Verfahrensgang
LSG Berlin (Urteil vom 16.11.1995) |
SG Berlin (Urteil vom 05.01.1995) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 16. November 1995 aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen das
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger auch in der Zeit vom 1. Oktober 1991 bis zum 31. Januar 1992 ein Recht auf Halbwaisenrente gegen die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) zusteht.
Der am 29. September 1973 geborene Kläger besuchte bis zum Sommer 1991 das K. … -Gymnasium in B., … er verließ diese Schule nach der 9. Klasse ohne Schulabschluß. Eine Lehrstelle konnte ihm wegen des fehlenden Schulabschlusses nicht vermittelt werden. Eine Aufnahme in das L. … -Kolleg zur Erreichung des Hauptschulabschlusses scheiterte, da er die insoweit anfallenden Kosten – nach seinen Angaben – nicht aufbringen konnte. Mit Hilfe einer Fördermaßnahme des Arbeitsamtes (ArbA) nahm er ab 3. Februar 1992 an einem Kurs zur Erlangung des Schulabschlusses teil.
Unter dem 30. November 1983 war dem Kläger eine Halbwaisenrente nach seiner verstorbenen Mutter E. … L. … bewilligt worden. Die Beklagte hob diese Bewilligung am 6. September 1991 für die Zeit ab 1. Oktober 1991 auf, weil der Kläger das 18. Lebensjahr vollendet und nicht nachgewiesen habe, daß er sich in Schul- oder Berufsausbildung befinde.
Im März 1992 beantragte der Kläger die Wiedergewährung der Waisenrente für die Zeit ab 1. Oktober 1991. Die Beklagte bewilligte ihm mit Bescheid vom 8. September 1992 das Recht auf diese Rente ab 1. Februar 1992; zugleich lehnte sie den Antrag für den davorliegenden Zeitraum ab, weil die weitere Ausbildung nicht innerhalb von vier Kalendermonaten nach Vollendung des 18. Lebensjahres aufgenommen worden sei. Der insoweit eingelegte Widerspruch hatte keine Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 22. Februar 1993).
Das Sozialgericht Berlin (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 5. Januar 1995) und ausgeführt: Der Kläger habe sich in dem streitigen Zeitraum nicht in einer Schul- oder Berufsausbildung befunden. Die Zeit von Oktober 1991 bis Januar 1992 sei auch keine der Ausbildung zuzurechnende sog unvermeidbare Zwangspause. Denn diese Pause sei nicht durch schul- bzw hochschulorganisatorische Gründe verursacht gewesen. Das Landessozialgericht Berlin (LSG) hat durch Urteil vom 16. November 1995 das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Halbwaisenrente über den 30. September 1991 hinaus bis zum 31. Januar 1992 zu gewähren. Es hat im wesentlichen die Auffassung vertreten: Der streitige Zeitraum stelle eine sog unvermeidbare Zwangspause dar. Die Vollendung des 18. Lebensjahres sei dem Ende eines Ausbildungsabschnittes gleichzustellen. Die sich anschließende Pause bis zum Beginn der Maßnahme des ArbA sei für den Kläger unvermeidbar gewesen. Er habe das Gymnasium ohne Schulabschluß verlassen, habe sich erfolglos um eine Lehrstelle und dann um das Erreichen eines Schulabschlusses bemüht. Hierzu habe erst ab 3. Februar 1992 die Möglichkeit bestanden. Regulärer Schulbeginn sei in B. … nämlich bereits der 19. August 1991 gewesen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 44 Abs 1 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG)/§ 48 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) und trägt vor:
Entgegen der Auffassung des LSG habe der Kläger keinen Anspruch auf Waisenrente für eine vier Monate überschreitende ausbildungsfreie Übergangszeit zwischen Vollendung des 18. Lebensjahres und Beginn einer weiteren Schulausbildung. Zu Unrecht habe sich das LSG insoweit auf eine Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. März 1994 (4 RA 45/92 = SozR 3-2200 § 1267 Nr 3) berufen. Diese betreffe ausschließlich eine wehr-/zivildienstbedingte Zwangspause. Im übrigen habe der Senat an seiner früheren Entscheidung (Urteil vom 22. Februar 1990 – 4 RA 38/89 = SozR 3-2200 § 1267 Nr 1) festgehalten, nach der eine Übergangszeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten grundsätzlich nur zu berücksichtigen sei, wenn der nächste Ausbildungsabschnitt im vierten auf die Beendigung des vorherigen Ausbildungsabschnitts folgenden Monat beginne. Der Begriff der Berufsausbildung in § 2 Abs 2 Satz 4 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) bzw § 2 Abs 2 Satz 5 BKGG (jeweils aF) sei einheitlich auch im Rahmen eines Anspruchs auf Waisenrente anzuwenden. Der dort genannte Zeitraum konkretisiere lediglich den üblichen und zeitlich überschaubaren unschädlichen Zeitraum zwischen zwei Ausbildungsabschnitten bei unvermeidbaren Zwangspausen. Eine unvermeidbare Zwangspause sei der hier streitige Zeitraum nicht gewesen. Weder habe er zwischen zwei Ausbildungsabschnitten gelegen, noch sei diese Pause durch strukturelle oder organisatorische Zwänge in der Schul- oder Berufsausbildung verursacht worden. Vielmehr sei diese Zwischenzeit durch das Verhalten des Klägers begründet gewesen; er habe den Schulbesuch am Ende des 9. Schuljahres abgebrochen und sich erst im September 1991, nach Beginn des neuen Schuljahres, nach der Möglichkeit der Erlangung eines Schulabschlusses erkundigt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 16. November 1995 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 5. Januar 1995 zurückzuweisen.
Der Kläger ist anwaltlich nicht vertreten. Sein Bevollmächtigter, dh sein Vater, hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat Gelegenheit erhalten, seine Sicht der Sach- und Rechtslage darzustellen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Das angefochtene Urteil des LSG ist aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen. Das SG hat zutreffend entschieden, daß die Ablehnung der Wiedergewährung des Rechts auf Halbwaisenrente durch die Beklagte rechtmäßig, die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage des Klägers also unbegründet war. Denn ihm steht entgegen der Auffassung des LSG in der Zeit vom 1. Oktober 1991 bis 31. Januar 1992 kein Recht auf eine (Halb-)Waisenrente zu.
Nach § 44 Abs 1 Satz 2 AVG, der hier gemäß § 300 Abs 2 SGB VI anzuwenden ist (vgl § 48 Abs 4 SGB VI), erhalten nach dem Tode des Versicherten seine Kinder bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres eine Waisenrente; diese wird längstens bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres für ein Kind gewährt, das sich ua in Schul- oder Berufsausbildung befindet. Da der Kläger während des og Zeitraums keine Berufs- oder Schulausbildung erhalten (und keinen gleichgestellten Verlängerungstatbestand erfüllt) hat, könnte ihm das begehrte Recht nur zustehen, wenn es sich bei dieser Zeit um eine noch der Ausbildung zuzurechnende Zwischenzeit, eine sog unvermeidbare Zwangspause, gehandelt hätte. Das ist aber nicht der Fall:
Die Rechtsprechung hat den Tatbestand der Schul- oder Berufsausbildung wegen des regelmäßig nicht mehr nahtlosen Übergangs zwischen zwei Ausbildungsabschnitten im Wege der ausdehnenden Auslegung auf organisationsbedingt typische Unterbrechungen der Ausbildung, vor allem auch auf eine deswegen nicht vermeidbare Zwischenzeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten erstreckt, insbesondere – aber nicht nur – auf die Zwangspause zwischen Abitur und nächstmöglichen Beginn eines Hochschulstudiums. Soweit die staatliche bzw gesellschaftliche Organisation der verschiedenen Ausbildungsgänge einen zeitlich „nahtlosen” Übergang von einem Ausbildungsabschnitt zum nächsten von vornherein und für jeden Ausbildungswilligen nicht zuläßt, wird diese objektiv für jeden unvermeidbare Zwangspause der Ausbildung zugeordnet. Es wird den Betroffenen nicht angelastet, daß sie aufgrund von Umständen, für die kein Ausbildungswilliger verantwortlich ist, ihre Ausbildung nicht sofort fortsetzen können. Daher sind diese Zwangspausen für das Recht auf Waisenrente – unter bestimmten weiteren Voraussetzungen – für die Dauer von bis zu vier Monaten unschädlich (vgl hierzu BSG SozR 3-2200 § 1267 Nr 1). Ausgehend vom Leitbild einer einheitlichen, notwendig zusammenhängenden Schul- und Hochschulausbildung ist die unvermeidliche Zwischenzeit im Grunde wie die zur Schul- und Hochschulausbildung gehörenden Schul- und Semesterferien behandelt worden. Dabei wurde zugleich der im SGB anderweitig vorgegebene zeitliche Rahmen für eine derartige Zwangspause (entsprechend § 2 Abs 2 Satz 4 aF bzw Satz 5 aF BKGG) übernommen; deutlich wurde damit auch, daß die Versichertengemeinschaft nicht für jede Unterbrechung der Ausbildung einzustehen hat, insbesondere nicht für eine solche, die sich im Einzelfall – wie beim Kläger – aufgrund der Entwicklung des individuellen Ausbildungsgeschehens ergibt, sondern nur für diejenige, die generell unvermeidbar, organisationsbedingt typisch und dementsprechend häufig vorkommt (vgl BSG SozR 3-2200 § 1267 Nr 3 mwN). Infolgedessen bleiben die jeweiligen individuellen Verhältnisse im Ausbildungsgang der jeweiligen Waise unberücksichtigt (vgl BSG SozR 2200 § 1259 Nr 81; SozR 3-2200 § 1267 Nrn 1 und 3).
Im streitigen Zeitraum vom 1. Oktober 1991 bis 31. Januar 1992 mußte der Kläger keine unvermeidbare Zwangspause hinnehmen. Er hat im Sommer 1991, nach der 9. Klasse, das Gymnasium ohne Abschluß verlassen. Deswegen hat die Fortsetzung der Schulausbildung, ggf an einer anderen Schule, sich verzögert bzw sich keine Möglichkeit ergeben, eine Lehre anzutreten. Er hat sich erst später um eine Fortsetzung der Schulausbildung bemüht und sodann keine aufnahmebereite Schule (bzw ein Kolleg) gefunden, an der er einen Schulabschluß hätte erlangen können. Dies alles sind allein individuelle, personenbezogene Gründe; eine Zwangspause, in welcher aufgrund der staatlichen bzw gesellschaftlichen Organisation der Schul- oder Berufsausbildung die Ausbildung für jedermann unvermeidbar unterbrochen gewesen wäre, gab es hingegen nicht.
Da dem Kläger mithin kein Recht auf eine (Halb-)Waisenrente für den og Zeitraum zustand, mußte die Revision der Beklagten Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen