses formalisierte Verfahren erfordert regelmäßig ein gesondertes Anhörungsschreiben, eine angemessene Äußerungsfrist, die Kenntnisnahme des Vorbringens durch die Behörde und deren abschließende Äußerung zum Ergebnis der Überprüfung (Festhaltung an BSG vom 9.11.2010 - B 4 AS 37/09 R aaO).
3. Während eines bei Gerichts anhängigen Rechtsstreits ist das Ermessen der Behörde hinsichtlich der Bekanntgabe von Verwaltungsakten, die den Klagegegenstand betreffen, dahingehend auf Null reduziert, dass eine Bekanntgabe gegenüber dem Prozessbevollmächtigten zu erfolgen hat.
4. Die erfolgreiche Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs setzt voraus, dass der Betroffene alles getan hat, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen. Dazu gehört es regelmäßig auch, ggf einen Verlegungs- bzw Vertagungsantrag zu stellen (vgl BVerwG vom 21.9.2011 - 5 B 11/11 - und BSG vom 1.6.2011 -
B 4 AS 82/11 B ).
Normenkette
SGB X § 41 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2, § 13 Abs. 3 Sätze 1-2, § 24 Abs. 1-2, § 37 Abs. 1 S. 2, § 45 Abs. 1, 2 S. 3 Nr. 3, Abs. 4 S. 2, § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, § 42 Sätze 1-2; SGG § 114 Abs. 2 S. 2, § 62 Hs. 1; VwGO § 94 S. 2 Fassung: 1996-11-01; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. März 2015 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin für das Revisionsverfahren.
Tatbestand
Streitig ist die Aufhebung und Erstattung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II.
Auf den Antrag der 1955 geborenen Klägerin auf aufstockende Leistungen nach dem SGB II, dem sie den Bescheid der Agentur für Arbeit Reutlingen vom 22.8.2011 über die Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) in der Zeit vom September 2011 bis Februar 2013 iHv 20,85 Euro kalendertäglich beifügte, erkannte der Beklagte Arbeitslosengeld II (Alg II) für den Zeitraum vom Januar 2012 bis Juli 2012 zu (Bescheid vom 9.2.2012). Nur für die Monate Januar/Februar 2012 rechnete er Alg in unterschiedlicher Höhe an; ab März 2012 berücksichtigte er kein Einkommen.
Nachdem der Beklagte bemerkt hatte, dass die Klägerin über den Februar 2012 hinaus weiterhin Alg bezogen hatte, hörte er sie mit Fristsetzung bis 26.7.2012 zur beabsichtigten Aufhebung und Erstattung von überzahlten SGB II-Leistungen an (Schreiben vom 9.7.2012). Die Klägerin führte ua aus, sich keiner Schuld bewusst zu sein, weil sie im Leistungsantrag den Alg-Bezug angegeben habe; im SGB II-Bescheid sei dies auch angerechnet worden (Schreiben vom 27.7.2012). Bereits am letzten Tag der Anhörungsfrist hob der Beklagte die SGB II-Leistungen - gestützt auf § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB X - teilweise in Höhe von 2393,70 Euro auf und forderte diese zurück (Bescheid vom 26.7.2012; für Februar 2012 in Höhe von 11,70 Euro, für März bis Juli 2012 in Höhe von monatlich 595,50 Euro). Dem hiergegen gerichteten Widerspruch, mit welchem die Klägerin das Verschulden des Beklagten an der Überzahlung geltend machte, gab der Beklagte nur zu einem geringen Teil statt (Reduzierung der Erstattungsforderung auf insgesamt 2329,01 Euro) und wies den Widerspruch im Übrigen - nunmehr gestützt auf § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB X - als unbegründet zurück. Die Klägerin habe erkennen können und müssen, dass eine erhebliche Differenz der Leistungshöhe in den einzelnen Monaten bestehe (Widerspruchsbescheid vom 24.10.2012).
Im sozialgerichtlichen Klageverfahren hat die Klägerin vorgetragen, ihr sei der Grund für die geänderte Leistungshöhe ab März 2012 mangels Kenntnis der Verrechnungsmodalitäten zwischen dem Beklagten und der Agentur für Arbeit nicht klar gewesen. Der Bewilligungsbescheid sei höchst kompliziert. Sie habe alle Umstände mitgeteilt und davon ausgehen dürfen, dass die Berechnung richtig durchführt werde. Mit ihrer gegen den klageabweisenden Gerichtsbescheid des SG (vom 30.9.2013) eingelegten Berufung hat sie eingeschränkte Sprachkenntnisse und eine starke psychische Beeinträchtigung geltend gemacht und die fehlende Nachvollziehbarkeit der komplexen und unübersichtlichen Darstellungen im Leistungsbescheid des Beklagten beanstandet. Nach Hinweis des Berichterstatters des LSG an den Beklagten, dass die Anhörung zu den Voraussetzungen des § 45 SGB X, auf den der Beklagte seinen Widerspruchsbescheid erstmals gestützt habe, problematisch sei (Verfügung vom 13.3.2015), hat der Beklagte der Klägerin mit Frist bis 25.3.2015 Gelegenheit zur Stellungnahme zur beabsichtigten teilweisen Rücknahme der Leistungen und zu dem Vorwurf gegeben, ihr sei die fehlerhafte Bewilligung bekannt gewesen bzw sie habe erkennen können, dass ihr die Leistungen in dieser Höhe nicht zugestanden hätten. Nehme sie die Gelegenheit zur Stellungnahme nicht wahr, könnten für sie positive Umstände nicht berücksichtigt werden; nach Ablauf der Anhörungsfrist müsse sie mit einer Entscheidung rechnen, die ihr durch Bescheid mitgeteilt werde (Schreiben des Beklagten vom 18.3.2015).
