Entscheidungsstichwort (Thema)
Anwendbares Recht bei Rentenneufeststellung im Zugunstenverfahren. Anerkennung weiterer Ersatzzeiten. sozialrechtlicher Herstellungsanspruch. Stichtagsregelung. Verfassungsmäßigkeit
Leitsatz (amtlich)
Bei der Neufeststellung einer Altersrente nach dem SGB 6 in einem Zugunstenverfahren (§ 44 SGB 10) ist gemäß § 300 Abs 1 und 3 SGB 6 neues Recht anzuwenden, wenn der Zugunstenantrag später als drei Monate nach dem Außerkrafttreten des alten Rechts gestellt worden ist (Bestätigung und Fortführung von BSG vom 8.11.1995 – 13 RJ 5/95 = SozR 3-2600 § 300 Nr 5).
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
SGB VI § 300 Abs. 3, 1, § 250 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 Nr. 3 F: 1993-06-24; SGB X § 44 Abs. 1 S. 1, Abs. 4; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 30. August 1996 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten wegen der Höhe der Regelaltersrente der Klägerin. Umstritten ist insbesondere, ob im Zugunstenverfahren (vgl § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch ≪SGB X≫) eine Ersatzzeit nach dem zum Zeitpunkt der Rentenantragstellung (4. Mai 1993) geltenden Recht bis zum 5. Dezember 1973 oder nach dem am 1. Juli 1993 in Kraft getretenen § 250 Abs 2 Nr 3 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) nur bis zum 31. Dezember 1956 anzurechnen ist.
Die im Dezember 1908 im Gebiet der späteren UdSSR geborene Klägerin siedelte am 6. Dezember 1992 aus K. … in die Bundesrepublik Deutschland aus. Auf ihren Rentenantrag vom 4. Mai 1993 gewährte ihr die Beklagte durch bestandskräftigen Bescheid vom 23. Juli 1993 Regelaltersrente ab 1. Mai 1993, wobei sie eine Ersatzzeit der Internierung/Verschleppung bis zum 29. Februar 1956 soweit berücksichtigte, als keine Pflichtbeitragszeiten vorlagen (1. Dezember 1955 bis 29. Februar 1956). Die Klägerin hatte im Verwaltungsverfahren angegeben, im Jahre 1941 aus dem Wolgagebiet nach N. … … verschleppt und dort bis 1956 unter Kommandanturaufsicht gestanden zu haben; eine Verlegung ihres Aufenthalts nach Deutschland unmittelbar nach Beendigung des Gewahrsams sei aus politischen Gründen nicht möglich gewesen.
Am 30. November 1993 beantragte die Klägerin die Neufeststellung ihrer Rente und machte geltend: Die Ersatzzeit sei nicht lediglich bis zum 29. Februar 1956, sondern bis zum 5. Dezember 1973 anzurechnen. Sie sei im September 1941 von S. … (Wolgagebiet) als deutsche Volkszugehörige nach S. … verschleppt worden, habe bis August 1956 der Kommandantur in N. … unterstanden und sei 1960 nach K. … umgezogen; bis zu ihrer Aussiedlung habe sie nicht in das ursprüngliche Siedlungsgebiet S. … zurückkehren dürfen.
Mit Bescheid vom 4. August 1994 stellte die Beklagte daraufhin die Regelaltersrente der Klägerin ab 1. Mai 1993 neu fest, wobei sie die Zeit vom 1. September 1941 bis 31. Dezember 1955 als Ersatzzeit anerkannte. Sie führte aus, diese Zeit sei gemäß § 250 Abs 2 Nr 2 SGB VI als Ersatzzeit der Verschleppung anzuerkennen. Die sich anschließende Zeit vom 1. Januar 1956 bis 5. Dezember 1973 (Vollendung des 65. Lebensjahres) sei zwar dem Grunde nach als Ersatzzeit (der Internierung) gemäß § 250 Abs 1 Nr 3 SGB VI anzuerkennen. Nach der mit Wirkung vom 1. Juli 1993 durch Art 1 Nr 10 des Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetzes vom 24. Juni 1993 (Rü-ErgG; BGBl I 1038) eingefügten Ergänzung des § 250 Abs 2 SGB VI um die Regelung der Nr 3, die hier gemäß § 300 Abs 2 SGB VI wegen des nach dem 30. September 1993 eingegangenen Überprüfungsantrages anzuwenden sei, könnten Ersatzzeiten aber grundsätzlich nur noch bis längstens 31. Dezember 1956 anerkannt werden. Über diesen Zeitpunkt hinaus komme eine Berücksichtigung nur dann in Betracht, wenn der Versicherte eine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit ausschließlich aus den dort genannten Gründen nicht ausgeübt habe, wovon hier nicht ausgegangen werden könne.
