Entscheidungsstichwort (Thema)
Merkzeichen aG. Gehfähigkeit. Doppelunterschenkelamputierter. Herzbeschwerden. Beweisantrag. Amtsermittlung. Sachverständigengutachten. Beweiswürdigung
Leitsatz (redaktionell)
Sind nach einem Antrag des Klägers auf Einholung eines Gutachtens weitere medizinische Unterlagen in das Verfahren einbezogen worden, muss der Kläger ausdrücklich erklären, dass er an seinem Beweisantrag festhalte, andernfalls ist der Antrag überholt und vom Gericht nicht mehr zu berücksichtigen.
Normenkette
SchwbG § 4 Abs. 4; SGB IX § 69 Abs. 4; SGG §§ 103, 128 Abs. 1 S. 1
Beteiligte
die Bezirksregierung Münster, Abteilung Soziales und Arbeit, Landesversorgungsamt |
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. Juni 2001 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über die Verpflichtung des Beklagten zur Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen außergewöhnliche Gehbehinderung (aG).
Bei dem 1920 geborenen, mit zwei Knieendoprothesen versorgten Kläger hatte der Beklagte 1995 einen Grad der Behinderung von 100 und das Merkzeichen G. festgestellt, die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG dagegen verneint. Mit Bescheid vom 16. März 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Juni 1998 lehnte der Beklagte erneut die Feststellung der gesetzlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG ab.
Im Klageverfahren hat das Sozialgericht Düsseldorf (SG) im Mai 1999 ein orthopädisches Fachgutachten des gerichtlichen Sachverständigen Dr. B. eingeholt und die Klage mit Urteil vom 2. Dezember 1999 abgewiesen. Vor dem Landessozialgericht (LSG) hat der Kläger die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens („Obergutachtens”) beantragt. In der Folgezeit legten beide Beteiligten ärztliche Stellungnahmen vor, der Beklagte eine gutachtliche Stellungnahme des Facharztes für Chirurgie Dr. W. vom 10. April 2000, der Kläger ein Privatgutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. P. vom 30. Mai 2000. In diesem Gutachten heißt es, dass sich aus der Aussage des Klägers, „Gehstrecken von 50, sogar 200 m” seien „durchaus im Rahmen des Möglichen”, nicht ableiten lasse, dass grundsätzlich Gehfähigkeit bis zu einer Wegstrecke von ca 200 m bestehe. Es sei sehr viel eher davon auszugehen, dass die Belastungsfähigkeit sich in der Größenordnung von ca 50 m bewegen werde. Zu diesem Privatgutachten hat der Beklagte eine weitere Stellungnahme des Dr. W. vom 25. Juli 2000 vorgelegt. Den zunächst für den 6. März 2001 angesetzten Termin zur mündlichen Verhandlung verschob das LSG auf den 5. Juni 2001, weil der Kläger Ende Februar mitgeteilt hatte, ihm sei nach Herzbeschwerden (Synkope) ein Herzschrittmacher implantiert worden. Im Zusammenhang mit den Herzproblemen habe er sich das rechte Bein gebrochen. In der mündlichen Verhandlung vom 5. Juni 2001 ließ der Kläger ein Attest seines behandelnden Allgemeinarztes Dr. H. vom 17. Mai 2001 vorlegen, wonach er „wegen multipler orthopädischer und kardialer Erkrankungen” nicht in der Lage sei, zum Gerichtstermin anzureisen bzw der Gerichtsverhandlung beizuwohnen.
