Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 14.02.1989) |
SG Münster (Urteil vom 04.03.1988) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 14. Februar 1989 aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 4. März 1988 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob die Beklagte dem Kläger zu Recht die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Dezember 1985 entzogen hat.
Der 1934 geborene Kläger erlitt am 3. März 1972 einen schweren Verkehrsunfall. Die Beklagte gewährte ihm zunächst Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit bis zum 31. März 1974, führte sodann mehrmonatige Rehabilitationsmaßnahmen durch und bewilligte schließlich zeitlich unbefristete Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (Bescheid vom 8. September 1977).
Im September 1979 teilte der Kläger der Beklagten mit, daß er seit dem 1. Juli 1977 bei der Firma C. … -W. … arbeite. Die Beklagte veranlaßte hierauf eine Stellungnahme des Medizinaldirektors Dr. N. …, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, vom 21. Dezember 1979. Er kam zu dem Ergebnis, daß beim Kläger keine Besserung seit der Berentung eingetreten sei. Auch sei keine Besserung zu erwarten. In prüfärztlichen Stellungnahmen vom 1. und 11. Februar 1980 vertrat Dr. H. … die Meinung, der Kläger führe Arbeiten unter betriebsüblichen Bedingungen zu Lasten seiner Restgesundheit aus. Der Kläger könne keine Arbeiten von wirtschaftlichem Wert verrichten. Mit Schreiben vom 2. Juli 1985 teilte die Beklagte dem Kläger mit, sie beabsichtige, ihm die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zukunft zu entziehen, weil durch die Aufnahme einer Beschäftigung eine wesentliche Änderung gegenüber den für die Rentengewährung maßgeblichen Verhältnissen eingetreten sei. Der vom Kläger erbrachten Arbeitsleistung komme insoweit ein höherer Beweiswert zu, als der medizinischen Befundlage. Der Kläger erwiderte, er arbeite auf Kosten der Gesundheit. Aufgrund der hierauf von der Beklagten veranlaßten Untersuchung kam Dr. K. … in seinem neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 16. September 1985 zu dem Ergebnis, der Kläger arbeite seit 1977 nicht auf Kosten seiner Gesundheit. Er könne seinen erlernten Beruf als Elektroinstallateur nicht mehr ausüben. Doch sei er in der Lage, leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt im Sitzen vollschichtig mit den üblichen Pausen zu verrichten, wobei Wechsel- oder Nachtschicht sowie besonderer Zeitdruck, häufiges Bücken, Klettern oder Steigen, häufiges Heben, Tragen und Bewegen von Lasten ohne mechanische Hilfsmittel entfallen müßten und eine volle Gebrauchsfähigkeit beider Hände nicht verlangt werden dürfe. Auch dürfe keine Absturzgefahr bestehen. Dr. H. … führte in seiner prüfärztlichen Stellungnahme vom 24. September 1985 aus, die derzeitige Tätigkeit werde vom Kläger nicht auf Kosten seiner Gesundheit ausgeübt. Die Ergebnisse der Gutachten Dr. K. … und Dr. H. … teilte die Beklagte dem Kläger nicht zur Stellungnahme mit. Sie entzog vielmehr – gestützt auf die Auffassung ihrer medizinischen Sachverständigen – mit Bescheid vom 8. Oktober 1985 dem Kläger die Rente mit Ablauf des auf die Zustellung des Bescheides folgenden Monats (Ende November 1985).
Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid der Beklagten aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger über den 30. November 1985 hinaus Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren (Urteil vom 4. März 1988). Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 14. Februar 1989). Es hat im wesentlichen ausgeführt: Eine tatsächliche Änderung der Verhältnisse liege beim Kläger in dem Umstand, daß seit Aufnahme seiner Tätigkeit bei der Firma C. … eine Gewöhnung an die dort verrichtete Erwerbsarbeit eingetreten sei. Er übe seine Tätigkeit nicht auf Kosten seiner Restgesundheit aus. § 24 Abs 1 des Sozialgesetzbuches -Verwaltungsverfahren- (SGB X) sei nicht verletzt.
Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt Verletzungen der §§ 24, 48 SGB X sowie der §§ 1246, 1286 der Reichsversicherungsordnung (RVO) durch das Berufungsgericht.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 4. März 1988 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die durch Zulassung statthafte Revision des Klägers ist begründet.
Der angefochtene Rentenentziehungsbescheid vom 8. Oktober 1985 ist schon deswegen als rechtswidrig aufzuheben, weil die gemäß § 24 Abs 1 SGB X zwingend erforderliche Anhörung des Klägers vor Erlaß dieses Bescheides seitens der Beklagten unterblieben ist. Die Verletzung der Anhörungspflicht im Verwaltungsverfahren führt – wie der Große Senat (GS) des Bundessozialgerichts (BSG) mit Beschluß vom 19. Februar 1992 (GS 1/89) entschieden hat -zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes und ist deshalb bei der Entscheidung des Gerichts auch dann zu berücksichtigen, wenn sich der Betroffene nicht darauf berufen hat.
Nach § 24 Abs 1 SGB X hat die Beklagte vor Erlaß eines in die Rechte eines Beteiligten eingreifenden Verwaltungsaktes, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. „Entscheidungserheblich” im Sinne dieser Vorschrift sind alle Tatsachen, auf welche der Versicherungsträger den Verfügungssatz der Entscheidung zumindest auch gestützt hat oder auf die es nach seiner materiell-rechtlichen Ansicht objektiv ankommt (so ständige Rechtsprechung des BSG, vgl zuletzt BSGE 69, 247, 252 = SozR 3-1300 § 24 Nr 4 mwN). Da die Beklagte den Rentenentziehungsbescheid vom 8. Oktober 1985 erstmals auf die Ansicht medizinischer Sachverständiger gestützt hat, hätte dem Kläger das Ergebnis der durchgeführten ärztlichen Untersuchungen mitgeteilt werden müssen (so bereits BSG in SozR 1300 § 24 Nr 4 mwN). Dies ist nicht geschehen. Denn die dem Kläger vor der Rentenentziehung allein zugegangene Mitteilung der Beklagten vom 2. Juli 1985 über eine beabsichtigte Rentenentziehung wird nur mit der vom Kläger aufgenommenen Beschäftigung und gerade nicht mit dem Ergebnis ärztlicher Untersuchungen begründet. Entgegen der vom LSG vertretenen Auffassung genügt deshalb diese Mitteilung keineswegs den von der genannten Rechtsprechung des BSG an die Anhörungspflicht der Beklagten gestellten Anforderungen.
Da die gerichtlichen Tatsacheninstanzen die somit hier rechtswidrig unterbliebene Anhörung des Klägers durch die Beklagte nicht nachholen können (ständige Rechtsprechung des BSG; vgl erkennender Senat in SozR 1200 § 34 Nrn 12 und 14, Beschluß des GS des BSG vom 19. Februar 1992 aaO mwN), konnte der angefochtene Rentenentziehungsbescheid keinen Bestand haben.
Auf die Revision des Klägers war nach alledem das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das – im Ergebnis zutreffende – Urteil des SG zurückzuweisen (§ 170 Abs 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen