Verfahrensgang
SG Münster (Urteil vom 21.07.1998) |
Nachgehend
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 21. Juli 1998 aufgehoben; die Klage wird abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander für beide Rechtszüge keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand
I
Der im Jahre 1933 geborene Kläger war von 1947 bis 1988 im Steinkohlenbergbau unter Tage beschäftigt; er begehrt Verletztenrente wegen einer chronischen obstruktiven Bronchitis.
Im Juni 1996 wurde der Beklagten eine chronische obstruktive Lungenerkrankung des Klägers und der Verdacht auf eine Silikose angezeigt.
Das von der Beklagten beigezogene Gutachten eines Internisten und Sozialmediziners vom 11. Juni 1997 kam zu dem Ergebnis, eine berufsbedingte chronische obstruktive Bronchitis habe bereits bei der Begutachtung des Klägers im Knappschaftsrentenverfahren Oktober 1988 vorgelegen; das Kriterium “100 Feinstaubjahre” werde überschritten. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage seit Oktober 1988 40 vH, seit dem Untersuchungstag am 30. April 1997 60 vH.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 14. August 1997 und Widerspruchsbescheid vom 25. November 1997 die Bewilligung von Leistungen ab: Nach dem Entwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (BMA) zur Neuordnung der Berufskrankheiten-Verordnung solle künftig die chronische obstruktive Bronchitis und das Emphysem als Berufskrankheit (BK) in die Anlage der Verordnung aufgenommen werden; die Rückwirkung solle jedoch auf Versicherungsfälle begrenzt werden, die nach dem 31. Dezember 1992 eingetreten seien. Damit widerspreche eine Anerkennung der BK nach § 551 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) dem erkennbaren Willen des Verordnungsgebers über eine zeitlich begrenzte Rückwirkung.
Das Sozialgericht (SG) Münster hat mit Urteil vom 21. Juli 1998 die Beklagte verurteilt, ab 1. Januar 1992 Verletztenrente nach einer MdE um 40 vH und ab 30. April 1997 nach einer MdE um 60 vH zu zahlen. Auf den Anspruch des Klägers sei zwar die am 1. Dezember 1997 in Kraft getretene Berufskrankheiten-Verordnung vom 31. Oktober 1997 (BKV) anzuwenden, nach deren § 6 Abs 1 eine BK iS der Nr 4111 der Anlage (chronische obstruktive Bronchitis oder Emphysem bei Bergleuten unter Tage im Steinkohlenbergbau) nur bei einem Versicherungsfall nach dem 31. Dezember 1992 anzuerkennen sei. Trotz dieser Ausschlußklausel sei der Anspruch des Klägers jedoch aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs wie auch nach dem Grundsatz von Treu und Glauben begründet. Die Beklagte sei verpflichtet, den Kläger so zu stellen, wie sie ihn bei rechtmäßiger Bescheidung seines Antrags am 14. August 1997 hätte stellen müssen. Zur Zeit seiner Erteilung sei jener Bescheid rechtswidrig gewesen. Die Beklagte sei nicht befugt gewesen, einen Stichtag festzulegen und Versicherungsfälle vor diesem Tage allein wegen des Zeitpunkts ihres Eintretens von einer Entschädigung nach § 551 Abs 2 RVO auszuschließen. Dies gelte auch dann, wenn einer Berufsgenossenschaft (BG) bereits der Entwurf einer Neufassung der Verordnung mit einer Stichtagsregelung bekannt sei, die auch eine bisher nach § 551 Abs 2 RVO wie eine BK zu entschädigende Krankheit einbeziehe. Mit den aus dem Versicherungsverhältnis erwachsenden Nebenpflichten (s § 2 Abs 2 letzter Satzteil und § 17 Abs 1 Nr 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch ≪SGB I≫) sei es unvereinbar, wenn die Beklagte rechtswidrigerweise und in leicht erkennbarem Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassungsordnung die Entschädigung des Klägers in der Erwartung ablehne, daß sich die Rechtslage im Falle der möglichen Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes bis zu einer nachfolgenden sozialgerichtichen Entscheidung für den Kläger durch Aufnahme der BK in die Verordnung und durch die damit einhergehende Einführung einer zeitlichen Grenze verschlechtere. Dieses Ergebnis werde auch dadurch bestätigt, daß es der Kläger in der Hand gehabt hätte, den angefochtenen Bescheid vom 14. August 1997 zunächst bestandskräftig werden zu lassen und danach eine Überprüfung im sogenannten Zugunstenwege nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zu beantragen. Dann hätte festgestellt werden müssen, daß der Bescheid zur Zeit seines Erlasses rechtswidrig gewesen sei, mit der Folge, daß die Beklagte zu seiner Aufhebung und zur Nachzahlung von Leistungen im Rahmen des § 44 Abs 4 SGB X zu verurteilen gewesen wäre.
Hiergegen richtet sich die Revision der Beklagten: Dem Unfallversicherungsträger stehe nach § 551 Abs 2 RVO ein Soll-Ermessen bei der Antwort auf die Frage zu, ob im Einzelfall eine Krankheit unter den dort näher bestimmten Voraussetzungen wie eine BK zu entschädigen sei. Damit seien abweichende Ausnahmeentscheidungen möglich, sofern sie nur der Atypik des zu regelnden Falles entsprächen. Ein solcher atypischer Fall liege hier durch die Berücksichtigung einer möglichen “Vorwirkung” des § 6 Abs 1 BKV vom 31. Oktober 1997 vor. Sie, die Beklagte, habe im Interesse der Versicherten trotz der großen Zahl der Anträge und der damit verbundenen rechtlichen Problematik bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Reichweite der Rückwirkungsanordnung erkennbar gewesen sei, gemäß § 551 Abs 2 RVO zugunsten des jeweiligen Versicherten entschieden, soweit die nach dieser Bestimmung zu fordernden inhaltlichen Voraussetzungen erfüllt gewesen seien. Jedenfalls im Zeitpunkt der Entscheidung über den Widerspruch am 25. November 1997 sei jedoch die Neufassung der BKV im Bundesgesetzblatt vom 5. November 1997 (I 2623) veröffentlicht gewesen. Bereits deshalb sei der Bescheid vom 14. August 1997 idF des Widerspruchsbescheides vom 25. November 1997 rechtmäßig. Die Klage sei jedoch auch dann unbegründet, wenn man jene Bescheide als nicht rechtmäßig ansehe. Denn dann sei die Rechtsänderung durch die am 1. Dezember 1997 in Kraft getretene BKV im Gerichtsverfahren zu berücksichtigen. Für die Anwendung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sei kein Raum.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Vorschrift des § 551 Abs 2 RVO sei so lange eine originäre Anspruchsgrundlage, wie der Verordnungsgeber die neuen Erkenntnisse nicht durch Aufnahme der Erkrankung in die Berufskrankheiten-Liste (BK-Liste) umgesetzt habe. Damit sei die Beklagte auch dann nicht befugt gewesen, einen Stichtag zugrunde zu legen, als der Entwurf des BMA zur BKV vorgelegen habe. Die Frage der Verfassungsmäßigkeit der in § 6 Abs 1 BKV geregelten Rückwirkungsbegrenzung stelle sich nur für den Fall, daß ein Anspruch aus dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch zu verneinen sei. Komme es darauf an, sei jedoch die Verfassungsmäßigkeit zu verneinen; die Rückwirkungsbestimmung enthalte keine sachlich begründete Begrenzung. Bei der jetzt gewählten Stichtagsregelung könne die überwiegende Anzahl der Versicherten keinen Anspruch auf eine Verletztenrente erlangen, auch wenn sie sämtliche Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente erfüllten. Selbst wenn tatsächlich erst in den Jahren 1992 bis Mitte 1995 neue wissenschaftliche Erkenntnisse mit Verordnungsreife vorgelegen hätten, so basierten diese medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse doch überwiegend auf Erkrankungsfällen von Bergleuten, die in den 50er bis 70er Jahren starken Staubbelastungen ausgesetzt gewesen seien.
Der Senat hat den Beteiligten Vorgänge aus dem Parallelverfahren B 8 KN 1/98 U R (Anfragen an die Beklagte sowie an das BMA und die entsprechenden Antworten) zur Kenntnis übersandt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Entschädigung der bei ihm bestehenden chronischen obstruktiven Bronchitis gemäß § 551 Abs 1 oder Abs 2 RVO “als” oder “wie eine” BK. Der Senat folgt im Ergebnis der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG): Der Anspruch nach § 551 Abs 1 RVO iVm Nr 4111 der Anlage zur BKV scheitert daran, daß der Versicherungsfall vor dem 1. Januar 1993 eingetreten ist (§ 6 Abs 1 BKV). Diese Vorschrift ist rechtswirksam; derzeit läßt sich kein Verstoß gegen höherrangiges Recht feststellen. Den Verordnungsgeber trifft aber eine Beobachtungspflicht, ob der gewählte Rückwirkungszeitraum nach der tatsächlichen Entwicklung ausreichend weit in die Vergangenheit reicht (1). Einem Anspruch nach § 551 Abs 2 RVO (Entschädigung “wie” eine Berufskrankheit) steht entgegen, daß die Rückwirkungsklausel des § 6 Abs 1 BKV auf alle noch nicht abgeschlossenen Verfahren der vorliegenden Art – und damit auch zuungunsten des Klägers – anzuwenden ist (2). Auch die Gesichtspunkte des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs, des Grundsatzes von Treu und Glauben sowie des Anspruchs aus § 44 SGB X vermögen nicht den Ausschlag zugunsten des Klägers zu geben (3). In der politischen Verantwortung des Verordnungsgebers liegt ebenfalls, daß er angesichts der Auswirkungen der Rückwirkungsklausel des § 6 Abs 1 BKV auf die noch nach § 551 Abs 2 RVO gestellten Anträge auf Entschädigung der chronisch obstruktiven Bronchitis/Emphysem der Bergleute seine Entscheidung überprüft (4).
(1)
Der geltend gemachte Anspruch richtet sich, wie das SG zutreffend erkannt hat, noch nach den Vorschriften der RVO, da der Versicherungsfall bereits vor dem Inkrafttreten des Siebten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 1. Januar 1997 eingetreten ist (Art 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz, § 212 SGB VII).
Dem Anspruch des Klägers nach § 551 Abs 1 Satz 1 RVO auf Entschädigung der BK Nr 4111 der Anlage zur BKV vom 31. Oktober 1997 (≪BGBl I 2623≫, chronische obstruktive Bronchitis oder Emphysem von Bergleuten unter Tage im Steinkohlebergbau bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis von in der Regel 100 Feinstaubjahren ≪(mg/m(3)) × Jahre≫) steht § 6 Abs 1 dieser Verordnung entgegen. Leidet ein Versicherter am 1. Dezember 1997 bereits an dieser Krankheit, ist sie hiernach nur dann auf Antrag als BK anzuerkennen, wenn der Versicherungsfall nach dem 31. Dezember 1992 eingetreten ist. Beim Kläger ist jedoch der Versicherungsfall vor dem 1. Januar 1993 eingetreten.
Der Begriff “Versicherungsfall” iS dieser Vorschrift meint das Vorliegen der Voraussetzungen für den Anspruch des Versicherten auf Anerkennung einer BK iS des § 551 Abs 1 RVO/§ 9 Abs 1 SGB VII (vgl Senatsurteil vom 20. Juni 1995, SozR 3-5679 Art 3 Nr 1 sowie BSG, 2. Senat, vom 4. Juli 1995, SozR 3-5679 Art 3 Nr 2 zum Begriff “Versicherungsfall” in den Rückwirkungsvorschriften der Berufskrankheiten-Verordnungen ab der Zweiten Verordnung zur Änderung der BKVO vom 18. Dezember 1992, BGBl I 2343). Dieser Zeitpunkt aber lag nach den für den Senat bindenden (§ 163 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) Feststellungen des SG vor dem genannten Stichtag; danach hatte der Kläger an einer chronischen obstruktiven Bronchitis bereits im Oktober 1988 gelitten.
a) Die genannte Rückwirkungsklausel ist – nach dem hier noch maßgebenden Erkenntnisstand der Bundesregierung und des Bundesrates zur Zeit der Aufhebung der BKVO vom 20. Juni 1968 (BGBl I 721), zuletzt geändert durch Art 1 der Verordnung vom 18. Dezember 1992 (BGBl I 2343) – rechtswirksam. Der Senat schließt sich der Rechtsprechung des BSG an, die derartige Rückwirkungsklauseln der BKVO bisher weder hinsichtlich ihrer prinzipiellen Zulässigkeit noch mit Blick auf die damals entschiedenen Einzelfälle beanstandet hat (BSG vom 3. Oktober 1957, BSGE 6, 29, 33; vom 30. Oktober 1964, BSGE 22, 63, 64 ff, 67 = SozR Nr 2 zu 6. BKVO § 4; BSG vom 23. Februar 1966 – 2 RU 103/62 = BG 1967, 75, 76, BSG vom 25. August 1994, BSGE 75, 51, 56 = SozR 3-2200 § 551 Nr 6). Grundsätzlich bleiben für Ansprüche aus Versicherungsfällen vor Inkrafttreten neuen (günstigeren) Rechts die bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Vorschriften maßgebend, sofern das neue Recht sich nicht ausdrücklich eine Rückwirkung beimißt (s zB BSG vom 26. November 1991, BSGE 70, 31, 34). Das gilt im Bereich des Berufskrankheitenrechts auch für die gesetzliche Unfallversicherung, da dieses Recht vom Listenprinzip beherrscht wird (s unten).