Das LSG hat der Berufung der Klägerin in vollem Umfang stattgegeben (Urteil vom 26.3.2015). Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, der angefochtene Bescheid leide an einem Anhörungsmangel, weil die Klägerin zu der erstmals im Widerspruchsbescheid angeführten inneren Tatsache der grob fahrlässigen Unkenntnis nicht ordnungsgemäß angehört worden sei. Erst im gerichtlichen Verfahren habe sie umfassender zum Vorwurf der groben Fahrlässigkeit sowie zu ihrer Urteils-, Kritik- und Einsichtsfähigkeit vorgetragen. Im Gerichtsverfahren habe der Beklagte die fehlende Anhörung nicht nachgeholt. Die mit Schreiben vom 18.3.2015 gesetzte Äußerungsfrist bis zum 25.3.2015 - unter Berücksichtigung von Brieflaufzeiten von nur 4 Tagen einschließlich Samstag/Sonntag - sei für die Abfassung einer Stellungnahme, ggf nach Rücksprache mit dem Bevollmächtigten der Klägerin, der seinen Sitz nicht an ihrem Wohnsitz habe, selbst unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Klägerin aus dem Widerspruchsbescheid und dem gerichtlichen Verfahren die Gründe des Beklagten für die Annahme grober Fahrlässigkeit bekannt seien, zu kurz gewesen. Die von dem Beklagten hilfsweise beantragte Aussetzung des Verfahrens sei als nicht sachdienlich abzulehnen.
Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung von § 24 Abs 1 SGB X und § 41 Abs 1 Nr 3, Abs 2 SGB X, von § 114 Abs 2 S 1 SGG sowie des Gebots rechtlichen Gehörs. Eine Verletzung des § 24 SGB X liege vor, weil das LSG die Besonderheiten des Einzelfalls nicht berücksichtigt habe. Der Wechsel der Rechtsgrundlage von § 48 SGB X zu § 45 SGB X erfordere nicht stets eine erneute Anhörung. Bereits im Widerspruchsbescheid habe er Äußerungen der Klägerin zum Vorwurf der grob fahrlässigen Unkenntnis von der Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung umfassend gewürdigt. § 41 SGB X sei verletzt, weil das Berufungsgericht eine Anhörungsfrist von zwingend mehr als 4 Tagen ohne Beachtung von Einzelfallumständen verlangt habe. Anders als bei einer erstmaligen Anhörung sei zu erwarten gewesen, dass sich die Klägerin bzw ihr Prozessbevollmächtigter eine Woche vor der mündlichen Verhandlung in dem bereits lange andauernden Gerichtsverfahren mit der Sache befasst hätten. Ein Verstoß gegen seinen Anspruch auf rechtliches Gehör sei darin zu sehen, dass in dem Hinweis des Berichterstatters - mit zu kurzer Frist zur Stellungnahme - allein auf die Anhörungsproblematik, nicht aber auch auf die Heilungsmöglichkeit hingewiesen worden sei, weshalb eine unzulässige Überraschungsentscheidung vorliege. Das LSG habe auch gegen § 114 Abs 2 S 1 SGG verstoßen, indem es seinen Aussetzungsantrag abgelehnt habe. Wegen des Verstoßes gegen das rechtliche Gehör sei das Aussetzungsermessen auf Null reduziert und das Gericht zur Aussetzung verpflichtet gewesen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26.03.2015 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 30.09.2013 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie führt aus, eine erneute Anhörung durch den Beklagten sei stets erforderlich und ein gerichtlicher Hinweis nicht notwendig gewesen. Es fehle an einer ordnungsgemäß nachgeholten Anhörung im Berufungsverfahren, weil das Schreiben an sie und nicht an ihren Bevollmächtigten gerichtet gewesen sei. Eine Pflicht des Gerichts, dem Beklagten "auf die Sprünge zu helfen", habe nicht bestanden. Nach dem Hinweis des LSG habe dieser ausreichend Zeit für eine Stellungnahme gehabt und eine solche in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG auch abgegeben. Das Berufungsgericht sei nicht zur Aussetzung der Verhandlung zur Heilung des Anhörungsmangels verpflichtet gewesen. Eine Fristeinräumung zur Ermöglichung der Heilung wäre mit der verfassungsrechtlichen Position der Klägerin auch nicht vereinbar.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Beklagten ist unbegründet. Das Berufungsgericht hat zu Recht entschieden, dass der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 26.7.2012 idF des Widerspruchsbescheids vom 24.10.2012 wegen eines Anhörungsmangels formell rechtswidrig und daher aufzuheben war (1). Das LSG hat weder § 114 Abs 2 S 2 SGG (2) noch den Anspruch auf rechtliches Gehör des Beklagten verletzt (3).