Mit am selben Tage ergangenem Urteil hat das LSG die Berufung zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen führt es im Wesentlichen aus, der Kläger könne noch Wegstrecken von 100 bis 300 m zurücklegen, wie er es dem gerichtlichen Sachverständigen Dr. B. gegenüber angegeben habe. Seither seien keine Anzeichen für eine Verschlechterung erkennbar. Auch die vom Kläger während des Berufungsverfahrens durchgemachten Erkrankungen begründeten auf Dauer keine außergewöhnliche Gehbehinderung. Der Kläger sei keinem der in Abschnitt II Nr 1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 46 Abs 1 Nr 11 Straßenverkehrsordnung (Verwaltungsvorschrift) genannten Behinderten – auch nicht einem Doppelunterschenkelamputierten – gleichzustellen.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Kläger, das Berufungsgericht habe § 6 Abs 1 Nr 14 Straßenverkehrsgesetz iVm Abschnitt II Nr 1 der Verwaltungsvorschrift verletzt und macht im Wesentlichen geltend: Er sei dem in der Verwaltungsvorschrift aufgeführten Personenkreis gleichzustellen. Dr. B. habe die Voraussetzungen für eine Gleichstellung mit diesem Personenkreis zwar verneint, seine Aussage aber nicht nachvollziehbar begründet. Außerdem stehe sein Gutachten im Gegensatz zu dem Gutachten des Dr. P. vom 30. Mai 2000, dessen Beurteilung auf der Grundlage der erhobenen Befunde ausgiebig und nachvollziehbar begründet sei. Im Übrigen habe das LSG den mit Schriftsatz vom 17. März 2000 gestellten Antrag auf eine neue Begutachtung übergangen.
Er beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. Juni 2001, das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 2. Dezember 1999 sowie den Bescheid des Beklagten vom 16. März 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Juni 1998 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei dem Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision ist unbegründet. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG liegen nicht vor.
Der Kläger hat die – angeblich nicht gesetzmäßige – Vertretung des beklagten Landes nicht fristgerecht gerügt, sondern erstmals nach Ablauf der bis zum 24. Oktober 2001 verlängerten Revisionsbegründungsfrist. Diese Rüge ist, da verspätet, unbeachtlich (vgl Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, RdNr 80 mwN).
Das Merkzeichen aG ist gemäß § 4 Abs 4 Schwerbehindertengesetz (heute gemäß dem insoweit inhaltsgleichen § 69 Abs 4 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen –) iVm der Verwaltungsvorschrift von den für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden festzustellen. Unter Abschnitt II Nr 1 der Verwaltungsvorschrift heißt es: „Als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind.” Nach der Rechtsprechung des Senats (SozR 3870 § 3 Nr 11; SozR 3-3870 § 4 Nr 22 und BSGE 82, 37 = SozR 3-3870 § 4 Nr 23) müssen diejenigen Schwerbehinderten, die in der Aufzählung der Verwaltungsvorschrift nicht ausdrücklich genannt sind, dann gleichgestellt werden, wenn ihre Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und sie sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Abschnitt II Nr 1 Satz 2 1. Halbsatz der Verwaltungsvorschrift aufgeführten Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen können. Zwar genügt es, wenn der Behinderte hinsichtlich seiner Gehfunktionen ebenso eingeschränkt ist wie der Angehörige nur einer der in der Verwaltungsvorschrift genannten Gruppen. Das gilt insbesondere für die Gruppe der Doppelunterschenkelamputierten (Urteil des Senats vom 17. Dezember 1997, SozR 3-3870 § 4 Nr 22). Auch in diesem Fall muss aber die Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt sein, sodass sich ein Vergleich mit Doppelunterschenkelamputierten, bei denen dieses nicht der Fall ist, verbietet, mag auch aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung bei Personen, die dieser Untergruppe angehören, eine besondere Prüfung des Gehvermögens unterbleiben.
Das angefochtene Urteil lässt nicht erkennen, dass das LSG die vorstehend aufgezeigten Maßstäbe verkannt hätte. Es hat – anders als das LSG in dem vom Senat am 17. Dezember 1997 aaO entschiedenen Fall – auch nicht festgestellt, dass der Kläger wegen seiner Gehbehinderung einem Doppelunterschenkelamputierten mit erheblich eingeschränktem Gehvermögen gleichzustellen wäre. Das LSG hält die Gebehinderung des Klägers vielmehr für geringer. Diese Feststellungen sind für den Senat bindend (§ 163 SGG). Der Kläger hat sie nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen.
Das gilt zunächst für die Rüge, das LSG habe über den mit Schriftsatz vom 17. März 2000 gestellten Antrag auf eine neue Begutachtung keine Entscheidung getroffen. Der genannte Schriftsatz enthält die Berufungsbegründung und den Antrag, „die Erstellung eines Obergutachtens anzuordnen”. Einer Ablehnung dieses Antrags durch Beschluss oder durch ausdrückliche Erwähnung im Urteil bedurfte es nicht. Der Antrag war inzwischen durch Vorlage neuer ärztlicher Stellungnahmen überholt, nämlich derjenigen des Dr. W. vom 10. April 2000 und des Privatgutachtens des Dr. P. vom 30. Mai 2000 sowie der hierzu vom Beklagten vorgelegten weiteren Stellungnahme des Dr. W. vom 25. Juli 2000. Das LSG durfte den Antrag daher stillschweigend als erledigt ansehen. Wenn der Kläger beabsichtigt haben sollte, trotz des inzwischen eingegangenen Beweismaterials an seinem im März 2000 gestellten Beweisantrag festzuhalten, hätte er dies gegenüber dem LSG ausdrücklich erklären oder in der mündlichen Verhandlung am 5. Juni 2001 seinen Antrag wiederholen müssen (vgl zB SozR 3-1500 § 160 Nr 29). Dies ist indessen nicht geschehen. Der Kläger hat sich vielmehr auf das Gutachten des Dr. P. vom 30. Mai 2000 bezogen und die Verurteilung des Beklagten auf Grund dieses Gutachtens begehrt.
Die Rüge der unzureichenden Sachaufklärung (Verletzung des § 103 SGG) hat der Kläger ausdrücklich erst in seinem nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist am 24. Oktober 2001 beim Revisionsgericht eingegangenen Schriftsatz vom 25. Januar 2002 erhoben. Wollte man aber selbst darin, dass der Kläger in seinem Schriftsatz vom 16. Oktober 2001 auf seinen Antrag vom 17. März 2000 Bezug nimmt (mit dem er allerdings ausdrücklich nur die Behandlung, nicht aber die Befolgung dieses Antrags geltend gemacht hat), bereits eine Rüge der Verletzung des § 103 SGG durch das LSG sehen, so wäre sie nicht begründet. Denn das LSG brauchte sich nicht gedrängt zu fühlen, weitere Ermittlungen anzustellen. In dem Gutachten des Dr. B. wurden die Gesundheitsstörungen des Klägers erschöpfend dargestellt und gewürdigt, einschließlich der beim Kläger bestehenden Herzbeschwerden. Anhaltspunkte für eine Zunahme der dauernden Beeinträchtigung des Klägers beim Gehen, die das LSG zur Erhebung weiterer Befunde hätten veranlassen müssen, lagen nicht vor. Das gilt auch für die im Februar 2001 mitgeteilten Befunde. Was die Synkope (Bewusstseinsverlust) im Zusammenhang mit Herzbeschwerden angeht, ist nicht zu erkennen, dass das LSG die Nachricht von einem akuten Symptom des bereits bekannten und inzwischen durch einen Herzschrittmacher behandelten Herzleidens zum Anlass nehmen musste, der Frage nachzugehen, inwieweit die Herzbeschwerden im Vergleich zu den von Dr. B. erhobenen Befunden die Gehfähigkeit des Klägers nunmehr stärker beeinträchtigten. Entsprechendes gilt von dem im Februar 2001 mitgeteilten, vom Kläger im Zusammenhang mit den Herzbeschwerden erlittenen Beinbruch rechts. Mangels substantiierter Angaben des Klägers durfte das LSG davon ausgehen, dass die mitgeteilte Fraktur – wie im Regelfall – in den über drei Monaten bis zur mündlichen Verhandlung am 5. Juni 2001 verheilt war, ohne eine zusätzliche dauernde Beeinträchtigung des Gehvermögens zu hinterlassen. Auch aus dem vom Bevollmächtigten des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 5. Juni 2001 überreichten Attest des Hausarztes Dr. H. geht nichts anderes hervor. Der Kläger hat dieses ärztliche Zeugnis auch nicht etwa zum Anlass genommen, die Vertagung der Streitsache zur weiteren Sachermittlung zu beantragen, sondern einen Sachantrag gestellt. Nicht einmal in der Revisionsinstanz hat der Kläger einen Hinweis auf einen atypischen Heilungsverlauf des fraglichen Knochenbruchs gegeben, sondern lediglich vorgetragen, dass auch der erlittene Beinbruch für sich allein nicht zu einer Gleichstellung mit der „erwähnten” (gemeint: in der Verwaltungsvorschrift aaO genannten) Personengruppe führen könne.