aa) Im Rahmen des § 9 Abs 1 SGB VII (= § 551 Abs 1 RVO) verstößt die Beschränkung der Rückwirkung nach Maßgabe des § 6 Abs 1 BKV – wie in den oa Entscheidungen im einzelnen dargelegt – grundsätzlich nicht gegen Art 3 Abs 1 GG (s aber im besonderen die Ausführungen unten zu 4). Für eine solche Beschränkung können sachliche Gründe angeführt werden. Eine unbeschränkte Rückwirkung wirft Ermittlungs- und Beweisprobleme auf, da auf weit zurückliegende Sachverhalte abzustellen wäre. Weiter spricht der Gesichtspunkt der sachgerechten Zurechnung von Risiken gegen eine unbeschränkte Rückwirkung. Denn die gesetzliche Unfallversicherung wurde unter der Herrschaft der RVO und wird nach dem geltenden SGB VII von dem Listenprinzip geprägt. Danach erstreckt sich der Versicherungsschutz grundsätzlich nicht auf jede beruflich verursachte Krankheit, sondern nur auf solche, die als Berufskrankheiten in die BKV (früher BKVO) listenmäßig aufgenommen sind. Solange aber das “Ob” und “Wie” der beruflichen Verursachung bestimmter Erkrankungen nicht bekannt ist, sind regelmäßig weder den Unternehmern (gezielte) Präventionsmaßnahmen möglich noch kann der Versicherte, ohne daß neue berufskrankheitsreife medizinische Erkenntnisse vorliegen, damit rechnen, insoweit versichert zu sein. Es bedarf besonderer Gründe, um die Unternehmer, die die gesetzliche Unfallversicherung allein finanzieren, unbeschränkt mit Entschädigungskosten für Krankheiten der Versicherten zu belasten, die aufgrund berufsbedingter schädigender Einwirkungen lange vor Inkrafttreten der BKV aufgetreten sind.
Andererseits wird das strenge Listenprinzip durch die Regelungen des § 551 Abs 2 RVO (= § 9 Abs 2 SGB VII) aufgelockert. Der Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung erstreckt sich danach “im Einzelfalle” (§ 551 Abs 2 RVO) von Anfang an auch auf die Entschädigung solcher Krankheiten, die noch nicht in der Rechtsverordnung nach Abs 1 aaO bezeichnet sind oder bei denen die dort bestimmten Maßgaben nicht vorliegen. Voraussetzung dafür ist, daß insoweit neue, berufskrankheitsreife medizinische Erkenntnisse vorliegen. Die Entschädigung nach dieser Vorschrift unterliegt keiner Einschränkung dadurch, daß Versicherungsfälle vor einem Stichtag ausgeschlossen sind oder durch den Unfallversicherungsträger ausgeschlossen werden können (BSG vom 14. November 1996, BSGE 79, 250, 254 f = SozR 3-2200 § 551 Nr 9). Auch diese Versicherungsfälle sind deshalb insoweit zu dem in der gesetzlichen Unfallversicherung versicherten Risiko zu rechnen. Im vorliegenden Fall vermag dieser Gesichtspunkt aber erst dann rechtserhebliche Bedeutung für die sachgerechte Bemessung des Rückwirkungszeitraums zu gewinnen, wenn nach angemessenem Zeitablauf ausreichendes Zahlenmaterial über die in Betracht kommenden Versicherungsfälle vorliegt.
Nach seinem damaligen Erkenntnisstand hat der Verordnungsgeber im Falle der BK Nr 4111 die Rückwirkungsvorschrift auf ausreichend weit in der Vergangenheit liegende Versicherungsfälle erstreckt (BSG vom 25. August 1994, BSGE 75, 51, 56 = SozR 3-2200 § 551 Nr 6; vom 30. Juni 1993, BSGE 72, 303, 306 = SozR 3-2200 § 551 Nr 3). Er ging in rechtlich nicht zu beanstandender Weise davon aus, mit dem gewählten Stichtag eine ausgewogene sachgerechte Lösung gefunden zu haben, die die Interessen der Versicherten, der Unternehmer und der Unfallversicherungsträger berücksichtigt (Auskunft des BMA vom 18. Mai 1999, zu Frage B 7).
bb) Aus der Entstehungsgeschichte der BKV lassen sich keine Rechtsfolgen ableiten, die die Rechtswirksamkeit der Rückwirkungsklausel beeinträchtigen. Ein verzögerliches Verhalten des Verordnungsgebers, das insoweit rechtserheblich sein könnte, läßt sich nicht feststellen.
Die Wahl des Zeitpunkts der Empfehlung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats (4. April 1995) kann nicht beanstandet werden. Die Anfrage des Senats beim BMA hat ergeben, daß sich der Ärztliche Sachverständigenbeirat – zunächst – letztmals im November 1982 mit einer eventuellen Aufnahme der chronischen Bronchitis in die BK-Liste befaßt und damals einen Bericht der Deutschen Forschungsgemeinschaft nicht als ausreichende Grundlage für eine generelle Empfehlung angesehen hatte. In der Folgezeit war diese Problematik erstmals wieder ab Januar 1993 Gegenstand von Beratungen (Auskunft des BMA vom 18. Mai 1999, Antwort zu Frage B 15). Nach der Auskunft des BMA erfolgte im September 1993 die Einigung darüber, daß Steinkohlenstaub (richtig: Feinstaub in Steinkohlebergwerken, s. Sachverständigenbeirat, BArbBl 10/1995, S 39 ff) generell geeignet sei, eine BK der hier streitigen Art zu verursachen. Die Zeit bis zur Empfehlung im April 1995 wurde zur Erarbeitung der exakteren Definition der BK verwandt (Antwort zu Frage B 1). Hierzu trägt der Kläger zwar vor, es sei doch “sehr überraschend, daß ausgerechnet so kurz nach erfolgter BKVO-Änderung man sich diesem Thema zugewandt hat, obwohl vorher elf Jahre nichts geschehen war” (Schriftsatz vom 10. Juni 1999). Hieraus allein aber kann der Vorwurf eines verzögerlichen Handelns nicht abgeleitet werden.
Die Begründung, die die Sektion “Berufskrankheiten” des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim BMA ihrer Empfehlung (BArbBl 10/1995, S 39) beigegeben hat (dort unter I bis VI), verwertet wissenschaftliche Arbeiten, die aus den Jahren 1983 bis 1994 stammen, mit einem Schwerpunkt in den 90er Jahren. Danach gab es bis Mitte der 90er Jahre auch Literaturstimmen, die einen Zusammenhang zwischen der Tätigkeit unter Tage und dem Auftreten einer Bronchitis verneint haben.
Aus dem Abstand zwischen einerseits der Empfehlung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim BMA – Sektion “Berufskrankheiten” – vom 4. April 1995 (Angabe nach HVBG RdSchr VB 77/95, Datum aus der Bekanntmachung des BMA vom 1. August 1995, BArbBl 10/1995, S 39, nicht ersichtlich) und der Verkündung der BKV vom 31. Oktober 1997 oder ihrem Inkrafttreten zum 1. Dezember 1997 lassen sich ebenfalls keine Bedenken gegen die Wirksamkeit der Rückwirkungsklausel herleiten. Der Abstand von etwa zwei Jahren und acht Monaten zwischen der Empfehlung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats (4. April 1995) und dem Inkrafttreten der entsprechenden Ergänzung der BK-Liste (hier zum 1. Dezember 1997) stellt sich nicht als außergewöhnlich lang dar. So führte der elfjährige Abstand der Änderungsverordnung zur BKVO vom 22. März 1988 (BGBl I 400), in Kraft getreten am 1. April 1988, zur vorherigen Änderungsverordnung (Verordnung zur Änderung der 7. BKVO vom 8. Dezember 1976, BGBl I 3329, in Kraft getreten am 1. Januar 1977) dazu, daß die damals “neuen” Berufskrankheiten erst weit nach den Empfehlungen des Sachverständigenbeirats in die Anlage zur BKVO aufgenommen wurden. Und so kam es zB bei der BK Nr 1314 zu einem Abstand von ca 8 3/4 Jahren, bei der BK Nr 4109 zu einem Abstand von ca 7 1/2 Jahren und bei der BK Nr 4110 zu einem von ca 4 1/4 Jahren (Angaben nach Elster, Berufskrankheitenrecht, jeweils in den Erläuterungen zu den erwähnten Berufskrankheiten).
cc) Insgesamt greifen zur Zeit – ausgehend vom Erkenntnisstand des Verordnungsgebers bei Erlaß der BKV – rechtliche Bedenken gegen die Vorschrift des § 6 Abs 1 BKV nicht durch.
Die hier zu überprüfende Regelung des § 6 Abs 1 BKV entspricht hinsichtlich der Dauer der Rückwirkung den gleichartigen Regelungen bereits der zwei unmittelbar vorhergehenden Änderungsverordnungen, nämlich Art 3 Abs 2 der Verordnung zur Änderung der BKVO vom 22. März 1988 (BGBl I 400) und Art 2 Abs 2 der Zweiten Verordnung zur Änderung der BKVO vom 18. Dezember 1992 (BGBl I 2343). In allen drei Fällen wurde als Stichtag der Rückwirkung das Inkrafttreten der vorherigen Ergänzung der BK-Liste gewählt. Der Verordnungsgeber des § 6 Abs 1 BKV hat sich in der Begründung dieser Rückwirkungsklausel ausdrücklich auf die Fortführung jener Praxis bezogen. So heißt es dort (BR-Drucks 642/97, S 13 f): “Die Rückwirkungsvorschrift entspricht in ihrer Konzeption und Ausgestaltung vergleichbaren Regelungen in den früheren Änderungsverordnungen.” Geht man aber davon aus, daß der Verordnungsgeber mit der in § 6 Abs 1 BKV geregelten Rückwirkung auf das Inkrafttreten der vorhergehenden Ergänzung der BK-Liste eine Regelungspraxis aufnehmen wollte, die er ggf auch in Zukunft beibehalten will, so trägt ein solches Vorgehen regelmäßig zur Rechtssicherheit sowie zur Gleichbehandlung aller Versicherten, die an den neu eingeführten Berufskrankheiten leiden, bei.
Ausnahmen davon waren für den Verordnungsgeber zunächst nicht erkennbar. Das auf die Anfrage des Senats vom 4. Februar 1999 von der Beklagten bereitgestellte Zahlenmaterial, Stand 31. Dezember 1998, konnte der Verordnungsgeber noch nicht berücksichtigen, er hat damit auch nicht prospektiv gerechnet (Antwort des BMA vom 18. Mai 1999 auf die Fragen Nr B 2, 3 und 11).
Die Ermächtigungsnorm des § 551 Abs 1 Satz 3 RVO (= § 9 Abs 1 Satz 2 SGB VII) räumt dem Verordnungsgeber mangels ausdrücklicher Schranken ein weites normatives Ermessen ein, soweit es die Entscheidung über die Aufnahme einer Krankheit in die Liste, mögliche einschränkende Bedingungen und die Frage der Rückwirkung der neuen Verordnung betrifft. Für die gerichtliche Überprüfung einer derartigen Rückwirkungsklausel gilt jedenfalls dort, wo der Gesetzgeber dem Verordnungsgeber keine besonderen Schranken gesetzt hat, ein vergleichbarer Maßstab wie bei der Überprüfung eines formellen Gesetzes. Gerade bei der Festlegung eines Rückwirkungszeitraums für einen neu eingeführten Leistungsanspruch gebührt dem Verordnungsgeber ein besonders weitgehender Einschätzungs- und Prognosevorrang (BVerfGE 50, 290, 332 f; 77, 84, 106 f). Ihn hat die Rechtsprechung zu respektieren, solange er “in vertretbarer Weise” gehandhabt wurde (BVerfGE 88, 203, 262; BVerwGE 80, 355, 370). Das ist jedenfalls derzeit noch der Fall.
b) Der Einschätzungs- und Prognosevorrang des Verordnungsgebers geht jedoch mit seiner Verpflichtung einher, seine Entscheidung zu überprüfen und nötigenfalls zu korrigieren, sobald die entsprechenden Erfahrungen aus der Anwendung der Vorschrift vorliegen.
aa) Die Praxis der Verfahren zur Entschädigung der neuen BK kann neue zu berücksichtigende Tatsachen aufdecken. Den Verordnungsgeber trifft insoweit eine Beobachtungspflicht, die in der Ermächtigungsnorm gründet und ihrem Sinn und Zweck entspricht. Diese Norm ist in das System der gesetzlichen Unfallversicherung eingeordnet, die aufgrund eines gesetzlichen Versicherungsverhältnisses Unfallversicherungsschutz gewährt. § 551 Abs 1 Satz 3 RVO (= § 9 Abs 1 Satz 2 SGB VII) verlangt deshalb aufgrund seines gesetzessystematischen Zwecks von dem Verordnungsgeber, bei Neuaufnahmen von Krankheiten in die BK-Liste auch die Auswirkungen auf bereits bestehende Versicherungsverhältnisse zu berücksichtigen. Besonders dann, wenn der Verordnungsgeber zu Anfang diese Auswirkungen (zB zahlenmäßig) bei einer begrenzten Einbeziehung früherer Versicherungsfälle in den Versicherungsschutz nicht übersehen kann, hat er dementsprechend die tatsächlichen Auswirkungen über eine längere Zeit zu beobachten. Das gilt vor allem auch für die Neuaufnahme der BK Nr 4111, die in der Vergangenheit bereits häufig bei Versicherten aufgetreten war und oft mit einer seit langem in die Liste aufgenommenen BK (Quarzstaublungenerkrankung ≪Silikose≫ Nr 4101) einherging. Häufig litten Versicherte nach einer langjährigen Unter-Tage-Tätigkeit im Steinkohlebergbau an einer als Versicherungsfall anerkannten geringgradigen Silikose und an einer feinstaubbedingten chronischen obstruktiven Bronchitis. Trotzdem begründete ihr Unfallversicherungsverhältnis damals noch keinen Entschädigungsanspruch, weil die Silikose für sich genommen einen zu geringen Grad der MdE ausmachte. Die chronische obstruktive Bronchitis durfte nicht anspruchsbegründend berücksichtigt werden. Denn früher wurde ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der anerkannt berufsbedingten geringgradigen Silikose und der chronischen obstruktiven Bronchitis nicht als wahrscheinlich angesehen (vgl zB Elster, Berufskrankheitenrecht, Stand: August 1989, S 150/7).
bb) Wenn sich nun in der Beobachtungszeit herausstellt, daß der bisher gewählte Rückwirkungszeitraum nach Abwägung aller maßgeblichen Umstände nicht sachgerecht ist, hat der Verordnungsgeber nach seinem pflichtgemäßen Ermessen einen anderen sachgerechteren Rückwirkungszeitraum festzulegen. Insbesondere kann sich dabei ergeben, daß die Rückwirkungsklausel nicht ausreichend weit in die Vergangenheit reicht. Dem ist dann abzuhelfen.
Eine solche Überprüfungsentscheidung hat der Verordnungsgeber (die Bundesregierung) mit Zustimmung des Bundesrates inhaltlich im Rahmen seiner politischen Verantwortung zu treffen. Dies folgt aus der oa Beobachtungspflicht des Verordnungsgebers, die ggf eine Korrektur- und Nachbesserungspflicht nach sich zieht (vgl zu den entsprechenden Pflichten des Gesetzgebers: BVerfGE 87, 348, 358; 88, 203, 309 – 311). Die Ermessensentscheidung kann ein Gericht nicht anstelle des Verordnungsgebers zugunsten weiterer, bisher nicht erfaßter Versicherungsfälle treffen.
c) Dem Verordnungsgeber muß indessen eine angemessene Zeit zur Sammlung von Erfahrungen eingeräumt werden. Bis dahin haben es die Betroffenen hinzunehmen, daß ihre individuellen Ansprüche von einem Raster aus gröberer Typisierung und Generalisierung nicht erfaßt werden. Eine gerichtliche Überprüfung der Entscheidung des Verordnungsgebers ist erst dann zulässig, wenn er es unterlassen hat, trotz ausreichenden Erfahrungsmaterials eine sachgerechte in seinem Gestaltungsermessen liegende Korrektur vorzunehmen (ständige Rspr, zB BVerfGE 33, 171, 189; vgl auch BVerfG vom 8. Juni 1993, BVerfGE 89, 15, 27 mwN). Die ihm hierfür einzuräumende Frist ist im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (weniger als zwei Jahre nach Inkrafttreten der BKV) noch nicht überschritten. Jedenfalls bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt verbleibt es bei dem in der BKV verordneten Rückwirkungszeitraum.
d) Der Senat weist jedoch darauf hin, daß er Bedenken hat, ob der nach § 6 Abs 1 BKV geltende Rückwirkungszeitraum im Falle der BK Nr 4111 bei der anstehenden Überprüfung bestehen bleiben kann. Die Bedenken gründen in den inzwischen bei den Verfahren zur Entschädigung dieser Krankheit gewonnenen Erkenntnissen. Es könnte sein, daß mit dem verordneten Rückwirkungszeitraum nur einem unverhältnismäßig kleinen Kreis der einschlägig Erkrankten eine Entschädigung zusteht. Dann bliebe der weitaus größte Teil der Personengruppe endgültig von der Entschädigung ausgeschlossen, die iS des § 9 Abs 1 Satz 2 SGB VII (= § 551 Abs 1 Satz 3 RVO) den schädigenden Einwirkungen in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt gewesen ist. Dieses Ungleichgewicht kann um so mehr Bedeutung haben, wenn jetzt und auch in Zukunft keine oder allenfalls ganz wenige neue Versicherungsfälle zu erwarten sind. Es läßt sich weder erkennen, daß der Verordnungsgeber diese Auswirkungen erwogen hat noch, ob und welche Gründe für diese begrenzende Ausschlußwirkung bestehen könnten.
Nach Auskunft der Beklagten weisen von den 3943 festgestellten Fällen der BK Nr 4111, in denen an sich – ohne Berücksichtigung des Zeitpunktes des Versicherungsfalls – die Entschädigungsvoraussetzungen vorliegen, 3235 (82 %) einen Versicherungsfall vor dem 1. Januar 1993 auf, hingegen nur 708 (18 %) einen Versicherungsfall nach dem 31. Dezember 1992.
Wenn sich der Verordnungsgeber ohne ausdrückliche Ermächtigung des Gesetzgebers, aber zulässigerweise (s BSGE vom 30. Juni 1993, BSGE 72, 303, 304 = SozR 3-2200 § 551 Nr 3), für eine nur begrenzte Einbeziehung früherer Versicherungsfälle entscheidet, liegt es zwar in der Natur der Sache begründet, daß die tatsächlich entschädigten Fälle im Vergleich zu den insgesamt vorliegenden Erkrankungen in der Minderzahl sind. Für den Ausschluß einer unverhältnismäßig großen Gruppe bisher uneingeschränkt Versicherter von der Entschädigung einer berufsbedingten Krankheit, an der sie seit langem leiden, muß es aber entsprechend gewichtige Gründe geben. Bereits das wird der Verordnungsgeber bei seiner Überprüfungsentscheidung berücksichtigen müssen.
e) Nach alledem steht dem Kläger – jedenfalls derzeit – in Anwendung der – rechtswirksamen – Rückwirkungsklausel des § 6 Abs 1 BKV keine Verletztenrente nach § 551 Abs 1 RVO iVm der BK Nr 4111 der Anlage zur BKV zu. Es ist jedoch Aufgabe des Verordnungsgebers, die bisher bei den Verfahren zur Entschädigung dieser Krankheit gewonnenen Erfahrungen auszuwerten und hinsichtlich des verordneten Rückwirkungszeitraums eine neue politische Gesamtbewertung vorzunehmen.
(2)
Der Anspruch des Klägers läßt sich auch nicht auf § 551 Abs 2 RVO stützen. Danach sollen die Träger der Unfallversicherung im Einzelfalle eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der BKVO bezeichnet ist, wie eine BK entschädigen, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des § 551 Abs 1 RVO erfüllt sind. Es fehlt hier an derartigen neuen Erkenntnissen iS des Gesetzes.