1. Das LSG hat den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 26.7.2012 idF des Widerspruchsbescheids vom 24.10.2012 zu Recht ungeachtet der Prüfung der materiellen Rechtmäßigkeit wegen formeller Rechtswidrigkeit aufgehoben, weil der Beklagte die Klägerin vor Erlass des Bescheides nicht ordnungsgemäß angehört hat (a) und dieser Anhörungsmangel auch weder im Widerspruchsverfahren (b) noch im Gerichtsverfahren (c) geheilt worden ist.
a) Der Aufhebungsanspruch der Klägerin folgt aus § 42 Abs 1 S 1 und 2 SGB X, wonach die Aufhebung eines Verwaltungsaktes allein deshalb beansprucht werden kann, weil die erforderliche Anhörung unterblieben oder nicht wirksam nachgeholt worden ist. Nach § 24 Abs 1 SGB X ist, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Nach Abs 2 der Vorschrift kann davon unter bestimmten - hier nicht einschlägigen - Voraussetzungen abgesehen werden.
Das Berufungsgericht ist ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, dass es an einer ordnungsgemäßen Anhörung der Klägerin schon deshalb fehlte, weil der Beklagte den Aufhebungsbescheid auf § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB X und sodann den Widerspruchsbescheid auf § 45 Abs 1, Abs 2 S 3 Nr 3 SGB X gestützt hat. Wie der Senat bereits entschieden hat, ist für den Fall, dass sich eine Behörde erstmals im Widerspruchsbescheid auf die innere Tatsache, dass die betroffene Person die Rechtswidrigkeit des Bescheids zumindest infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt hat, bezieht, weil sie den Ausgangsbescheid noch auf § 48 SGB X gestützt hat, erneut Gelegenheit zu einer vorherigen Stellungnahme einzuräumen (BSG Urteil vom 9.11.2010 - B 4 AS 37/09 R - SozR 4-1300 § 41 Nr 2, RdNr 12 f). Ein solcher Fall liegt hier vor, weil der Beklagte in seinem Anhörungsschreiben vom 9.7.2012 vor Erlass des angefochtenen Bescheides ausdrücklich nur auf den Aufhebungsgrund der Einkommenserzielung, nicht jedoch auf die subjektiven Gesichtspunkte einer Rücknahme wegen grob fahrlässigem Verhalten bzw grob fahrlässiger Unkenntnis der Rechtswidrigkeit der Leistungsbewilligung hingewiesen hat.
b) Das Vorbringen der Revision, das LSG habe die Rechtsprechung des BSG unzutreffend angewandt und damit § 24 SGB X verletzt, weil es trotz vom Beklagten substantiiert dargelegter Indizien isoliert nur auf rein formale Kriterien abstelle und damit unabhängig vom Einzelfall in der vorliegenden Konstellation generell eine erneute formalisierte Anhörung auch im Vorverfahren für erforderlich erachte, geht ins Leere.
Es bedarf keiner Entscheidung des Senats darüber, ob eine erneute (§ 24 SGB X) oder nachzuholende Anhörung (§ 41 Abs 1 Nr 3, Abs 2 SGB X) im Widerspruchsverfahren im Einzelfall entbehrlich sein kann, wenn der Betroffene die von der Behörde (bewusst oder unbewusst) unterlassene Verfahrenshandlung der Anhörung selbst vornimmt, die im Ergebnis das bewirkt, was herbeizuführen der Behörde oblag (offen gelassen von BSG Urteil vom 26.9.1991 - 4 RK 4/91 - BSGE 69, 247, 253 f = SozR 3-1300 § 24 Nr 4 S 10 f - juris RdNr 32, 35). Eine Heilung des Anhörungsmangels allein durch die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens setzt zumindest voraus, dass der Ausgangsbescheid alle wesentlichen (Haupt-)Tatsachen, dh alle Tatsachen, die die Behörde ausgehend von ihrer materiell-rechtlichen Rechtsansicht berücksichtigen muss und kann (BSG Urteil vom 20.12.2012 - B 10 LW 2/11 R - SozR 4-5868 § 12 Nr 1, RdNr 35; BSG Urteil vom 29.11.2012 - B 14 AS 6/12 R - BSGE 112, 221 ff = SozR 4-1300 § 45 Nr 12, RdNr 21 mwN), nennt. Hier fehlte es schon an der Bezeichnung der Umstände, aus denen der Beklagte in seinem Widerspruchsbescheid eine grobe Fahrlässigkeit der Klägerin abgeleitet hat.
Unbesehen des Umstandes, dass der Klägerin die erheblichen Tatsachen iS des § 24 Abs 1 SGB X mit dem Ausgangsbescheid nicht vollständig bekannt gegeben waren, hat sie sich nach den bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG, die der Beklagte nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen hat (§ 163 SGG), im Widerspruchsverfahren auch nicht sachgerecht und vollständig zur erforderlichen grob fahrlässigen Unkenntnis der Rechtswidrigkeit äußern können. Sie hat insbesondere erst im Gerichtsverfahren zu ihren Sprachschwierigkeiten, ihrer psychischen Beeinträchtigung und ihrer Unkenntnis von der Berechnungsgrundlage sowie zur Kompliziertheit der Berechnungen vorgetragen. Es ist daher - entgegen der Ansicht des Beklagten - revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht im Rahmen seiner nur in engen Grenzen überprüfbaren Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 S 1 SGG) zu dem Ergebnis gelangt ist, dass der Klägerin vor Erlass des Widerspruchsbescheids Äußerungsmöglichkeiten versagt geblieben sind, weil sie sich zwar allgemein zum "Verschulden" geäußert, jedoch erst im Gerichtsverfahren umfassender zum Vorwurf der groben Fahrlässigkeit und zu ihrer Urteils-, Kritik- und Einsichtsfähigkeit vorgetragen habe. Durch ein Teilvorbringen - wie hier - kann die fehlende Anhörung nicht ordnungsgemäß nachgeholt und der Verfahrensfehler nicht geheilt werden.
c) Das Berufungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Anhörungsmangel auch im gerichtlichen Verfahren vor dem SG und dem LSG nicht geheilt worden ist.
Zwar ist nach § 41 Abs 1 Nr 3, Abs 2 SGB X idF des 4. Euro-Einführungsgesetzes vom 21.12.2000 (BGBl I 1983) eine Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften, die den Verwaltungsakt nach § 40 SGB X nicht nichtig macht, unbeachtlich, wenn ua die erforderliche Anhörung eines Beteiligten bis zur letzten Tatsacheninstanz eines sozial- oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt wird.
Nach der Rechtsprechung des Senats, zu deren Aufgabe kein Anlass besteht, setzt die Nachholung der fehlenden Anhörung während des Gerichtsverfahrens aber voraus, dass die Behörde dem Betroffenen in einem mehr oder minder förmlichen Verwaltungsverfahren Gelegenheit zur Stellungnahme zu den entscheidungserheblichen Tatsachen und im Anschluss zu erkennen gibt, ob sie nach erneuter Prüfung dieser Tatsachen am bisher erlassenen Verwaltungsakt festhält. Dieses formalisierte Verfahren erfordert regelmäßig ein gesondertes Anhörungsschreiben, eine angemessene Äußerungsfrist, die Kenntnisnahme des Vorbringens durch die Behörde und deren abschließende Äußerung zum Ergebnis der Überprüfung (BSG Urteil vom 9.11.2010 - B 4 AS 37/09 R - SozR 4-1300 § 41 Nr 2, RdNr 15; zustimmend hierzu Vogelgesang, SGb 2011, 483, 484; BSG Urteil vom 20.12.2012 - B 10 LW 2/11 R - SozR 4-5868 § 12 Nr 1, RdNr 39; für die Notwendigkeit des durch die Behörde selbst durchzuführenden Anhörungsverfahrens mit zumindest formloser Entscheidung über das Festhalten an ihrer Entscheidung bereits BSG Urteil vom 6.4.2006 - B 7a AL 64/05 R - juris RdNr 15).
Nach diesen Maßstäben für eine ordnungsgemäße Anhörung begegnet die von dem Beklagten während des Berufungsverfahrens mit Schreiben vom 18.3.2015 eingeleitete Anhörung in mehrfacher Hinsicht Bedenken. Es ist fraglich, ob - wie der Beklagte meint - die mit diesem Schreiben für die Klägerin bestimmte Anhörungsfrist bis 25.3.2015 nach den Umständen des Einzelfalls noch als angemessen anzusehen ist (zur "Regelanhörungszeit" von 2 Wochen vgl BSG Urteil vom 23.8.2005 - B 4 RA 29/04 R - SozR 4-2600 § 313 Nr 4 RdNr 18; zur gerichtlichen Überprüfbarkeit und Berücksichtigung der Einzelfallumstände vgl BSG Urteil vom 24.7.1980 - 5 RKnU 1/79 - SozR 1200 § 34 Nr 12 S 53). Eine unangemessen kurze Frist steht dabei der unterlassenen Anhörung gleich (vgl zu einer nur einwöchigen Frist: BSG Urteil vom 14.11.1984 - 1 RA 3/84 - juris RdNr 14; BSG Urteil vom 24.7.1980 - 5 RKnU 1/79 - SozR 1200 § 34 Nr 12 S 54) ohne dass zu prüfen ist, ob der Betroffene sich auch tatsächlich zu dem Verwaltungsakt geäußert hatte oder hätte äußern wollen (Mutschler in Kasseler Kommentar, § 24 SGB X RdNr 18 f mwN, Stand September 2015). Der Heilung des Anhörungsmangels könnte auch entgegenstehen, dass der Beklagte auch für den Fall der Nichtäußerung im nachgeholten Anhörungsverfahren eine Entscheidung durch Bescheid angekündigt, eine Mitteilung an die Klägerin jedoch unterlassen hat. Für eine abschließende Stellungnahme im Sinne eines vom Senat geforderten formalisierten Verfahrens genügt jedenfalls nicht eine Äußerung der Behörde gegenüber dem Gericht bzw eine Klageerwiderung oder der Austausch von Schriftsätzen unter Wiedergabe der Standpunkte (BSG Urteil vom 20.12.2012 - B 10 LW 2/11 R - SozR 4-5868 § 12 Nr 1 RdNr 39; BSG Urteil vom 7.7.2011 - B 14 AS 144/10 R, juris RdNr 21; BSG Urteil vom 6.4.2006 - B 7a AL 64/05 R - juris RdNr 15).
Die Heilung des Anhörungsmangels durch deren Nachholung in einem ordnungsgemäßen förmlichen Verfahren scheitert aber jedenfalls daran, dass der Beklagte sich mit dem Schreiben vom 18.3.2015 nicht an den bereits im Widerspruchsverfahren beauftragten Prozessbevollmächtigten der Klägerin, sondern direkt an diese gewandt hat. Denn nach § 13 Abs 3 S 1 SGB X, der hier für die Nachholung des formalisierten Anhörungsverfahrens Anwendung findet, muss sich eine Behörde an den für das Verfahren bestellten Bevollmächtigten wenden; dies steht nicht in ihrem Ermessen (Mutschler in Kasseler Kommentar, § 13 SGB X RdNr 14, Stand September 2013). Diese "Kommunikationsverpflichtung" bezweckt neben einer zweckmäßigen Verfahrensgestaltung den Schutz des Verfahrensbeteiligten, der durch die Bevollmächtigung zu erkennen gegeben hat, dass dieser das Verfahren für ihn betreiben soll (Pitz in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, Stand 5.1.2016, § 13 RdNr 13).
Auf Grund der erteilten Prozessvollmacht konnte die Klägerin darauf vertrauen, dass alle prozessrelevanten Erklärungen und Verfügungen an ihren Bevollmächtigten gerichtet werden und von ihr keine Kenntnis bzw Reaktion erwartet werden konnte. Der Beklagte durfte das Anhörungsschreiben auch nicht nach § 13 Abs 3 S 2 SGB X an die Klägerin adressieren, wonach sich eine Behörde, soweit ein Beteiligter zur Mitwirkung verpflichtet ist, an diesen selbst wenden kann, weil schon keine Mitwirkungspflicht der Klägerin bestand. Auch kann nicht mit Bezug auf § 37 Abs 1 S 2 SGB X von einem Ermessen des Beklagten hinsichtlich einer möglichen Bekanntgabe an die Klägerin ausgegangen werden. Zwar bestimmt § 37 Abs 1 S 2 SGB X für die Bekanntgabe von Verwaltungsakten, dass die Bekanntgabe dem Bevollmächtigten gegenüber vorgenommen werden kann, wenn ein solcher bestellt ist. Abgesehen davon, dass während eines bei Gericht anhängigen Rechtsstreits das Ermessen der Behörde hinsichtlich der Bekanntgabe von Verwaltungsakten, die den Klagegegenstand betreffen, ohnehin dahingehend auf Null reduziert ist, dass eine Bekanntgabe gegenüber dem Prozessbevollmächtigten zu erfolgen hat (Pattar in jurisPK-SGB X, 2013, § 37 SGB X RdNr 87; vgl zur Bekanntgabe gegenüber dem aktuellen Prozessbevollmächtigten BFH vom 24.2.2005 - IV R 28/00, juris RdNr 10; vgl BFH vom 5.5.1994 - VI R 98/93 - BFHE 174, 208, 211 f, BStBl II 1994, 806, 807 f - juris RdNr 14 ff), ist § 37 SGB X hier schon mangels Verwaltungsaktqualität des Anhörungsschreibens vom 18.3.2015 nicht anwendbar.
2. a) Die von dem Beklagten gerügte Verletzung des § 114 Abs 2 S 2 SGG, eingefügt durch Art 21 und 68 des Gesetzes zur Einführung des Euro im Sozial- und Arbeitsrecht sowie zur Änderung anderer Vorschriften vom 21.12.2000 (BGBl I 1983), liegt nicht vor. Auch wenn der Beklagte in der Revisionsbegründung fehlerhaft die Vorschrift des § 114 Abs 2 S 1 SGG genannt hat, ist die Verletzung des § 114 Abs 2 S 2 SGG nach dem Inhalt und Zusammenhang seiner Darlegungen in der Revisionsbegründung trotz versehentlich ungenauer Bezeichnung ordnungsgemäß gerügt.
Die in der Berufungszurückweisung und damit Entscheidung in der Sache enthaltene Ablehnung der Aussetzung durch das LSG (vgl zur Zulässigkeit der Ablehnung des Aussetzungsantrags im Urteil: Hauck in Zeihe, SGG, § 114 RdNr 6a, Stand April 2016) ist im Ergebnis revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Es lagen schon die tatbestandlichen Voraussetzungen der Aussetzung gemäß § 114 Abs 2 S 2 SGG, wonach das Gericht auf Antrag die Verhandlung zur Heilung von Verfahrens- und Formfehlern aussetzen kann, soweit dies im Sinne der Verfahrenskonzentration sachdienlich ist, nicht vor.
Eine Sachdienlichkeit der Aussetzung im Sinne der Verfahrenskonzentration kann nur dann bejaht werden, wenn durch eine Heilung von Verfahrens- und Formmängeln im Gerichtsverfahren eine Verkürzung der Dauer des gesamten Verfahrens unter Berücksichtigung eines zu erwartenden neuen Verwaltungs- und anschließenden Gerichtsverfahrens zur erneuten Prüfung der materiellen Rechtmäßigkeit erreicht werden kann (vgl zur Verkürzung der Gesamtdauer sowohl des Verwaltungs- als auch des Gerichtsverfahrens: BSG Urteil vom 12.6.2001 - B 4 RA 37/00 R - SozR 3-2600 § 243 Nr 9 S 38). Nur dann ist für eine Ermessensentscheidung Raum (so auch Hauck in Zeihe, SGG, § 114 SGG RdNr 23, Stand April 2016). Allein die noch mögliche Heilung eines Form- oder Verfahrensfehlers genügt dagegen nicht. Dies ergibt sich aus einer am Wortlaut des § 114 Abs 2 S 2 SGG, der Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck der Vorschrift orientierten engen Auslegung.
b) Schon aus dem Wortlaut des § 114 Abs 2 S 2 SGG ("soweit") ist darauf zu schließen, dass die Sachdienlichkeit im Sinne der Verfahrenskonzentration Voraussetzung der Aussetzung und nicht nur - so offenbar das LSG - Ermessensgesichtspunkt ist; eine allgemeine Sachdienlichkeit genügt hierfür allerdings nicht (vgl zur Auslegung der Verfahrenskonzentration in Bezug auf das gerichtliche Verfahren: BSG Urteil vom 31.10.2002 - B 4 RA 15/01 R - SozR 3-1300 § 24 Nr 22, S 75).
Dass die Aussetzung nach § 114 Abs 2 S 2 SGG voraussetzt, dass ein weiteres, unnötiges Verfahren vermieden wird und dass durch die Aussetzung die Gesamtdauer des Gerichts- und Verwaltungsverfahrens verkürzt wird, wird durch Sinn und Zweck der Vorschrift, wie sie der Gesetzeshistorie zu entnehmen sind, bestätigt. Der Gesetzgeber hat die Übernahme der seit 1.1.1997 geltenden Regelung des § 94 S 2 VwGO (idF des 6. VwGOÄndG vom 1.11.1996, BGBl I 1626, aufgehoben durch das Rechtsmittelbereinigungsgesetz vom 20.12.2001 ≪BGBl I 3987≫), der eine Aussetzung zur Heilung von Verfahrens- und Formfehlern im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ermöglichte und der Verfahrensbeschleunigung diente, in das SGG damit begründet, dass auch im sozialgerichtlichen Verfahren unnötige Verzögerungen vermieden werden sollten (BT-Drucks 14/4375, S 63; vgl zur Ergänzung der Voraussetzung "sachdienlich" durch die Wörter "im Sinne der Verfahrenskonzentration" in der zwischenzeitlich aufgehobenen Parallelregelung in § 94 S 2 VwGO aF die Ausführungen zur Entstehungsgeschichte bei Rudisile in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 94 VwGO RdNr 4,Stand Februar 2016). § 94 S 2 VwGO diente der Prozessökonomie durch Vermeidung eines unnötigen zweiten Prozesses in derselben Sache bzw der Vermeidung der Fortsetzung in höherer Instanz. Auch § 114 Abs 2 S 2 SGG verfolgt diesen Zweck (Lowe in Hintz/Lowe, SGG, 2012, § 114 SGG RdNr 3; Hauck in Zeihe, SGG, § 114 SGG RdNr 4, Stand April 2016). Entsprechend ging der Gesetzgeber hinsichtlich des inzwischen aufgehobenen § 94 S 2 VwGO davon aus, dass die Sachdienlichkeit im Sinne der Verfahrenskonzentration Tatbestandsvoraussetzung der Aussetzung ist und nicht nur im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigen ist. Gleiches gilt für § 114 SGG (vgl zur Entstehungsgeschichte des § 94 S 2 VwGO auch BT-Drucks 13/3993 S 5, 12, 20 sowie die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses im Hinblick auf eine Reduzierung der Vorschrift auf eine Ermessensregelung und Anknüpfung an die Sachdienlichkeit im Sinne der Verfahrenskonzentration ≪BT-Drucks 13/5098, S 24≫; dagegen wohl allgemein von einem reduzierten Ermessen im Rahmen des § 114 Abs 2 S 2 SGG ausgehend Wehrhahn in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl 2014, § 114 SGG RdNr 11).
