Beteiligte
Kläger und Revisionsbeklagter |
Beklagte und Revisionsklägerin |
Tatbestand
I.
Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines Bescheides, mit dem die Beklagte dem Kläger eine vorläufige Rente entzogen und eine Dauerrente versagt hat.
Die Beklagte gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 10. Januar 1977 wegen der Folgen eines Arbeitsunfalles vom 4. August 1975 ab 15. November 1975 eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 v.H.
Bereits Ende Januar 1977 verfügte sie, von Dr. Sch… sei ein Bericht einzuholen. In der Folgezeit wurde der Kläger auf Veranlassung der Beklagten fachärztlich untersucht und begutachtet. Die abschließenden Gutachten gingen bei der Beklagten am 25. und 26. Juli 1977 ein. Mit Bescheid vom 27. Juli 1977 entzog die Beklagte dem Kläger die vorläufige Rente mit Ablauf des Monats August 1977 und lehnte es zugleich ab, eine Dauerrente zu gewähren.
Mit seiner Klage hat sich der Kläger darauf berufen, die Beklagte habe ihn vor Erlaß dieses Bescheides nicht gehört. Das Sozialgericht (SG) Lübeck hat den Bescheid aufgehoben, weil die unfallbedingte MdE nach wie vor 20 v.H. betrage (Urteil vom 14. Juni 1978). Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 10. Januar 1979). Es hat vornehmlich darauf abgehoben, die Beklagte habe es unterlassen, dem Kläger vor der Bescheiderteilung Gelegenheit zu geben, sich zu äußern.
Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 34 SGB 1.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 10. Januar 1979 und des Sozialgerichts Lübeck vom 14. Juni 1978 aufzuheben und die Klage abzuweisen,hilfsweise,den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.
Das LSG hat den Bescheid der Beklagten, mit dem sie dem Kläger die vorläufige Rente entzogen und eine. Dauerrente versagt hat, zutreffend für rechtswidrig gehalten, weil sie dem Kläger zuvor keine Gelegenheit gegeben hatte, sich zu äußern.
Nach § 34 Abs. 1 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - vom 11. Dezember 1975 - SGB 1 - (BGBl. I 3015) ist seit dem 1. Januar 1976 (Art. II 23 Abs. 1 SGB 1), bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in die Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung maßgeblichen Tatsachen zu äußern. Der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat bereits mehrfach entschieden, daß in solchen Fällen, in denen eine vorläufige Rente entzogen und eine Dauerrente erstmals niedriger festgesetzt oder abgelehnt wird, § 34 Abs. 1 SGB 1 anzuwenden ist (SozR 1200 § 34 Nrn. 3 und 4; Urteil vom 9. März 1978 - 2 RU 105/77 - in USK 7827). Von dieser Rechtsauffassung, der auch der 5. Senat des BSG gefolgt ist (Urteile vom 16. Januar 1979 - 5 RKnU 5, 6, 7/78 -), abzuweichen, sieht der erkennende Senat keinen Anlaß. Daß ein Rentenentziehungsbescheid in die Rechte eines Versicherten oder Verletzten eingreift, bedarf keiner Erörterung. Die Gelegenheit zur Äußerung darf aber auch nicht deshalb unterbleiben, weil eine erstmalige (negative) Feststellung der Dauerrente keine Änderung der Verhältnisse voraussetzt (§ 1585 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung - RVO -). Bei einer Minderung von Sozialleistungen besteht grundsätzlich ein erhebliches Interesse des Einzelnen an seiner Anhörung, bevor gegen ihn ein Verwaltungsakt erlassen wird (SozR 1200 § 34 Nr. 3). Eine solche Minderung des vorherigen Rechtszustandes tritt aber ein, wenn durch die erstmalige negative oder niedrigere Feststellung der Dauerrente verhindert wird, daß die vorläufige Rente mit Ablauf von zwei Jahren nach dem Unfall zur Dauerrente wird (§ 622 Abs. 2 Satz 1 RVO), die nur in Abständen von mindestens einem Jahr bei einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse neu festgestellt werden kann (§ 622 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 RVO).
Zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen im Sinne von § 34 Abs. 1 SGB 1 gehören vor allem ärztliche Gutachten über den Gesundheitszustand des Verletzten oder Versicherten, soweit er für die Leistung maßgebend ist. In der Unfallversicherung ist bedeutsam, in welchem Grade sich die Unfallfolgen auf die Erwerbsfähigkeit auswirken und ob insoweit eine Änderung (Besserung) eingetreten ist (so ausdrücklich oder sinngemäß die genannten Entscheidungen des 2. und 5. Senats).
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist einem Verletzten nicht dadurch Gelegenheit zur Äußerung im Sinne von § 34 Abs. 1 SGB 1 gegeben worden, daß er gegenüber den von der Beklagten zu Sachverständigen bestellten Ärzten seine Beschwerden vorbringen konnte. Nach Wortlaut sowie Sinn und Zweck dieser Bestimmung ist das rechtliche Gehör von der Stelle zu gewähren, die über den Erlaß und den Inhalt des Verwaltungsaktes entscheidet. Die ärztliche Untersuchung schafft aber nur die Grundlage für die künftige, nicht dem Arzt zustehende Entscheidung und dient somit nur der Vorbereitung. Im übrigen ergeben sich die "für die Entscheidung erheblichen Tatsachen", zu denen der Beteiligte Gelegenheit zur Äußerung haben muß, bei einer Rentenentziehung grundsätzlich erst aus dem auf der ärztlichen Untersuchung beruhenden Gutachten (BSGE 44, 207, 208; im Ergebnis ebenso die obengenannten weiteren Urteile des 2. und 5. Senats). Mag auch im Einzelfall ein Verletzter oder Versicherter anläßlich der Begutachtung eingehend über seine Beschwerden befragt werden, so wird ihm doch in der Regel das Ergebnis der anschließenden Auswertung der Untersuchungsergebnisse nicht bekannt sein; zudem hängt es von dem Sachverständigen ab, in welcher Form und in welchem Umfang er den Versicherten befragt und unterrichtet. Sind etwa - wie hier - mehrere Gutachten unterschiedlicher Fachrichtungen erforderlich, so wird es dem Versicherten kaum erkennbar sein, welche letztlich maßgebenden Feststellungen für die Entscheidung des Versicherungsträgers erheblich sein können. Er muß sich also zu dem oder den abgeschlossenen Gutachten äußern können.
Die Gelegenheit zur Äußerung muß dem Beteiligten im Verwaltungsverfahren gegeben werden. Sie kann nach der übereinstimmenden Rechtsprechung des 2., 3., 5., 6. und des erkennenden Senates nur im Widerspruchs-, nicht aber im Streitverfahren nachgeholt werden (vgl. die obengenannten Urteile sowie SozR 1200 § 34 Nrn. 1 und 2; vom 25. Januar 1979 - 3 RK 35/77 -; 1. März 1979 - 6 RKa 17/77; vom 6. Dezember 1978 - 8 RU 108/77 - und vom 30. April 1979 - 8a RU 64/78 -), und zwar gleichgültig, ob der Verletzte zunächst Widerspruch eingelegt oder sofort Klage erhoben hat (SozR 1200 § 34 Nr. 4 mit eingehender Begründung).
Die Beklagte kam sich auch nicht auf § 34 Abs. 2 SGB 1 berufen. Die dort unter den Nrn. 1 bis 6 aufgeführten Sachverhalte gestatten es, von der Anhörung nach § 34 Abs. 1 SGB 1 abzusehen. Diese Aufzählungen sind erschöpfend und nicht nur beispielhaft; sie sind die Ausnahme gegenüber dem Grundsatz des Absatzes 1 (BSGE 44, 207, 209).
Ein öffentliches Interesse an einer sofortigen Entscheidung (§ 34 Abs. 2 Nr. 1 SGB 1) besteht in Fällen wie hier grundsätzlich nicht. Daß die Beklagte die Rente des Klägers wegen Ablaufs der Zweijahresfrist des § 622 Abs. 2 Satz 1 RVO zunächst hätte weiterzahlen müssen, könnte zwar die in der Berufsgenossenschaft zusammengeschlossenen Unternehmer belasten, wenn die Voraussetzungen für die Gewährung einer Dauerrente nicht vorgelegen hätten. Demgegenüber ist aber das Interesse des Klägers an der Verwirklichung des ihm mit § 34 Abs. 1 SGB 1 gewährleisteten Rechts auf Anhörung dem Zweck der Vorschrift entsprechend höher zu bewerten (SozR 1200 § 34 Nrn. 3 und 4).
In Betracht käme allenfalls § 34 Abs. 2 Nr. 2 SGB 1, wonach von der Anhörung abgesehen werden kann, wenn durch die Anhörung die Einhaltung einer für die Entscheidung maßgeblichen Frist in Frage gestellt würde. Im Gegensatz zu den oben genannten früheren Entscheidungen des 2. und 5. Senats zu gleichgelagerten Fällen, ist hier allerdings das letzte für die Entscheidung bedeutsame Gutachten bei der Beklagten erst am 26. Juli 1977 eingegangen und die Frist des § 622 Abs. 2 Satz 1 RVO, bis zu deren Ablauf der Entziehungsbescheid dem Kläger hätte zugestellt werden müssen, endete am 4. August 1977. Es bestand also in dieser kurzen Zeit nicht mehr die Möglichkeit, dem Kläger Gelegenheit zur Äußerung zur geben. Dennoch war die Beklagte nicht berechtigt, vor Erlaß des Bescheides von der Anhörung des Klägers abzusehen. Das Ende dieser Frist war der Beklagten von Anfang an bekannt. Selbst wenn sie alles ihr Zumutbare getan hat, um die notwendigen Gutachten so rechtzeitig erstatten zu lassen, daß eine Anhörung des Klägers vor Erlaß des Bescheides innerhalb der Zweijahresfrist noch möglich war und der späte Eingang des letzten Gutachtens von ihr nicht zu vertreten ist, berechtigte sie das nicht, die Anhörung zu unterlassen. Das Risiko, daß vor Ablauf dieser Frist nicht alle notwendigen Tatsachen festgestellt sind, trifft in jedem Fall den Unfallversicherungsträger. Diese Frist ist immer einzuhalten. Durch die Anhörungspflicht des § 34 Abs. 1 SGB 1 ist der Zeitraum, innerhalb dessen die Ermittlungen abgeschlossen werden müssen, gegenüber dem Rechtszustand vor dem 1. Januar 1976 lediglich um die für die Anhörung notwendige angemessene Zeit verkürzt worden. Konnten die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung sich vor dem 1. Januar 1976 gegenüber der Frist des § 622 Abs. 2 Satz 1 RVO nicht darauf berufen, es sei ihnen aus von ihnen nicht zu vertretenden Gründen unmöglich gewesen, einen ersten Dauerrentenbescheid rechtzeitig zuzustellen, so ist das nach Inkrafttreten des § 34 SGB 1 ebensowenig möglich. Will ein Versicherungsträger also eine vorläufige Rente nicht zur Dauerrente werden lassen, muß er jedenfalls in Fällen der vorliegenden Art, in denen ärztliche Beurteilungen für seine Entscheidung maßgebend sind, in jedem Falle dem Verletzten Gelegenheit zur Äußerung in angemessener Frist geben. Falls die Unterlagen unvollständig sind, wird er zu entscheiden haben, ob er dennoch eine Entscheidung treffen und dem Verletzten Gelegenheit geben will, sich zu diesen Unterlagen zu äußern. Später eingehende Gutachten oder bekanntwerdende Tatsachen darf er dagegen für seine Entscheidung nicht verwerten. Einer Prüfung, wie sie das LSG für notwendig gehalten hat, ob es der Beklagten möglich war, unter den gegebenen Umständen alle entscheidungserheblichen Unterlagen so rechtzeitig zu beschaffen, daß der Kläger vor Ablauf der Frist des § 622 Abs. 2 Satz 1 ausreichend Gelegenheit gehabt hätte, sich zu äußern, bedarf es daher nicht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 518672 |
Breith. 1980, 461 |