Auch insoweit schließt sich der Senat für den vorliegenden Fall im Ergebnis der Rechtsprechung des 2. Senats des BSG an. Hiernach überlagert eine Rückwirkungsklausel bei der Entschädigung “neuer” Listen-Berufskrankheiten von dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an den – zeitlich uneingeschränkten – Anspruch auf Entschädigung “wie” eine BK nach § 551 Abs 2 RVO: Von den Rückwirkungsvorschriften bei der Einführung neuer Listen-Berufskrankheiten werden auch die Fälle des § 551 Abs 2 RVO erfaßt. Neue Erkenntnisse, die eine Entschädigung “wie” eine BK rechtfertigen können, liegen von dem Zeitpunkt an nicht mehr vor, zu dem der Verordnungsgeber es trotz dieser Erkenntnisse entweder abgelehnt hat, die Krankheit als BK in die Liste aufzunehmen (BSG vom 23. Juni 1977, BSGE 44, 90, 93 = SozR 2200 § 551 Nr 9), oder aufgrund dieser Erkenntnisse die Krankheit in die Liste aufnimmt (BSG vom 23. Februar 1966 – 2 RU 103/62, BG 1967, 75, 76); in beiden Fällen hat die Entscheidung des Verordnungsgebers Vorrang vor der der Verwaltung (BSG vom 30. Juni 1993, BSGE 72, 303, 305 = SozR 3-2200 § 551 Nr 3). Die Vorschrift des § 551 Abs 2 RVO ist hiernach vom Unfallversicherungsträger dann nicht mehr anzuwenden, wenn der Verordnungsgeber eine bestimmte Erkrankung in die Liste aufgenommen, die Gewährung einer Entschädigung aber durch eine Rückwirkung bis zu einem bestimmten, ausreichend weit zurückliegenden Zeitpunkt in der Vergangenheit begrenzt hat. Der 2. Senat des BSG hat lediglich offengelassen, ob etwas anderes zu gelten hat, wenn bei einer nur relativ kurzen zeitlichen Rückwirkung über einen in angemessener Zeit nach Auftreten der Krankheit gestellten Antrag auf Entschädigung nach § 551 Abs 2 RVO bis zum Inkrafttreten der Änderungsverordnung nicht entschieden ist (BSGE 72, 303, 307). Ein derartiger Fall liegt hier nicht vor.
Diese Rechtsprechung hat der 2. Senat bestätigt in den Entscheidungen vom 25. August 1994 (BSGE 75, 51 = SozR 3-2200 § 551 Nr 6), vom 19. Januar 1995 (2 RU 13/94, USK 95107), vom 19. Januar 1995 (2 RU 14/94, HVBG-INFO 1995, 1331 – insoweit ist eine Verfassungsbeschwerde anhängig), vom 19. Januar 1995 (2 RU 20/94, HVBG-INFO 1995, 1141), vom 11. Mai 1995 (2 BU 63/95, HVBG-INFO 1996, 1102 – auch hiergegen ist eine Verfassungsbeschwerde anhängig) sowie vom 11. Mai 1995 (2 RU 22/94, HVBG-INFO 1995, 2149). Behandelt wurde hierbei sowohl die Fallkonstellation, daß die BG noch vor Geltung der Neufassung der BKVO, also unter dem “Regime des alten Rechts” (ablehnend) entschieden hatte (BSG vom 25. August 1994 sowie die beiden erstgenannten Urteile vom 19. Januar 1995 und die beiden Entscheidungen vom 11. Mai 1995) als auch jene, daß die BG erst nach Inkrafttreten der einschlägigen Änderungsverordnung den ablehnenden Bescheid erlassen hatte (BSG vom 19. Januar 1995 – 2 RU 20/94).
Geht man hiervon aus, dann gilt: Ist vor Abschluß des Gerichtsverfahrens (und sei es erst durch Rechtsänderung im Revisionsverfahren: vgl Teil-Urteil und Beschluß des Senats vom 28. Mai 1997, SozR 3-2600 § 93 Nr 3 S 27 f mwN) die Ergänzung der BK-Liste mit einer entsprechenden Rückwirkungsklausel in Kraft, kommt es nicht mehr darauf an, ob der Unfallversicherungsträger eine noch nicht in Kraft getretene, jedoch im Entwurf einer neuen Änderungsverordnung vorgesehene Rückwirkungsklausel bereits bei der Entscheidung über einen Anspruch nach § 551 Abs 2 RVO “im Vorgriff” zu berücksichtigen hat (diese Frage hat der 2. Senat im Urteil vom 14. November 1996, BSGE 79, 250, 254 = SozR 3-2200 § 551 Nr 9 offengelassen). Über die Berechtigung eines solchen Vorgehens wäre gerichtlich nur dann zu entscheiden, wenn zuvor die geplante Rechtsänderung noch nicht stattgefunden hätte. Ist die Ergänzung der BK-Liste mit Rückwirkungsklausel jedoch bereits in Kraft, hat das Gericht jenes neue Recht anzuwenden.
Auf dieser Grundlage aber ist dem Urteil des SG insoweit zuzustimmen, als einem Anspruch des Klägers nach § 551 Abs 2 RVO grundsätzlich die Ausschlußklausel des § 6 Abs 1 BKV entgegensteht.
(3)
Entgegen der Rechtsmeinung des SG helfen dem Kläger jedoch die Gesichtspunkte des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs, des Grundsatzes von Treu und Glauben sowie des Anspruchs aus § 44 SGB X nicht weiter.
a) Insoweit ist zunächst der Anspruch des Klägers aus § 44 SGB X zu prüfen, da diesem ausdrücklich geregelten Korrekturanspruch Vorrang gegenüber den nicht geregelten, zur Schließung von Rechtsschutzlücken bestimmten Grundsätzen zukommt. Dies schließt die Anwendung jener allgemeinen Grundsätze aus, soweit die Folgen des behördlichen Fehlverhaltens bereits durch den Anspruch nach § 44 SGB X erschöpfend geregelt sind (BSG vom 23. Juli 1986, BSGE 60, 158, 164 ff = SozR 1300 § 44 Nr 23). Die Anwendung des § 44 SGB X ist weiterhin – wiederum entgegen der Meinung des SG – nicht davon abhängig, daß der Bescheid vom 14. August 1997 bestandskräftig geworden ist. Nach dem Wortlaut des § 44 Abs 1 SGB X ist vielmehr ein Verwaltungsakt nach dieser Vorschrift zurückzunehmen, “auch nachdem er unanfechtbar geworden ist”, also, umgekehrt formuliert, auch vor Unanfechtbarkeit (ebenso § 44 Abs 2 SGB X; § 44 Abs 3 SGB X trifft demgegenüber nur eine Regelung für den Fall, daß der Verwaltungsakt in der Tat unanfechtbar geworden ist).