Der von der Klägerin hiergegen eingelegte Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 11. Januar 1995). Das Sozialgericht Koblenz (SG) hat der von der Klägerin hiergegen erhobenen Klage durch Urteil vom 23. August 1995 stattgegeben und die Beklagte verurteilt, die Zeit vom 1. Januar 1957 bis zum 5. Dezember 1973 als Ersatzzeit rentensteigernd zu berücksichtigen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die einschränkende Neuregelung des § 250 Abs 2 Nr 3 SGB VI habe zum Zeitpunkt des Eingangs des vollständigen Rentenantrags der Klägerin Mitte Juni 1993 noch nicht gegolten und damit bei Erlaß des Bescheides vom 23. Juli 1993 nicht zu Lasten der Klägerin angewandt werden dürfen; demgemäß sei sie auch im Rahmen der Überprüfung nach § 44 SGB X nicht anwendbar.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz (LSG) das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Entscheidung ist im wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt: Zwar liege im streitigen Zeitraum dem Grunde nach eine Ersatzzeit iS der Rückkehrverhinderung gemäß § 250 Abs 1 Nr 3 SGB VI vor, weil die zum Personenkreis der Rußlanddeutschen gehörende Klägerin infolge des Zweiten Weltkrieges aus einem volksdeutschen Siedlungsgebiet der UdSSR, der Wolgarepublik, in ein anderes Gebiet verbracht und auch nach Aufhebung der Kommandanturaufsicht an der Rückkehr in ihr ursprüngliches Heimatgebiet gehindert worden sei. Allerdings komme nach der am 1. Juli 1993 in Kraft getretenen Neuregelung des § 250 Abs 2 Nr 3 SGB VI die Berücksichtigung ua einer solchen Ersatzzeit nach dem 31. Dezember 1956 nur noch in Betracht, wenn allein wegen der dort genannten Gründe (Internierung, Verschleppung, Rückkehrverhinderung, Festgehaltenwerden, Gewahrsam) keine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit ausgeübt worden sei. Bei der Klägerin könne nicht davon ausgegangen werden, daß sie nur wegen der Rückkehrverhinderung eine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht ausgeübt habe, zumal ihr Versicherungsverlauf selbst während der Internierung bis 1956 und auch danach bis 1964 Pflichtbeitragszeiten aufweise. Für die Zeit des Altersrentenbezuges vom 24. Dezember 1964 bis zur Aussiedlung sei die Anerkennung einer Ersatzzeit ohnehin durch § 250 Abs 2 Nr 2 SGB VI ausgeschlossen.
Die einschränkende Regelung des § 250 Abs 2 Nr 3 SGB VI sei bei der Rentenneuberechnung auf den Antrag der Klägerin vom 30. November 1993 anwendbar. Zwar sei bei einer Überprüfung nach § 44 SGB X die Sach- und Rechtslage bei Erlaß des früheren Verwaltungsaktes maßgeblich, so daß sich der (vor der Gesetzesänderung ergangene) Bescheid vom 23. Juli 1993 hinsichtlich der Nichtberücksichtigung der streitigen Zeiten als rechtswidrig erweise. Allerdings enthalte § 300 Abs 3 SGB VI hinsichtlich des bei der Neufeststellung zugrundezulegenden Rechts – wie sich insbesondere aus den Gesetzesmaterialien ergebe – eine Spezialregelung zu § 44 SGB X, nach der im Rahmen der Neufeststellung neues Recht anwendbar sei, wenn der Überprüfungsantrag nach Ablauf der Dreimonatsfrist des § 300 Abs 2 SGB VI nach Inkrafttreten des neuen Rechts gestellt werde. Dies gelte nicht nur für den Übergang von den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) usw zum SGB VI am 1. Januar 1992, sondern prinzipiell auch bei jeder weiteren, später eintretenden Rechtsänderung. Da der Neufeststellungsantrag der Klägerin nicht innerhalb von drei Monaten nach Einfügung der Begrenzung des § 250 Abs 2 Nr 3 SGB VI – also bis zum 30. September 1993 – gestellt worden sei, habe die Beklagte zu Recht der Neufeststellung der Rente die Neuregelung zugrunde gelegt und die Ersatzzeit dementsprechend nur bis zum 31. Dezember 1956 berücksichtigt.
Auch auf einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch könne sich die Klägerin nicht mit Erfolg berufen. Ein solcher komme nur dort in Betracht, wo lediglich ein Fehler in der Sachbearbeitung in der Sache selbst vorliege, der nicht zu einem für sie ungünstigen Verhalten der Versicherten geführt habe. Bei bloßer Unrichtigkeit der Verwaltungsentscheidung ohne Fehlleitung des Versicherten durch eine Handlung oder Unterlassung des Versicherungsträgers greife nicht der Herstellungsanspruch, sondern die Rechtsbehelfsmöglichkeit des Widerspruchs sowie die Möglichkeit des Überprüfungsantrags gemäß § 44 SGB X. Hieran ändere auch der Umstand nichts, daß die Klägerin über die Voraussetzungen zur Anerkennung von Ersatzzeiten bei Erstantragsstellung nicht informiert und auch nicht rechtskundig vertreten gewesen sei.
Die von der Klägerin erhobenen Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 300 Abs 3 SGB VI teile der Senat nicht. Auch wenn diese Regelung hier dazu führe, daß bei der Neuberechnung der Rente der Klägerin Ersatzzeiten in erheblich geringerem Umfang anzurechnen seien als nach dem alten Recht, liege weder ein Verstoß gegen die Eigentumsgarantie des Art 14 des Grundgesetzes (GG) noch gegen den Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG vor; insoweit schließe sich der Senat der Ansicht des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 18. Januar 1995 – 5 RJ 78/93 – an und gebe zudem zu bedenken, daß bei der nicht auf eigener Beitragsleistung der Versicherten beruhenden Anrechnung von Ersatzzeiten ein Eigentumsschutz der nach altem Recht entstandenen, aber noch nicht berücksichtigten Zeiten ohnehin nur abgeschwächt in Betracht komme. Im übrigen habe die Klägerin nach Erhalt des Bescheides vom 23. Juli 1993 die Möglichkeit gehabt, dessen Rechtmäßigkeit in einem Widerspruchsverfahren prüfen zu lassen oder durch Stellung eines Überprüfungsantrages bis zum 30. September 1993 zu erreichen, daß die bis zum 30. Juni 1993 bestehende Rechtslage zu berücksichtigen war. Daß die Klägerin dies erst später mit dem Erfolg getan habe, daß nunmehr die zwischenzeitlich geänderte Rechtslage anzuwenden gewesen sei, begründe keinen Verstoß gegen den Vertrauensschutzgedanken. Dispositionen der Klägerin im Hinblick auf die nach altem Recht ggf erwartete höhere Rente seien nicht ersichtlich.
Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision trägt die Klägerin vor: Mit der Nichtberücksichtigung der Ersatzzeit über das Jahr 1956 hinaus im Bescheid vom 23. Juli 1993 sei die Beklagte der Entscheidung des VDR-Fachausschusses vom 3. April 1990 nicht gefolgt und habe den Bescheid auch insoweit nicht hinreichend begründet, als sie die Ablehnung dieser Anrechnung nicht mittels Bescheidzusatzes ausgesprochen habe. Entgegen der Ansicht des LSG seien bei der Neuberechnung ihrer Rente nach § 44 SGB X die zum Zeitpunkt der Rentenantragstellung geltenden Rechtsvorschriften anzuwenden. Zwar seien gemäß § 300 Abs 2 iVm Abs 3 SGB VI bei Neufeststellungen stets sämtliche Neuregelungen des SGB VI vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens anzuwenden, wenn der Antrag nach Ablauf der dreimonatigen Ausschlußfrist gestellt werde, doch gelte dies nicht, wenn wegen eines Fehlers des Versicherungsträgers ein Herstellungsanspruch bestehe.
Da § 300 Abs 2 und 3 SGB VI die sich aus § 44 SGB X ergebenden Rechtsfolgen bei Antragstellung nach dem 31. März 1992 einschränke, müsse der Herstellungsanspruch auch dort diskutiert werden, wo der Leistungsträger „lediglich” eine falsche Sachentscheidung treffe; dem rechtlich ungewandten Bürger sei ein allein aufgrund behördlicher Fehlentscheidung entstandener finanzieller Nachteil nicht zuzumuten. Dies ergebe sich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben und dem Verfassungsgrundsatz von Recht- und Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Da die Bundesrepublik als sozialer Rechtsstaat definiert sei, treffe die Verwaltung im sozialen Bereich eine besondere Sorgfaltspflicht; daher habe auch die Korrektur eines rechtswidrigen bestandskräftigen Verwaltungsaktes so zu erfolgen, daß dem Bürger aus einer anfänglichen Rechtswidrigkeit kein Nachteil entstehe. In ihrem Falle habe die Behörde ihre Pflichten in diesem Sinne verletzt.
Bei der Abgabe ihres Rentenantrages bei der Gemeindeverwaltung U. … sei sie trotz deren Auskunfts- und Beratungspflicht unzureichend über das Vorliegen eines Ersatzzeittatbestandes befragt worden, wie sich daraus ergebe, daß in dem Antragsformular die Frage nach Ersatzzeiten verneint worden sei. Auch die Beklagte habe es versäumt, sie rechtzeitig entsprechend aufzuklären, obwohl sie die Aufklärungsmängel bei der Antragsaufnahme zweifelsfrei erkannt habe, da sie ihr einen – allerdings keine Hinweise über Anrechnungsvoraussetzungen für Ersatzzeiten enthaltenden – Fragebogen zur Feststellung von Ersatzzeiten übersandt habe. Aufgrund der unterbliebenen Aufklärung sei sie gar nicht in der Lage gewesen, die Rechtswidrigkeit des Rentenbescheides zu erkennen. Durch die Pflichtverletzungen der Gemeindeverwaltung und der Beklagten sei ihr ein erheblicher finanzieller Nachteil entstanden, der im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs durch Neuberechnung ihrer Rente nach den im Zeitpunkt der erstmaligen Rentenantragstellung geltenden Rechtsvorschriften auszugleichen sei.
Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts habe das Urteil des erkennenden Senats vom 8. November 1995 (SozR 3-2600 § 300 Nr 5) für den hier zu entscheidenden Fall keine Bedeutung, weil ihm ein völlig anderer Sachverhalt zugrunde gelegen habe. Zudem bestünden erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 300 Abs 3 SGB VI. Da ihre Rente bei rechtmäßiger Feststellung nach dem im Zeitpunkt der Rentenantragstellung geltenden Recht höher gewesen wäre, sei sie in ihrem Eigentumsrecht (Art 14 GG) verletzt. Die vom erkennenden Senats in der genannten Entscheidung (SozR 3-2600 § 300 Nr 5) vertretene Rechtsauffassung, der Eingriff in das Eigentumsrecht des Leistungsempfängers sei insoweit unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch Gründe des öffentlichen Wohles gerechtfertigt, teile sie nicht. Die Ansicht, die (dort sonst notwendige) Weiteranwendung des RVO-Berechnungsprogramms stelle eine unverhältnismäßige Belastung der Verwaltung dar, treffe im Hinblick auf den Stand der Datentechnik und die noch vorhandenen alten Berechnungsprogramme nicht zu. Im übrigen sei in ihrem Falle die Anwendung des alten Rentenprogramms nicht erforderlich, weil lediglich die Nichtanwendung der Regelungen des Rü-ErgG begehrt werde, so daß eine unverhältnismäßige Belastung der Beklagten keinesfalls gegeben sei.
Die Ausführungen des erkennenden Senats zum sozialrechtlichen Herstellungsanspruch in der genannten Entscheidung (SozR 3-2600 § 300 Nr 5) verursachten Unbehagen, soweit dort ausgeführt werde, eine der Voraussetzungen für diesen Anspruch sei nicht gegeben, wenn der Leistungsempfänger durch das Verwaltungshandeln nicht daran gehindert gewesen sei, fristgerecht Widerspruch zu erheben bzw innerhalb der Dreimonatsfrist einen Neuberechnungsantrag zu stellen. Eine fristgerechte Widerspruchserhebung sowie die Geltendmachung eines Anspruchs setzten zunächst das Erkennen der Rechtswidrigkeit bzw das Wissen um einen Anspruch und damit fundamentale Rechtskenntnisse voraus, deren Vorhandensein bei ihr jedoch nicht zu unterstellen sei. Sie habe in ihrer Rentenangelegenheit besonderer Beratung und Aufklärung bedurft, die ihr jedoch vorenthalten worden sei. Da sie bei der Erstbearbeitung des Rentenantrags trotz ihres besonderen Beratungs- und Aufklärungsbedarfs nicht über Ersatzzeiten informiert worden und aus dem Rentenbescheid nicht ersichtlich sei, daß Zeiten nicht berücksichtigt worden seien, habe sie keine Veranlassung gehabt, an der Rechtmäßigkeit ihres Rentenbescheides zu zweifeln und sich ggf weiter zu informieren bzw Rechtsmittel einzulegen. Daß sie erst durch das Hinzuziehen eines Rentenberaters die Rechtswidrigkeit des Rentenbescheides erkannt und ihre Ansprüche nach Ablauf der Frist des § 300 Abs 3 SGB VI geltend gemacht habe, dürfe ihr nicht angelastet werden. Die Voraussetzungen für einen Herstellungsanspruch seien bei ihr daher gegeben.
Auch die Voraussetzungen eines Amtshaftungsanspruchs gemäß § 839 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) seien als erfüllt zu bezeichnen; es widerspreche aber der Absicht des Gesetzgebers, daß ein Bürger seine sozialen Rechte auf dem Zivilgerichtsweg durchsetzen müsse, wo weder Kostenfreiheit noch das Prinzip des Amtsbetriebs gälten.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 30. August 1996 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 23. August 1995 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt ergänzend vor: Aus den Gesetzesmaterialien ergebe sich, daß mit § 300 Abs 3 SGB VI eine Spezialregelung zu § 44 Abs 1 SGB X gewollt gewesen sei; auch der erkennende Senat habe in seinem Urteil vom 8. November 1995 (SozR 3-2600 § 300 Nr 5) im Rahmen eines Neufeststellungsantrages neues Recht zugrunde gelegt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist zulässig, aber nicht begründet. Das LSG hat das erstinstanzliche Urteil zu Recht aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Beklagte hat bei der Neuberechnung der Rente zutreffend nach dem seit 1. Juli 1993 geltenden Recht eine Ersatzzeit lediglich bis zum 31. Dezember 1956 angerechnet.
Der Anspruch der Klägerin auf (teilweise) Rücknahme des bindenden Rentenbescheides vom 23. Juli 1993 ergibt sich aus § 44 SGB X. Nach Abs 1 dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, daß bei Erlaß dieses Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.
Der bestandskräftig gewordene Rentenbescheid der Beklagten vom 23. Juli 1993 war nach der zum Zeitpunkt seines Erlasses gegebenen Sach- und Rechtslage aus heutiger Sicht (vgl BSGE 57, 209, 210 = SozR 3-1300 § 44 Nr 13; Kasseler Komm-Steinwedel, § 44 SGB X RdNr 29) insoweit rechtswidrig, als die Klägerin – wie sich aus den bindenden Feststellungen des Berufungsurteils ergibt – nicht nur bis zum 29. Februar 1956, sondern auch nach Aufhebung der Kommandanturaufsicht bis zu ihrer Ausreise aus der GUS an der Rückkehr in ihr ursprüngliches Heimatgebiet gehindert worden ist, somit der Tatbestand einer Ersatzzeit gemäß § 250 Abs 1 Nr 3 SGB VI über diesen Zeitpunkt hinaus vorlag. Infolgedessen ist diese Zeit bei der Rentenberechnung nicht berücksichtigt und ein zu niedriger Rentenbetrag festgestellt worden.
Mit dem Neufeststellungsbescheid vom 4. August 1994 hat die Beklagte dem Rechnung getragen, indem sie den bestandskräftigen Bescheid vom 23. Juli 1993 mit Wirkung für die Vergangenheit (ab Rentenbeginn) insoweit zurückgenommen hat, als der Rentenbetrag infolge der Nichtberücksichtigung der Ersatzzeit über den 29. Februar 1956 hinaus zu niedrig bemessen war und bei der Neuberechnung der Rente zutreffend nach dem seit 1. Juli 1993 geltenden Recht eine Ersatzzeit bis zum 31. Dezember 1956, nicht jedoch – wie es nach dem bis zum 30. Juni 1993 geltenden Recht zutreffend gewesen wäre – bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres berücksichtigt hat.
Die Voraussetzungen für die Anerkennung von Ersatzzeiten über den 31. Dezember 1956 hinaus liegen nicht vor. Für den Zeitraum vom 1. Januar 1957 bis zum 25. Dezember 1964, in dem die Klägerin Pflichtbeitragszeiten nach dem FRG zurückgelegt hat, ist die Anerkennung eine Ersatzzeit schon deshalb ausgeschlossen, weil solche Fremdrentenzeiten dem Vorliegen von Versicherungspflicht gleichstehen (vgl Kasseler Komm-Niesel, § 250 SGB VI RdNr 9). Für die Zeit ihres Altersrentenbezuges ab 24. Dezember 1964 ist der Ausschlußtatbestand des § 250 Abs 2 Nr 2 SGB VI idF des Rü-ErgG gegeben, nach dem entgegen der vor dem 1. Juli 1993 gültigen Fassung dieser Norm jeder Altersrentenbezug – nicht nur der nach dem 65. Lebensjahr – der gleichzeitigen Anerkennung einer Ersatzzeit entgegensteht.
Soweit der Versicherungsverlauf der Klägerin in dem fraglichen Zeitraum Lücken aufweist, die nicht mit Versicherungszeiten nach dem FRG belegt sind, steht § 250 Abs 2 Nr 3 SGB VI deren Anrechnung als Ersatzzeit entgegen. Nach dieser Vorschrift sind Ersatzzeiten nicht Zeiten, in denen nach dem 31. Dezember 1956 die Voraussetzungen ua des § 250 Abs 1 Nr 3 SGB VI vorliegen und Versicherte eine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit auch aus anderen als den dort genannten Gründen – also im Falle der hier einschlägigen Nr 3 dem der Rückkehrverhinderung – nicht ausgeübt haben. Nach den bindenden (vgl § 163 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) Feststellungen des LSG kann bei der Klägerin nicht davon ausgegangen werden, daß sie in den betreffenden Zeiträumen allein wegen der Rückkehrverhinderung eine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht ausgeübt hat. Da ihr Versicherungsverlauf selbst während der Zeit bis 1956, in der sie der Kommandanturaufsicht unterlag, und insbesondere während des anschließenden Zeitraums bis zum Beginn des Altersrentenbezuges im Dezember 1964 überwiegend Pflichtbeitragszeiten aufweist, besteht kein Anhaltspunkt für die Annahme, daß die Rückkehrverhinderung für die Nichtausübung einer Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit in diesen im Verhältnis zu den jeweiligen Pflichtbeitragszeiten kurzen Lückenzeiträumen ursächlich gewesen wäre.
Es ist nicht zu beanstanden, daß die Beklagte hier § 250 Abs 2 Nrn 2 und 3 SGB VI in der ab 1. Juli 1993 geltenden Fassung angewandt hat, obwohl diese Vorschriften erst am 1. Juli 1993, also nach der ursprünglichen Rentenantragstellung durch die Klägerin, in Kraft getreten sind.
Die Neufeststellung einer Leistung im Rahmen eines sog Zugunstenverfahrens nach § 44 SGB X richtet sich zunächst nach Abs 4 dieser Vorschrift. Darin heißt es (Satz 1): Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Im SGB VI, dem hier einschlägigen besonderen Teil des Sozialgesetzbuchs, regeln die §§ 300 ff SGB VI, welche Rechtsnormen beim Übergang von altem zu neuem Recht jeweils Anwendung finden.
In § 300 Abs 1 SGB VI ist bestimmt, daß Vorschriften des SGB VI vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an auf einen Sachverhalt oder Anspruch auch dann anzuwenden sind, wenn sie bereits vor diesem Zeitpunkt bestanden haben. Nach § 300 Abs 2 SGB VI sind aufgehobene Vorschriften dieses Gesetzbuches und durch dieses Gesetzbuch ersetzte Vorschriften auch nach dem Zeitpunkt ihrer Aufhebung noch auf den bis dahin bestehenden Anspruch anzuwenden, wenn der Anspruch bis zum Ablauf von drei Kalendermonaten nach der Aufhebung geltend gemacht wird. Die Abs 1 und 2 des § 300 SGB VI gelten auch, wenn nach dem maßgebenden Zeitpunkt eine bereits vorher geleistete Rente neu festzustellen ist und dabei die persönlichen Entgeltpunkte neu zu ermitteln sind (vgl § 300 Abs 3 SGB VI).
Diese Vorschriften gelten nicht nur für den Übergang von der Reichsversicherungsordnung usw zum SGB VI, sondern generell auch für spätere Rechtsänderungen. Dies ergibt sich bereits aus dem allgemein gehaltenen Wortlaut, der nicht nur auf das Inkrafttreten des SGB VI am 1. Januar 1992 abstellt (vgl Kasseler Komm-Niesel, vor § 300 SGB VI RdNr 1, § 300 SGB VI RdNr 2; Mutz/Mey/Paulus/Pflüger DAngVers 1997, 328).
Nach allgemeiner Meinung stellt die Grundsatznorm des § 300 Abs 1 SGB VI eine Abkehr vom Versicherungsfallprinzip dar (vgl zB Gemeinschaftskomm-SGB VI/Lueg, § 300 RdNr 6; Hauck, § 300 SGB VI RdNr 1; Kasseler Komm-Niesel vor § 300 RdNr 9, § 300 RdNr 11 f; Verbandskommentar zur Rentenversicherung, § 300 SGB VI RdNr 2; Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung, § 300 SGB VI RdNr 1). So waren nach dem zum 1. Januar 1992 aufgehobenen Art 2 § 5 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes ≪ArVNG≫ (vgl Art 3 Nr 7 Rentenreformgesetz 1992 ≪RRG 1992≫) für Rentenansprüche aus Versicherungsfällen vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes grundsätzlich die bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Vorschriften maßgebend. Wenn demgegenüber nunmehr neue Vorschriften vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an auch auf bereits bestehende Ansprüche anzuwenden sind, so ist diese Regelung nach Auffassung des erkennenden Senats dahin zu verstehen, daß ein Rechtsanwender das neue Recht grundsätzlich immer dann und in vollem Umfang (also zB auch für Zeiten vor dem 1. Januar 1992) heranzuziehen hat, wenn nach dem 31. Dezember 1991 eine rentenversicherungsrechtliche Entscheidung zu treffen ist (vgl dazu auch Jahn, § 300 SGB VI RdNrn 9, 12). Diese „funktionale” Auslegung des § 300 Abs 1 SGB VI ergibt sich insbesondere aus der Begründung zum Entwurf des RRG 1992. Darin wird der Vorteil hervorgehoben, daß der Rechtsanwender nach diesem Prinzip nicht ständig prüfen müsse, inwieweit altes, bereits aufgehobenes Recht noch weiter anwendbar sein könnte, das meist nur schwer feststellbar sei (vgl BT-Drucks 11/4124, S 206).
Der in § 300 Abs 1 SGB VI normierte Grundsatz einer durchgängigen Anwendung des jeweils geltenden neuen Rechts wird allerdings in mehrfacher Weise eingeschränkt. So stellt § 300 Abs 2 SGB VI (in Korrespondenz mit § 99 Abs 1 SGB VI) sicher, daß Renten, die innerhalb von drei Monaten nach Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen beantragt werden, auch bei zwischenzeitlichen Rechtsänderungen noch nach den alten Vorschriften zu bewilligen sind (vgl dazu BT-Drucks 11/4124, S 206). Was laufende Renten – wie die im vorliegenden Fall betroffene – anbelangt, so ist vor allem die Ausnahmeregelung des § 306 Abs 1 SGB VI zu beachten: Bestand Anspruch auf Leistung einer Rente vor dem Zeitpunkt einer Änderung rentenrechtlicher Vorschriften, werden aus Anlaß der Rechtsänderung die einer Rente zugrunde gelegten persönlichen Entgeltpunkte grundsätzlich nicht neu bestimmt. Demgegenüber gelten die Abs 1 und 2 des § 300 SGB VI auch dann, wenn nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des neuen Rechts eine laufende Rente neu festzustellen ist und dabei die persönlichen Entgeltpunkte neu zu ermitteln sind (vgl § 300 Abs 3 SGB VI).
Bei der hier streitigen Leistungsbewilligung nach § 44 Abs 4 SGB X steht § 300 Abs 3 SGB VI einer Anwendung der zum Zeitpunkt der Rentenantragstellung geltenden Vorschriften des SGB VI entgegen (vgl zur Anwendung RVO-SGB VI bereits Senatsurteil vom 8. November 1995, SozR 3-2600 § 300 Nr 5; ebenso BSG, Urteil vom 18. Juni 1997 – 5 RJ 36/96 –). Die Grundvoraussetzungen dieser Bestimmung sind gegeben. Zum einen handelt es sich bei einer Zugunstenentscheidung nach § 44 SGB X um eine Neufeststellung iS von § 300 Abs 3 SGB VI (vgl zB Hauck/Stahl, § 306 SGB VI RdNr 8). Zum anderen betrifft die Entscheidung die Ermittlung von Entgeltpunkten, da gegenüber dem Bescheid vom 23. Juli 1993 weitere Versicherungszeiten zu berücksichtigen sind (vgl dazu BT-Drucks 11/4124, S 206). Damit bestimmt sich das anwendbare Recht nach § 300 Abs 1 und 2 SGB VI.
Im vorliegenden Fall ist gemäß § 300 Abs 1 SGB VI von der Anwendbarkeit des SGB VI in der ab 1. Juli 1993 geltenden Fassung – also insbesondere mit der in § 250 Abs 2 SGB VI neu eingefügten Nr 3 – auszugehen, da die Sonderregelung des § 300 Abs 2 SGB VI nicht eingreift. Der nach dieser Vorschrift maßgebende Antrag ist nicht bis zum 30. September 1993 (innerhalb von drei Monaten nach Inkrafttreten) gestellt worden. Im vorliegenden Zusammenhang ist insoweit der Zeitpunkt des Zugunstenantrages der Klägerin (30. November 1993), hingegen nicht der des ursprünglichen Rentenantrages (Mai 1993) maßgebend. Nach der Begründung des Entwurfs zum RRG 1992 soll das vorher geltende Recht nämlich (nur) dann anzuwenden sein, wenn eine Neufeststellung innerhalb von drei Monaten nach der Aufhebung der bisherigen Vorschriften beantragt worden ist (vgl BT-Drucks 11/4124, S 206).
Soweit der 4. Senat des BSG in seinem (zur Veröffentlichung bestimmten) Urteil vom 30. Januar 1997 – 4 RA 55/95 – eine gegenteilige Auffassung vertreten hat, vermag der erkennende Senat dieser nicht zu folgen. Der 4. Senat will insbesondere § 300 Abs 1 SGB VI dahin verstehen, daß er die Anwendung neuer Vorschriften frühestens für Zeiten ab ihrem Inkrafttreten vorsehe. Eine solche Auslegung mag zwar mit dem Wortlaut dieser Bestimmung vereinbar sein, sie widerspricht jedoch dem aus den Gesetzesmaterialien deutlich erkennbaren Willen des Gesetzgebers (vgl BT-Drucks 11/4124, S 206). Trotz dieser Meinungsverschiedenheiten hat sich der erkennende Senat nicht gehalten gesehen, vor seiner Entscheidung gemäß § 41 Abs 3 Satz 1 SGG beim 4. Senat anzufragen, ob dieser an seiner Rechtsauffassung festhalte. Denn die betreffenden Ausführungen des 4. Senats tragen sein Urteil vom 30. Januar 1997 – 4 RA 55/95 – nicht. Der 4. Senat hat in dem dortigen Fall nämlich letztlich den auf einer Anwendung des neuen Rechts beruhenden Neufeststellungsbescheid bestätigt, weil die Revision sowohl nach altem als auch nach neuem Recht im Ergebnis unbegründet war.
Ebensowenig gibt das Urteil des BSG vom 18. Januar 1995 – 5 RJ 78/93 – dem erkennenden Senat Anlaß zu einer Anfrage gemäß § 41 Abs 3 Satz 1 SGG. Unabhängig davon, wie die darin enthaltenen Ausführungen zur Anwendung der RVO bei Entscheidung über einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X (vgl Umdr S 4) zu verstehen sind, hat der 5. Senat des BSG nämlich jedenfalls in seinem Urteil vom 18. Juni 1997 – 5 RJ 36/96 – klargestellt, daß er in seiner Auslegung des § 300 Abs 3 SGB VI mit der Rechtsauffassung des erkennenden Senats (Urteil vom 8. November 1995 in SozR 3-2600 § 300 Nr 5) übereinstimmt.
Eine Anwendung der RVO ergibt sich im vorliegenden Fall auch nicht aus einem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch der Klägerin. Dieses von der Rechtsprechung entwickelte Rechtsinstitut ist auf die Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung des Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Versicherungsträger die ihm aufgrund eines Gesetzes oder konkreten Sozialrechtsverhältnisses dem Versicherten gegenüber erwachsenden Haupt- oder Nebenpflichten, insbesondere zur Auskunft und Beratung, ordnungsgemäß wahrgenommen hätte (stRspr, vgl BSG SozR 3-1200 § 14 Nr 12 mwN; SozR 3-3200 § 86a Nr 2).
Zwar ist der Herstellungsanspruch seiner Rechtsfolge nach geeignet, uU zur Anwendung des SGB VI in der vor dem 1. Juli 1993 geltenden Fassung zu führen (vgl dazu BT-Drucks 11/4124 S 206), er kommt hier jedoch nicht in Betracht. In der Rechtsprechung des BSG ist ein solcher Anspruch bisher vornehmlich dort anerkannt worden, wo der Versicherte durch ein Verhalten der Verwaltung entweder von einer rechtzeitigen Wahrnehmung ihm zustehender Rechte abgehalten oder veranlaßt wurde, eine für ihn ungünstige Erklärung abzugeben. Dabei muß die Fehlleitung des Bürgers nicht durch eine Verletzung von Aufklärungs-, Beratungs- oder Auskunftspflichten iS der §§ 13 bis 15 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch (SGB I) bewirkt worden sein, sie kann auch auf anderen behördlich bedingten Umständen, zB einer rechtswidrigen Satzung (vgl BSG SozR 2200 § 313 Nrn 6, 7) oder einem Bescheid in einer anderen Sache (vgl BSG SozR 5850 § 26 Nr 2) beruhen. In engen Grenzen ist ein Herstellungsanspruch darüber hinaus auch bei zögerlicher Sachbearbeitung der Behörde bejaht worden (vgl BSG SozR 2200 § 1241a Nr 9). In jedem Fall bedarf es eines pflichtwidrigen Verwaltungshandelns (oder -unterlassens), das zu der für den Versicherten ungünstigen Rechtsposition beigetragen hat (vgl dazu auch die allgemeinen Rechtsgedanken in §§ 142, 242 BGB).
Diese Grundsätze würden es an sich erlauben, die Anwendung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs auch auf Fälle zu erstrecken, bei denen der dem Versicherten entstandene Nachteil in einer fehlerhaften Sachentscheidung liegt. Dem steht jedoch die Eigenart dieses Anspruchs als Ergebnis richterlicher Rechtsfortbildung entgegen. Für ein derartiges Rechtsinstitut ist nämlich nur dort Platz, wo es an gesetzgeberischen Regelungen fehlt (vgl zuletzt Bundesverwaltungsgericht, NJW 1997, 2966). Dies ist hinsichtlich der Behandlung rechtswidriger Verwaltungsakte aber gerade nicht der Fall. Hier hat der Gesetzgeber dem Betroffenen zunächst das Recht eingeräumt, die im SGG vorgesehenen Rechtsbehelfe einzulegen (Widerspruch, Klage, Berufung usw). Ist ein derartiger Bescheid bestandskräftig geworden (vgl § 77 SGG), besteht die Möglichkeit eines Zugunstenverfahrens nach § 44 SGB X. Damit ist die Korrektur von Verwaltungsentscheidungen, welche die Rechte eines Betroffenen nicht vollständig wahren, grundsätzlich abschließend geregelt (vgl dazu BSGE 60, 158, 164 ff = SozR 1300 § 44 Nr 23).
Kommt demnach eine Anwendung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs in diesem Zusammenhang allenfalls dann in Betracht, wenn über die fehlerhafte Sachbearbeitung, die zu einem rechtswidrigen Verwaltungsakt geführt hat, hinaus ein pflichtwidriges Verwaltungshandeln feststellbar ist, welches für die Rechtsnachteile des Betroffenen ursächlich geworden ist, so scheidet ein derartiger Anspruch der Klägerin nach den Feststellungen des LSG aus. Insbesondere ist sie weder davon abgehalten worden, im Rahmen ihres Erstantrages die streitigen Ersatzzeiten geltend zu machen, noch gegen den Bescheid vom 23. Juli 1993 Rechtsbehelfe einzulegen oder zu einem früheren Zeitpunkt (namentlich bis zum 30. September 1993) einen Antrag nach § 44 SGB X zu stellen.
Entgegen der Ansicht der Klägerin ist der Beklagten im Rahmen des ursprünglichen Rentenverfahrens auch keine Verletzung von Beratungspflichten anzulasten. Ein Sozialleistungsträger ist zwar verpflichtet, die Versicherten über ausdrücklich gestellte Fragen hinaus auch auf naheliegende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, wenn diese sich als offensichtlich zweckmäßig aufdrängen und mutmaßlich von jedem verständigen Versicherten genutzt werden (vgl etwa BSGE 60, 79, 86 = SozR 4100 § 100 Nr 11; BSG SozR 3-1200 § 14 Nr 5); darüber hinaus ist jedoch nicht zu verlangen, daß die Behörde die Versicherten bereits im Leistungsbewilligungsverfahren ungefragt über alle Einzelheiten möglicher Tatbestände und Voraussetzungen von für sie günstigen Regelungen informiert. Hat der Versicherungsträger mittels eines entsprechend gestalteten Antragsformulars – ggf unter Mitwirkung einer sachkundigen Stelle (wie hier der Gemeindeverwaltung U. …) – die für die Entscheidung über den Rentenantrag bedeutsamen Angaben des Versicherten aufgenommen, so liegt die weitere Sachbearbeitung grundsätzlich in seinen Händen. Insbesondere ermittelt er gemäß § 20 SGB X den Sachverhalt von Amts wegen. Demgegenüber ist es Sache des Antragstellers, die sodann ergehende Verwaltungsentscheidung, welche auch über den Umfang der anerkannten Versicherungszeiten Auskunft gibt, auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Bei eigener Unsicherheit steht es ihm frei, sich entweder unmittelbar vom Versicherungsträger zu konkreten Fragen beraten zu lassen oder auf andere Weise sachkundige Hilfe in Anspruch zu nehmen, zB – wie hier (allerdings erst zu einem späteren Zeitpunkt) – durch Hinzuziehung eines Rentenberaters.
Durch die Anwendung des § 250 SGB VI idF des Rü-ErgG bei der Neufeststellung ihrer Rente wird die Klägerin nicht in ihren verfassungsmäßigen Rechten verletzt (vgl dazu bereits BSG SozR 3-2600 § 300 Nr 5; so jetzt auch BSG, Urteil vom 18. Juni 1997 – 5 RJ 36/96 –).
Soweit die Klägerin einen Verstoß gegen Art 14 GG geltend macht, ist ihr entgegenzuhalten, daß ihr mit Einreise in die Bundesrepublik (also im Dezember 1992) entstandener Rentenanspruch (dh ihr Rentenstammrecht) durch diese Verfassungsnorm nur in der Ausgestaltung geschützt war, wie er sich in einer Zusammenschau aller in diesem Zeitpunkt geltenden, die Eigentümerstellung regelnden gesetzlichen Vorschriften darstellte (vgl dazu BVerfGE 58, 300, 336). Eine im vorliegenden Zusammenhang wesentliche Beschränkung der Rechtsposition der Klägerin ergab sich von vornherein insbesondere aus den Vorschriften über die Bestandskraft von Verwaltungsakten (§ 77 SGG) und über das Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X. Darüber hinaus war aus § 300 Abs 3 SGB VI zu entnehmen, daß ein länger als drei Monate nach dem Außerkrafttreten von Vorschriften des SGB VI gestellter Neufeststellungsantrag zur Anwendung des neuen Rentenrechts auch mit für sie möglicherweise ungünstigeren Bestimmungen führen würde.
In die durch diese Regelungen umschriebene Rechtsposition der Klägerin ist nicht dadurch in verfassungswidriger Weise eingegriffen worden, daß sich die darin angelegten Risiken im vorliegenden Fall dahingehend verwirklicht haben, daß die Klägerin ihren ursprünglich vorhandenen materiellen Rechtsanspruch auf eine höhere Rente durch zwischenzeitliche Rechtsänderungen verloren hat, nachdem sie den ihr erteilten Rentenbescheid zunächst hat bestandskräftig werden und später auch nicht rechtzeitig gemäß § 44 SGB X hat überprüfen lassen. Im übrigen ist die Klägerin durch die entsprechende Anwendung des § 88 SGB VI vor Einbußen bei ihrer laufenden Rente geschützt (vgl § 300 Abs 3 Satz 2 SGB VI). Damit scheidet auch eine Verletzung des – grundsätzlich gegenüber Art 14 Abs 1 GG subsidiären – rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes aus.
Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 8. November 1995 (SozR 3-2600 § 300 Nr 5) bereits näher ausgeführt hat, liegt auch kein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz (vgl Art 3 Abs 1 GG) vor. Soweit die Klägerin gegenüber anderen Versicherten ungleich behandelt wird, ist dies durch die in § 300 Abs 3 iVm Abs 2 SGB VI enthaltene Stichtagsregelung sachlich gerechtfertigt. Die Antragsfrist von drei Monaten nach Inkrafttreten einer Rechtsänderung ist ausreichend bemessen und orientiert sich an den materiellen Vorschriften zum Rentenbeginn (vgl § 99 Abs 1 SGB VI).
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1173222 |
SozR 3-2600 § 300, Nr.12 |
SozSi 1998, 397 |