Auch das – dem Gutachten des Dr. B. letztlich nur im Ergebnis widersprechende – Gutachten des Dr. P. brauchte das LSG nicht zur Einholung eines neuen Sachverständigengutachtens zu veranlassen, da ihm keine Verschlechterung der objektiven medizinischen Befunde – insbesondere hinsichtlich der Lendenwirbelsäule – zu entnehmen ist und es dem Gutachten des Dr. B. im Wesentlichen nur in der abschließenden Bewertung der erhobenen Befunde widerspricht. Das LSG erfuhr durch das Gutachten des Dr. P. nicht neue, von Dr. B. (noch) nicht berichtete medizinische Befunde, sondern lediglich andere subjektive Angaben des Klägers. Das gilt insbesondere, soweit der Sachverständige Dr. P. – im Gegensatz zu den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Dr. B. – von einem Gehvermögen von nur noch etwa 50 m ausgeht. Diese Feststellung fußt auf den Angaben des Klägers, denen aber das LSG angesichts der gleich gebliebenen objektiven Befunde nicht zu folgen brauchte. Entsprechendes gilt für die subjektiven Beschwerden des Klägers bei der Benutzung von Gehhilfen. Die vom Kläger in seinem nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist eingereichten Schriftsatz vom 15. November 2001 mitgeteilten weiteren Befunde können in der Revisionsinstanz schon deswegen nicht berücksichtigt werden, weil der Senat keine neuen Tatsachen zur Kenntnis nehmen darf, sondern an die Feststellungen des LSG gebunden ist (§ 163 SGG).
Auch die Rüge des Klägers, der gerichtliche Sachverständige Dr. B. habe die Ablehnung der Gleichstellung auf Grund der von ihm vorgenommenen Untersuchung nicht nachvollziehbar begründet, zwingt nicht zu der Annahme, das LSG hätte sich zu weiteren Ermittlungen gedrängt fühlen müssen. Denn Dr. B. hat sämtliche Gesundheitsstörungen des Klägers erhoben und ihre Auswirkungen auf die Gehfähigkeit des Klägers festgestellt. Die abschließende Beurteilung, ob der Kläger deswegen den in der Verwaltungsvorschrift genannten Personen gleichzustellen sei, hat der Sachverständige nur – daran kann kein Zweifel bestehen – unter Zugrundelegung sämtlicher zuvor von ihm festgestellter Beeinträchtigungen vorgenommen.
Entgegen der Auffassung des Klägers hat das LSG auch nicht die ihm in § 128 Abs 1 Satz 1 SGG eingeräumte Befugnis, die Beweise frei zu würdigen, überschritten. Aus den – in diesem Zusammenhang allein zu berücksichtigenden – Ausführungen in dem – vor Ablauf der Revisionsbegründungsfrist eingegangenen – Schriftsatz vom 16. Oktober 2001 wird nicht erkennbar, inwiefern das LSG gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen haben soll. Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang ferner geltend macht, das LSG hätte ein weiteres Sachverständigengutachten einholen müssen, wird auf die zuvor gemachten Ausführungen Bezug genommen.
Die Kostenentscheidung fußt auf § 193 SGG.
Fundstellen