Zu Recht geht das SG davon aus, daß nach § 44 Abs 1 SGB X grundsätzlich die Rechtswidrigkeit für den Rechtszustand “bei Erlaß” des Verwaltungsaktes zu beurteilen ist und daß daher rechtliche Änderungen zuungunsten des Betroffenen nach Erlaß des früheren rechtswidrigen Bescheides ebenso grundsätzlich unerheblich sind. Denn aus § 44 SGB X folgt der Anspruch, rechtlich so gestellt zu werden, als hätte die Behörde von vornherein richtig entschieden (BSG vom 10. September 1987, BSGE 62, 143, 146 ff = SozR 5750 Art 2 § 28 Nr 5 zur Höhe von nachzuentrichtenden Beiträgen; vgl ferner BSG vom 18. Januar 1995 – 5 RJ 78/93).
b) Abweichendes kann sich jedoch aus Spezial- (zB Übergangs-)Regelungen ergeben (vgl das Senatsurteil vom 22. Juni 1994, SozR 3-5750 Art 2 § 12b Nr 2 S 8). Eine derartige Spezialregelung stellt im vorliegenden Fall das einheitliche BK-Recht dar, das der Gesetzgeber in den inhaltlich verbundenen Abs 1 und 2 des § 551 RVO (jetzt: § 9 SGB VII) geregelt hat (BSG 2. Senat vom 25. August 1994, BSGE 75, 51, 53 = SozR 3-2200 § 551 Nr 6) und zu dem auch die sämtliche noch schwebende Verfahren ergreifenden Rückwirkungsklauseln – wie hier die des § 6 Abs 1 BKV – gehören. Andernfalls würde die Anwendung des § 44 SGB X – entgegen seinem sich aus der Gesetzessystematik ergebenden Zweck – Versicherte bevorzugen, die einen Verwaltungsakt erst nach dessen Verbindlichkeit angreifen. Soweit aber eine Spezialregelung die Anwendung des § 44 SGB X ausschließt, gilt dies gleichermaßen auch für den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch (Senatsurteil vom 22. Juni 1994, aaO, S 8 f).
c) Entsprechendes folgt für den Rechtsgrundsatz von Treu und Glauben. Besteht eine die vorliegende Fallgestaltung betreffende abschließende gesetzliche Regelung, so kann von den sich hieraus ergebenden Folgen nicht unter Berufung auf einen derartigen allgemeinen Grundsatz abgewichen werden (vgl Senatsurteil vom 30. Juni 1997 – 8 RKn 21/96 –, Kompaß 1998, 83, 84 zur Berufung eines Rentenversicherungsträgers auf jenen Grundsatz zur Ablehnung eines Rentenanspruchs).
(4)
Der Senat weist abschließend auf weitere Bedenken hin, die nach Art 3 Abs 1 GG gegen die bisherige Bemessung des Rückwirkungszeitraums gemäß § 6 Abs 1 BKV sprechen könnten. Sie betreffen die Auswirkungen dieser Vorschrift auf die der BK Nr 4111 entsprechenden Entschädigungsansprüche nach § 551 Abs 2 RVO (= § 9 Abs 2 SGB VII), die vor Inkrafttreten der BKV geltend gemacht wurden, aber über die erst danach abschließend entschieden worden ist. Handelte es sich dabei um vor dem 1. Januar 1993 eingetretene Versicherungsfälle, sind sie – wie oben bereits dargelegt – nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG zur Abgrenzung der Absätze 1 und 2 des § 551 RVO (= § 9 SGB VII) zwar anfangs begründet gewesen, aber dennoch abzulehnen. Davon ist auch der Kläger betroffen.
a) Es ist möglich, daß es sich dabei nur um Ausnahmefälle handelt, die im Interesse der oa Gründe, die den Verordnungsgeber bei Erlaß der BKV zur Bemessung des Rückwirkungszeitraums gemäß § 6 Abs 1 BKV geleitet haben, als vereinzelt und rechtlich unerheblich hinzunehmen sind. Auch insoweit ist diese Bestimmung gegenwärtig noch als verfassungsgemäß und rechtswirksam hinzunehmen.
Der Senat kann jedoch nicht ausschließen, daß sich nach Auswertung des relevanten Zahlenmaterials der vom Verordnungsgeber gewählte Rückwirkungszeitraum aus weiteren Gründen (als zu ≪1≫ ausgeführt) als zu kurz erweist und deshalb dem Maßstab des Art 3 Abs 1 GG nicht genügt.
b) Bereits der 2. Senat des BSG hat in seiner oben angeführten Rechtsprechung zum BK-Recht diese Bedenken im Ansatz erkannt. In seinem Urteil vom 30. Juni 1993 (BSGE 72, 303, 307 = SozR 3-2200 § 551 Nr 3) hat er ausgeführt, der Verordnungsgeber könne durch eine ausreichend weite Rückwirkung auf vor Inkrafttreten der neuen Verordnung eingetretene Versicherungsfälle für den Regelfall ausschließen, daß durch eine verzögerte Bearbeitung der Entscheidung (durch den Unfallversicherungsträger) eines in angemessener Frist nach Auftreten der Krankheit gestellten Entschädigungsantrags nach § 551 Abs 2 RVO dem Versicherten Nachteile entstünden.
c) Indessen zeigt der vorliegende Fall, daß auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung zu § 551 Abs 1 und 2 RVO auch bei einer grundsätzlich ausreichend in die Vergangenheit reichenden Rückwirkungsklausel ausnahmsweise Ablehnungen von Entschädigungsansprüchen nach Abs 2 aaO zwangsläufig sein können, bei denen sich ein hinreichendes Abgrenzungskriterium iS des Gleichheitssatzes des Art 3 Abs 1 GG nicht unmittelbar aufdrängt. Das gilt besonders für die BK Nr 4111 der Anlage zur BKV, deren Auswirkungen seit langen Jahren bekannt waren.
aa) Es erscheint im Lichte des Gleichheitssatzes gemäß Art 3 Abs 1 GG schon als besonders begründungsbedürftig, daß ein Teil der Versicherten (nach der Auskunft der Beklagten: 614), die vor dem Stichtag 1. Januar 1993 an der BK Nr 4111 erkrankt sind, entschädigt wird (diejenigen, deren Verfahren nach § 551 Abs 2 RVO vor dem Inkrafttreten der BKV am 1. Dezember 1997 mit einem für sie positiven Ergebnis abgeschlossen wurde), ein weitaus größerer Teil jedoch (nach der Auskunft der Beklagten, Stand: 31. Dezember 1998: 2.621), zu dem der Kläger gehört, nicht.