§ 114 Abs 2 S 2 SGG bezweckt daher nicht, der Behörde allgemein die Möglichkeit einzuräumen, einen bereits bestehenden Anspruch des Bürgers auf Aufhebung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes nachträglich wieder zu beseitigen (Knittel in Hennig, SGG, § 114 RdNr 15b, Stand September 2010, im Sinne einer generell abzulehnenden Aussetzung des Verfahrens zur Beseitigung eines Anhörungsmangels; vgl zur Kritik an einer nachträglichen Anhörung mit Blick auf die Gefahr einer "Indienstnahme der Gerichte für die Effizienz der Verwaltung" Köhler in WzS 2010, 296, 301).
In systematischer Hinsicht steht § 114 Abs 2 S 2 SGG zwar in Zusammenhang mit § 41 SGB X (vgl zur funktionalen Einheit der Vorschriften, die einander ergänzen sollen mit Hinweis auf die Gesetzesbegründung BSG Urteil vom 12.6.2001 - B 4 RA 37/00 R - SozR 3-2600 § 243 Nr 9 S 38; siehe auch Knittel in Hennig, SGG, § 114 RdNr 15a, Stand September 2010). Daraus folgt jedoch nicht, dass § 114 Abs 2 S 2 SGG generell die Heilung von Verfahrensfehlern durch das Gericht ermöglichen soll. § 41 Abs 2 SGB X dehnt die Heilungsmöglichkeit vielmehr rein zeitlich aus, ohne aber das Gericht gleichzeitig zwingend und unbesehen der Voraussetzung der Sachdienlichkeit im Sinne einer Verfahrenskonzentration zur Ermöglichung der Heilung zu verpflichten (vgl Knittel in Hennig, SGG, Stand September 2010, § 114 SGG RdNr 15b).
c) Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe hat das LSG die Aussetzung mangels Sachdienlichkeit im Sinne der Verfahrenskonzentration im Ergebnis zu Recht abgelehnt. Es kann dahingestellt bleiben, ob - wie das LSG meint - diese Voraussetzung schon deshalb nicht vorliegt, weil mit einer weiteren Verzögerung des Verfahrens zu rechnen sei. Bei der vom Senat für erforderlich gehaltenen engen Interpretation der tatbestandlichen Voraussetzungen der Aussetzung nach § 114 Abs 2 S 2 SGG aus den vorstehenden Gründen ist eine Sachdienlichkeit im Sinne einer Verfahrenskonzentration jedenfalls schon deshalb zu verneinen, weil kein weiteres Verwaltungs- und Gerichtsverfahren in der gleichen Sache drohte, welches durch die Aussetzung zur Heilung des Anhörungsmangels überflüssig würde. Dem steht die Jahresfrist des § 45 Abs 4 S 2 SGB X entgegen, wonach die Behörde eine Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen vornehmen muss, welche dies rechtfertigen.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG waren dem Beklagten zum Zeitpunkt seines Aussetzungsantrags vom 26.3.2015 auch diejenigen (weiteren) Tatsachen, die § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB X für die Rücknahme für die Vergangenheit voraussetzt, länger als ein Jahr bekannt. Die den Beginn der Jahresfrist bestimmende Kenntnis ist nach der Rechtsprechung des BSG dann anzunehmen, wenn mangels vernünftiger objektiv gerechtfertigter Zweifel eine hinreichend sichere Informationsgrundlage bezüglich sämtlicher für die Rücknahmeentscheidung notwendiger Tatsachen besteht (BSG Urteil vom 27.7.2000 - B 7 AL 88/99 R - SozR 3-1300 § 45 Nr 42, S 139). Der Einjahreszeitraum beginnt in jedem Fall schon dann, wenn die Behörde der Ansicht ist, dass ihr die vorliegenden Tatsachen für eine Rücknahme bzw Aufhebung der Bewilligung genügen (BSG Urteil vom 6.4.2006 - B 7a AL 64/05 R - juris RdNr 13 mwN), denn es ist insoweit vorrangig auf den Standpunkt der Behörde abzustellen (Padé in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2013, § 45 RdNr 108 mwN). Vor diesem Hintergrund kann die Aussetzung zur Durchführung eines förmlichen Anhörungsverfahrens auf den erst am 26.3.2015 gestellten Antrag des Beklagten jedenfalls nicht mehr als im Sinne der Verfahrenskonzentration sachdienlich angesehen werden, weil dies im Ergebnis zu einer Umgehung der Rücknahmefrist des § 45 Abs 4 S 2 SGB X führen würde.
Da demnach bereits die Tatbestandsvoraussetzung der Sachdienlichkeit im Sinne der Verfahrenskonzentration für die Aussetzung nach § 114 Abs 2 S 2 SGG nicht vorlag, kommt es auf das weitere Vorbringen des Beklagten nicht mehr an, dass sich das Aussetzungsermessen auf Null reduziert habe, weil der Hinweis auf die Anhörungsproblematik verspätet gewesen sei.
3. Die Rüge des Beklagten, das LSG habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, indem es 17 Monate versäumt habe, auf die Anhörungsproblematik einzugehen und Heilungsmöglichkeiten - auch durch Aussetzung des Verfahrens nach § 114 SGG - aufzuzeigen, greift nicht durch.
Gemäß § 62 Halbs 1 SGG, der dem schon in Art 103 Abs 1 GG verankerten prozessualen Grundrecht entspricht (zur verfassungsrechtlichen Verankerung und den Dimensionen des rechtlichen Gehörs: Neumann in Hennig, SGG, § 62 RdNr 6 ff, Stand Juni 2015), ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung des Gerichts das rechtliche Gehör zu gewähren. Die richterliche Hinweispflicht (§ 106 Abs 1 SGG) konkretisiert den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Hauck in Hennig, SGG, § 106 RdNr 10, Stand September 2010) und zielt mit dieser Funktion insbesondere auf die Vermeidung von Überraschungsentscheidungen. Eine den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzende Überraschungsentscheidung liegt jedoch nur vor, wenn das Urteil auf Gesichtspunkte gestützt wird, die bisher nicht erörtert worden sind, und dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt (BSG Urteil vom 12.12.1990 - 11 RAr 137/89 - SozR 3-4100 § 103 Nr 4 S 23 mwN; vgl auch Beschluss des Senats vom 27.9.2011 - B 4 AS 42/11 B).
Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor, wie schon der Aussetzungsantrag des Beklagten zeigt. Eine allgemeine Pflicht des Gerichts, auf die Beseitigung von Verfahrens- und Formfehlern des Verwaltungsverfahrens einer Behörde hinzuwirken, besteht nicht (vgl zu gesteigerten Hinweispflichten auf prozessuale Rechte nur bei erkennbar nicht rechtskundig vertretenen Beteiligten: Neumann in Hennig, SGG, § 62 RdNr 65, Stand Juni 2015; vgl zur Gefahr der Annahme einer Parteilichkeit: Hauck in Hennig, SGG, § 106 RdNr 9, Stand September 2010). Die von dem Beklagten geltend gemachte Hinweispflicht des LSG setzte zudem eine tatsächliche und rechtliche Würdigung voraus, die sich regelmäßig erst auf Grund einer abschließenden Beratung des Gerichts ergeben kann (vgl hierzu BVerwG Beschluss vom 21.9.2011 - 5 B 11/11, RdNr 3). Auch war das Erfordernis einer ordnungsgemäßen Anhörung den Beteiligten als zu berücksichtigender Umstand bekannt, sodass richterliche Hinweispflicht zur Beantragung einer Aussetzung nach § 114 SGG zum Zweck der Nachholung der fehlenden Handlung ebenfalls nicht bestand (vgl auch Wehrhahn in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl 2014, § 114 RdNr 11).
In gleicher Weise liegt die vom Beklagten gerügte Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör durch einen mit zu kurzer Frist vor der mündlichen Verhandlung erfolgten Hinweis des Berichterstatters des LSG im Schreiben vom 13.3.2015 nicht vor. Die erfolgreiche Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs setzt voraus, dass der Betroffene alles getan hat, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen. Dazu gehört es regelmäßig auch, ggf einen Verlegungs- bzw Vertagungsantrag zu stellen (vgl BVerwG Beschluss vom 21.9.2011 - 5 B 11/11 - Juris RdNr 7; vgl BSG Beschluss vom 1.6.2011 - B 4 AS 82/11 B, RdNr 14). Einen solchen Verlegungs- bzw Vertagungsantrag oder einen Antrag auf Einräumung einer Frist für eine weitere schriftsätzliche Stellungnahme hat der Beklagte jedoch weder nach dem gerichtlichen Hinweis im Vorfeld zur mündlichen Verhandlung noch in der Verhandlung vor dem LSG gestellt. Die gerügte Verletzung rechtlichen Gehörs wegen einer zu kurzen Frist zwischen dem gerichtlichen Hinweis vom 13.3.2015 auf die Anhörungsproblematik des § 24 SGB X und der anberaumten mündlichen Verhandlung des LSG am 26.3.2015 greift daher nicht durch.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 9901586 |
BSGE 2018, 25 |