bb) Dies gilt erst recht dann und erscheint allenfalls für Ausnahmefälle zu rechtfertigen, wenn der Umstand, daß der Versicherte leer ausgegangen ist, wie hier auf Zufälligkeiten beruht: Der im Juni 1996 angezeigte Verdacht der berufsbedingten chronischen Bronchitis hätte durchaus auch zur Leistungsgewährung führen können. Denn nach dem Akteninhalt hatte sich die Erstellung des von der Beklagten angeforderten internistischen und sozialmedizinischen Gutachtens wegen einer akuten Lungenentzündung des Klägers verzögert; das Gutachten ging deshalb erst am 17. Juni 1997 bei der Beklagten ein. Erst kurz zuvor jedoch, vom 6. Juni 1997 an (Angabe nach den Feststellungen des SG Dortmund, Urteil vom 29. September 1998, Kompaß 1998, 366), stellte die Beklagte ihre Entscheidungspraxis um: Aufgrund des ihr zur Kenntnis gelangten Entwurfs der BKV mit der Rückwirkungsklausel des § 6 Abs 1 entschädigte sie von diesem Datum an die chronische Bronchitis der Bergleute nur noch bei Versicherungsfällen nach dem 31. Dezember 1992. Damit erging auch gegenüber dem Kläger ein ablehnender Bescheid.
cc) Gleichartige Unzuträglichkeiten können sich auch in anderen Fallkonstellationen ergeben, wenn man es bei der bisherigen Rechtsprechung des BSG bewenden läßt. Sie folgen aus der danach uneingeschränkten Abhängigkeit des Entschädigungsanspruchs nach § 551 Abs 2 RVO (= § 9 Abs 2 SGB VII) von der Bearbeitungsdauer im Verwaltungsverfahren, im Gerichtsverfahren und auch in dem Verfahren des Verordnungsgebers bis zur Inkraftsetzung der Änderungsverordnung zur BKV. Je nach dieser Dauer kommt es in den aufgezeigten Fällen zu gegensätzlichen Entscheidungen, wenn der Verordnungsgeber die zur Entschädigung nach § 551 Abs 2 RVO gestellte Krankheit später als BK anerkennt, aber ältere Versicherungsfälle durch eine Rückwirkungsklausel ausschließt. Auch hieraus kann sich die Notwendigkeit ergeben, den Rückwirkungszeitraum weiter in die Vergangenheit zu erstrecken.
d) Allgemein gilt zwar: Jegliche Ungerechtigkeiten oder Härten bei der Neueinführung einer Listen-BK ließen sich nur dann vermeiden, wenn der Verordnungsgeber entweder eine unbeschränkte Rückwirkung für Ansprüche nach § 551 Abs 1 RVO/§ 9 Abs 1 SGB VII anordnen oder Ansprüche nach § 551 Abs 2 RVO/§ 9 Abs 2 SGB VII (s hierzu unter 2) weiterhin zulassen würde. Solange aber der Gesetzgeber die beiden Regelungsbereiche des § 551 Abs 1 und 2 RVO bzw § 9 Abs 1 und 2 SGB VII zur Vermeidung derartiger Zufallsergebnisse nicht entsprechend harmonisiert, ist es primär Aufgabe des Verordnungsgebers, die tatsächliche Entwicklung zu beobachten und im Rahmen seines weitgehend sozialpolitisch geprägten normativen Ermessens (BVerwGE 80, 355, 370; hierzu auch Urteil des 2. Senats des BSG vom 23. März 1999, SozR 3-2200 § 551 Nr 12) ggf korrigierend tätig zu werden. Ob und auf welche Weise § 6 Abs 1 BKV ggf der Verfassungslage anzupassen ist, unterliegt allein seiner Einschätzungsprärogative. Seine Entscheidungsfreiheit wäre nur dann eingeschränkt, wenn er nur eine einzige Möglichkeit zur Schaffung eines der Verfassung entsprechenden Rechtszustandes hätte (BVerfGE 18, 288, 301 f; 55, 100, 113 f; BAGE 50, 137, 145 f; BVerwGE 102, 113 – 119). Dies ist aber nicht der Fall.
e) Entschlösse sich jedoch der Verordnungsgeber nun zu einer längeren Rückwirkung als nach § 6 Abs 1 BKV (s hierzu oben unter ≪1≫), so würde er damit gleichzeitig für die BK Nr 4111 die Folgen der unter c) geschilderten Unzuträglichkeiten verringern. Sollte eine entsprechende Korrektur unterbleiben, bliebe zu prüfen, ob dann nicht – auch – in jener Hinsicht Bedenken gegen die Wirksamkeit jener Rückwirkungsklausel bestehen. Solche könnten sich hier aus dem Gleichheitssatz des Grundgesetzes (Art 3 Abs 1 GG) ergeben: Diese Verfassungsnorm bindet als Willkürverbot den Verordnungsgeber. Sie verbietet eine willkürlich ungleiche Behandlung des – trotz gewisser Verschiedenheiten – in den wesentlichen Punkten Gleichen. Zwar hat regelmäßig der Verordnungsgeber auf der Grundlage der Ermächtigungsnorm im Rahmen seines normativen Ermessens zu entscheiden, welche Sachverhaltselemente so wichtig sind, daß ihre Verschiedenheit eine Ungleichbehandlung rechtfertigt. Sein ihm durch die Ermächtigungsnorm gewährter Spielraum endet erst dort, wo die ungleiche Behandlung der geregelten Sachverhalte nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist, dh wo ein einleuchtender Grund für die bestimmte Differenzierung fehlt (BVerfG vom 16. Juni 1959, BVerfGE 9, 334, 337; vom 29. November 1961, BVerfGE 13, 225, 227 f; vom 27. September 1978, BVerfGE 49, 192, 209; vom 17. Januar 1979, BVerfGE 50, 177, 186). Dies wird in der neueren Rechtsprechung des BVerfG dadurch ausgedrückt, daß eine Differenzierung im allgemeinen verfassungsrechtlich nur dann nicht zu beanstanden ist, wenn für sie Gründe von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleichen Rechtsfolgen rechtfertigen können (BVerfG vom 7. Oktober 1980, BVerfGE 55, 72, 88; BVerfG vom 10. Januar 1995, BVerfGE 91, 389, 401).
f) Der Senat stellt deshalb dem Verordnungsgeber unter Respektierung seiner politischen Entscheidungsspielräume auch insoweit anheim, die Rückwirkungsklausel des § 6 Abs 1 BKV zu überprüfen. Bis dahin jedenfalls sieht der Senat noch keine Veranlassung, § 9 Abs 1 und 2 SGB VII (= § 551 Abs 1 und 2 RVO) unter Berücksichtigung insbesondere des Art 3 Abs 1 GG abweichend von der bisherigen Rechtsprechung des BSG auszulegen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen