Leitsatz (amtlich)
Es ist mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar, Art. 19 Satz 2 und 3 des Einigungsvertrages in der Weise auszulegen, dass Verwaltungsakte der Deutschen Demokratischen Republik, die nicht gegen fundamentale rechtsstaatliche Grundsätze verstoßen, von einer Rücknahme nach § 44 SGB X ausgeschlossen sind.
Verfahrensgang
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Tatbestand
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob die zum Fortbestand von Verwaltungsentscheidungen der Deutschen Demokratischen Republik nach der Herstellung der Deutschen Einheit in Art. 19 des Einigungsvertrages getroffene Regelung in ihrer Auslegung durch das Bundessozialgericht mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Im Ausgangsverfahren ging es konkret um die Anerkennung eines körperlichen Schadens als Folge eines Wegeunfalls nach dem Unfallversicherungsrecht der Deutschen Demokratischen Republik.
I.
1. Die Entschädigung von Unfällen und Krankheiten als Arbeitsunfall und Berufskrankheit war in der Deutschen Demokratischen Republik in §§ 217 ff. des Arbeitsgesetzbuches vom 16. Juni 1977 (GBl I S. 185; im Folgenden: AGB-DDR) geregelt. Die Vorschriften entsprachen weithin dem Recht der Bundesrepublik Deutschland. Nach § 220 Abs. 1 AGB-DDR war ein Arbeitsunfall die Verletzung eines Werktätigen im Zusammenhang mit dem Arbeitsprozess. Die Verletzung musste durch ein plötzliches, von außen einwirkendes Ereignis hervorgerufen worden sein. Als Arbeitsunfall galt auch ein Unfall auf einem mit der Tätigkeit im Betrieb zusammenhängenden Weg zur und von der Arbeitsstelle (§ 220 Abs. 2 AGB-DDR). Gemäß § 222 AGB-DDR traf die Entscheidung, ob ein Arbeitsunfall vorlag, die Betriebsgewerkschaftsleitung.
2. Art. 30 Abs. 5 Satz 1 des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertrag – vom 31. August 1990 (BGBl II S. 889 – im Folgenden: EV) behielt die Einzelheiten der Überleitung des Unfallversicherungsrechts der Bundesrepublik Deutschland einem zu erlassenden besonderen Bundesgesetz vor. Bis zum 31. Dezember 1991 sollte das Recht der Deutschen Demokratischen Republik im Beitrittsgebiet Geltung behalten (Anlage II Kapitel VIII Sachgebiet I Abschnitt III Nr. 4 EV).
a) Dem Gesetzgebungsauftrag kam der Gesetzgeber mit Art. 8 des Gesetzes zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung (Renten-Überleitungsgesetz – RÜG) vom 25. Juli 1991 (BGBl I S. 1606) nach. In die Reichsversicherungsordnung (RVO), die damals noch die Rechtsgrundlage des Unfallversicherungsrechts der Bundesrepublik Deutschland bildete, wurden Sonder- und Überleitungsvorschriften für das Beitrittsgebiet eingefügt (§§ 1150 ff. RVO). Für Arbeitsunfälle, die im Beitrittsgebiet nach dem 31. Dezember 1991 eingetreten waren, sollten gemäß § 1150 Abs. 1 RVO die Regelungen der Reichsversicherungsordnung gelten. Eine Sonderregelung erfuhren Arbeitsunfälle, die bereits vor dem 1. Januar 1992 im Beitrittsgebiet eingetreten waren und die nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht Arbeitsunfälle der Sozialversicherung waren. Gemäß § 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO galten diese Arbeitsunfälle als Arbeitsunfälle im Sinne der Reichsversicherungsordnung. Dies setzte jedoch voraus, dass die Unfälle dem für das Beitrittsgebiet nunmehr zuständigen Träger der Unfallversicherung vor dem 1. Januar 1994 bekannt wurden (§ 1150 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 RVO). War dies nicht der Fall, bestand ein Anspruch auf Leistungen nur dann, wenn die Anspruchsvoraussetzungen auch nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht waren (§ 1150 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 RVO). Der Gesetzgeber wollte aus Vertrauensschutzgründen alle bereits im Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens des Renten-Überleitungsgesetzes eingetretenen Unfälle, die nach dem Sozialversicherungsrecht des Beitrittsgebiets versichert waren, in die gesetzliche Unfallversicherung nach der Reichsversicherungsordnung übernehmen, und zwar grundsätzlich auch dann, wenn es sich nach der Reichsversicherungsordnung nicht um einen Arbeitsunfall gehandelt hätte.
b) An dieser Rechtslage änderte sich durch das In-Kraft-Treten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) zum 1. Januar 1997, das die Reichsversicherungsordnung als Rechtsgrundlage des gesetzlichen Unfallversicherungsrechts im Wesentlichen ablöste, nichts.
3. Soweit im Zeitpunkt der Herstellung der Deutschen Einheit bereits Verwaltungsakte der zuständigen Stellen der Deutschen Demokratischen Republik, wie etwa über die Anerkennung eines Wegeunfalls als Arbeitsunfall, vorlagen, regelt Art. 19 EV deren Fortbestand. Die Vorschrift lautet:
Fortgeltung von Entscheidungen der öffentlichen Verwaltung
Vor dem Wirksamwerden des Beitritts ergangene Verwaltungsakte der Deutschen Demokratischen Republik bleiben wirksam. Sie können aufgehoben werden, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen oder mit den Regelungen dieses Vertrags unvereinbar sind. Im Übrigen bleiben die Vorschriften über die Bestandskraft von Verwaltungsakten unberührt.
In der Denkschrift zum Einigungsvertrag (BTDrucks 11/7760, S. 364) ist zu Art. 19 ausgeführt:
Die Bestimmung stellt klar, dass die Wirksamkeit von Verwaltungsakten, die von Behörden der Deutschen Demokratischen Republik erlassen worden sind, grundsätzlich nicht mit dem Wegfall der erlassenden Körperschaft endet. Sie werden jedoch unwirksam, soweit der Vertrag oder eine andere Rechtsvorschrift dies bestimmt. Im Übrigen können sie unter den Voraussetzungen des Satzes 2 oder nach den verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschriften aufgehoben (zurückgenommen, widerrufen) werden. Die Bestimmung berührt nicht besondere Regelungen des Vertrages zur Fortgeltung von Verwaltungsentscheidungen, insbesondere Artikel 41 und Anlage III.
II.
1. Der 1926 geborene und zwischenzeitlich verstorbene ursprüngliche Beschwerdeführer (im Folgenden: Versicherter) rutschte im Februar 1984 auf dem Weg zur Arbeit bei Glatteis aus. Dabei zog er sich eine Prellung des linken Knies zu. Im September 1984 wurde sein linker Unterschenkel nach einem akuten Arterienverschluss amputiert. Er beantragte bei der insoweit zuständigen Betriebsgewerkschaftsleitung des “Volkseigenen Betriebes (VEB) Energiebau” im Juni 1985, die Amputation des Unterschenkels als Folge des Wegeunfalls anzuerkennen. Dies wurde im Dezember 1985 abgelehnt. Die aufgetretenen Durchblutungsstörungen und die nachfolgende Amputation seien keine Unfallfolge. Es handele sich vielmehr nach der eingeholten medizinischen Stellungnahme um eine anlagebedingte Erkrankung.
2. Nach der Herstellung der Deutschen Einheit beantragte der Versicherte im Juli 1991 bei der nun für ihn zuständigen Berufsgenossenschaft die Anerkennung seiner Unterbeinamputation als Folge eines Arbeitsunfalls. Aufgrund der unfallbedingten Prellung des Knies habe sich ein Blutgerinnsel gebildet, das zu dem Arterienverschluss geführt habe. Die Berufsgenossenschaft lehnte den Antrag mit Bescheid vom September 1992 ab. Es bestehe kein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Sturz auf das linke Knie und der Notwendigkeit der Amputation.
3. Widerspruch und Klage blieben zunächst ohne Erfolg. Nach Auffassung des Sozialgerichts ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallhergang, dem Verletzungsmuster und dem festgestellten akuten arteriellen Verschluss nicht wahrscheinlich. Das Landessozialgericht gab dagegen der Klage statt. Der Verlust des linken Unterschenkels des Versicherten sei Folge des im Februar 1984 erlittenen Arbeitsunfalls. Die Berufsgenossenschaft sei verpflichtet, dem Versicherten unter Rücknahme des Bescheides der Betriebsgewerkschaftsleitung vom Dezember 1985 nach § 44 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vom Hundert ab dem 1. Januar 1987 zu gewähren.
a) Ob ein Versicherungsfall vorliege, beurteile sich gemäß § 215 Abs. 1 SGB VII in Verbindung mit § 1150 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 RVO nach dem Recht der Deutschen Demokratischen Republik. Denn der Unfall habe sich vor dem 1. Januar 1992 ereignet. Der Versicherte habe ihn der Berufsgenossenschaft vor dem 31. Dezember 1993 bekannt gegeben. Durch den Sturz auf dem Weg zu seiner Tätigkeit habe er einen Arbeitsunfall im Sinne des § 220 Abs. 1 Satz 2 AGB-DDR erlitten. Die Amputation des Unterschenkels sei die Folge dieses Arbeitsunfalls.
b) Art. 19 Satz 2 EV stehe der Anwendung des § 44 Abs. 1 SGB X nicht entgegen. Nach seinem Wortlaut und seiner Entstehungsgeschichte sei Art. 19 EV so zu lesen, dass sein Satz 2 zusätzliche Aufhebungsmöglichkeiten für Verwaltungsakte begründe, die neben den Aufhebungsmöglichkeiten nach den allgemeinen Vorschriften des jeweiligen Verwaltungsverfahrensrechts zur Anwendung kommen sollen. Denn Satz 3 des Art. 19 EV ordne an, dass die Vorschriften über die Bestandskraft von Verwaltungsakten “im übrigen” unberührt blieben. Art. 19 Satz 1 EV stelle Verwaltungsentscheidungen der Deutschen Demokratischen Republik mit solchen der Bundesrepublik Deutschland formal gleich. Diese Gleichstellung müsse auch die in Satz 3 erwähnten allgemeinen Aufhebungsmöglichkeiten erfassen.
4. Auf die Revision der Berufsgenossenschaft hob das Bundessozialgericht das Urteil des Landessozialgerichts auf und wies die Berufung des Versicherten gegen das Urteil des Sozialgerichts zurück. Der den Anspruch auf Unfallrente ablehnende Bescheid der beklagten Berufsgenossenschaft erweise sich im Ergebnis als rechtmäßig. Die Berufsgenossenschaft sei an den Bescheid vom Dezember 1985, der dem Versicherten in der Deutschen Demokratischen Republik erteilt worden sei, im Sinne von § 77 SGG gebunden. Art. 19 EV schließe eine Aufhebung dieses Bescheides gemäß § 44 Abs. 1 SGB X aus.
a) Der Senat habe in inzwischen ständiger Rechtsprechung entschieden, dass Verwaltungsakte der Deutschen Demokratischen Republik, die vor Wirksamwerden des Beitritts ergangen seien, grundsätzlich wirksam blieben. Sie könnten nur aufgehoben werden, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen oder mit den Regelungen des Einigungsvertrages unvereinbar seien. Dieser grundsätzliche Ausschluss der Anwendbarkeit des § 44 Abs. 1 SGB X gelte für – möglicherweise – rechtswidrige, nicht begünstigende Verwaltungsakte in der Deutschen Demokratischen Republik nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats in gleicher Weise wie für rechtswidrige, begünstigende Verwaltungsakte. Auch die Aufhebung und Änderung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung gemäß § 48 Abs. 1 SGB X seien nach Art. 19 Satz 3 EV nur möglich, wenn die Änderung der Verhältnisse nach dem 31. Dezember 1990 eingetreten sei.
b) Die gegenteilige Rechtsauffassung des Landessozialgerichts überzeuge nicht. Der Wortlaut der vom Berufungsgericht zu Art. 19 EV herangezogenen Denkschrift der Vertragsparteien sei keineswegs zwingend dahingehend zu verstehen, dass “nur” der Fortbestand der von Behörden der Deutschen Demokratischen Republik erlassenen Verwaltungsakte trotz des Wegfalls dieser Behörden gesichert und der Deutschen Demokratischen Republik rückwirkend das Rechtssystem der alten Bundesrepublik Deutschland übergestülpt werden sollte. Dies widerspreche im Übrigen den allgemeinen Grundsätzen über das In-Kraft-Treten von Gesetzen. Diese erfassten, sofern keine mit dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG zu vereinbarenden, abweichenden Übergangsregelungen geschaffen würden, grundsätzlich nur Tatbestände, die nach dem In-Kraft-Treten des Gesetzes eingetreten seien. Sofern – wie hier – eine Rückwirkung von Rechtsfolgen nicht angeordnet worden sei, wirke der zum 1. Januar 1991 in Kraft getretene § 44 Abs. 1 SGB X nur für Sachverhalte, die nach seinem In-Kraft-Treten einträten.
Aus dem Einigungsvertrag ergebe sich, dass die Vorschriften des Art. 1 und 2 SGB X – und damit auch dessen § 44 – für den Bereich der Krankenversicherung, Rentenversicherung und Unfallversicherung erst ab dem 1. Januar 1991 anzuwenden seien. Die vor In-Kraft-Treten des SGB X verwirklichten Tatbestände seien einer Überprüfung im Rahmen der §§ 44, 45 und § 48 Abs. 3 SGB X entzogen. Für diese Tatbestände biete Art. 19 Satz 2 EV entgegen der Auffassung des Landessozialgerichts nicht zusätzliche, sondern die alleinigen Aufhebungsmöglichkeiten. Diese Auslegung weiche auch nicht von der Rechtsprechung der anderen obersten Gerichtshöfe des Bundes ab.
c) Aufgrund der bindenden Feststellungen des Landessozialgerichts sei nicht anzunehmen, dass die Voraussetzungen des Art. 19 Satz 2 EV im Falle des Bescheides vom Dezember 1985 erfüllt seien. Wie der Senat bereits entschieden habe (unter Hinweis auf BSGE 84, 22 ≪27≫), ergebe sich ein Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze nicht schon aus dem Umstand, dass Ablehnungsbescheide nach dem Recht der Deutschen Demokratischen Republik nicht durch Gerichte überprüft werden konnten, oder daraus, dass diese Bescheide gegebenenfalls nach den damals geltenden Vorschriften rechtswidrig gewesen sein könnten. Dies würde nämlich bedeuten, dass gegebenenfalls alle von den Behörden der Deutschen Demokratischen Republik erlassenen Verwaltungsakte nach Art. 19 EV aufgehoben werden könnten. Gerade das habe aber durch das Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen Art. 19 Satz 1 und Satz 2 EV ausgeschlossen werden sollen.
5. Die Beschwerdeführerin wendet sich als Rechtsnachfolgerin des Versicherten mit der Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Bundessozialgerichts. Sie rügt eine Verletzung der Art. 3, Art. 19 Abs. 1 und 2, Art. 20, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 95 GG sowie Art. 103 Abs. 1 GG und ist insbesondere der Ansicht, das Bundessozialgericht habe den Anspruch des Versicherten auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Es habe dessen rechtliche Ausführungen nicht zur Kenntnis genommen oder zumindest nicht erwogen. Dies gelte insbesondere für den Hinweis darauf, dass die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu gleichheitswidrigen Ergebnissen führe. Mit seinen Argumenten sei der Versicherte nicht gehört worden. Die Entscheidung des Bundessozialgerichts verletze zudem Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Gericht weiche mit seiner Rechtsprechung zu Art. 19 EV von der Rechtsprechung der anderen obersten Gerichtshöfe des Bundes ab. Es wäre deshalb verpflichtet gewesen, den Gemeinsamen Senat nach Art. 95 Abs. 3 Satz 1 GG anzurufen. Indem das Bundessozialgericht dies unterlassen habe, verletze es den Anspruch auf den gesetzlichen Richter. Seine Entscheidung in der Sache verstoße gegen das Sozialstaatsprinzip und das Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG.
III.
Zu der Verfassungsbeschwerde haben das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, der Verband der deutschen Rentenversicherungsträger (jetzt: Deutsche Rentenversicherung Bund), der Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften und die Berufsgenossenschaft der Chemischen Industrie Stellung genommen. Sie schließen sich der Rechtsauffassung des Bundessozialgerichts an. Die obersten Gerichtshöfe des Bundes haben Auskunft erteilt.
Entscheidungsgründe
B.
1. Die Verfassungsbeschwerde hat sich nicht durch den zwischenzeitlichen Tod des ursprünglichen Beschwerdeführers erledigt. Es geht im vorliegenden Fall um finanzielle Ansprüche. Eine Weiterführung des Verfahrens durch die Erbin ist daher möglich (vgl. BVerfGE 17, 86 ≪91≫ m.w.N.; stRspr).
2. Nicht alle mit der Verfassungsbeschwerde erhobenen Rügen sind zulässig. Soweit die Beschwerdeführerin einen Verstoß des Urteils des Bundessozialgerichts gegen Art. 19 Abs. 1 und 2 und Art. 20 GG rügt, macht sie nicht die Verletzung eines Grundrechts geltend (§ 90 Abs. 1 BVerfGG). Die Rüge einer Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 95 GG und des Art. 103 Abs. 1 GG genügt nicht den Anforderungen an die Begründung einer Verfassungsbeschwerde nach § 23 Abs. 1 und § 92 BVerfGG.
C.
Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet. Die mit ihr angegriffene Auslegung des Art. 19 EV durch das Bundessozialgericht verletzt nicht Art. 3 Abs. 1 GG.
I.
Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Damit ist dem Gesetzgeber allerdings nicht jede Differenzierung verwehrt. Er verletzt aber das Grundrecht, wenn er bei Regelungen, die Personengruppen betreffen, eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl. BVerfGE 102, 41 ≪54≫; stRspr). Für die Herstellung der Rechtseinheit im Bereich der Sozialversicherung hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber allerdings einen besonders weiten Gestaltungsraum zuerkannt (vgl. BVerfGE 95, 143 ≪157 f.≫; 100, 1 ≪38 f.≫; 104, 126 ≪147≫). Geht es um die Wiedergutmachung früheren, von einer anderen Staatsgewalt zu verantwortenden Unrechts, ist der Gesetzgeber an den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Bedeutung als bloßes Willkürverbot gebunden (vgl. BVerfGE 102, 254 ≪299≫ unter Verweis auf BVerfGE 27, 253 ≪285≫; 84, 90 ≪131≫). Danach verletzt eine Regelung über die Beseitigung von Verwaltungsunrecht der Deutschen Demokratischen Republik Art. 3 Abs. 1 GG nur dann, wenn für die durch sie getroffene Differenzierung kein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sachlich einleuchtender Grund besteht (vgl. BVerfGE 102, 254 ≪302≫).
II.
1. Nach der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Auslegung des Art. 19 EV durch das Bundessozialgericht ist eine Überprüfung der ablehnenden Entscheidung der zuständigen Stelle der Deutschen Demokratischen Republik über den Antrag des Versicherten auf Anerkennung des Unfalls als Arbeitsunfall auf der Grundlage des § 44 Abs. 1 SGB X nicht zulässig. Damit wird der Versicherte im Verhältnis zu der Gruppe nachteilig behandelt, über deren Antrag auf Anerkennung eines Unfalls als Arbeitsunfall vor der deutschen Einheit Versicherungsträger der Bundesrepublik Deutschland entschieden haben. Deren Entscheidungen unterliegen einer gerichtlichen Kontrolle und sind einer behördlichen Überprüfung auch nach Eintritt der formellen Bestandskraft auf der Grundlage des § 44 Abs. 1 SGB X zugänglich. Demgegenüber kannte die Rechtsordnung der Deutschen Demokratischen Republik weder in materieller Hinsicht eine § 44 SGB X entsprechende Möglichkeit der nachträglichen Korrektur von Sozialverwaltungsakten, durch die staatliche Leistungen zu Unrecht versagt wurden, noch – jedenfalls vor 1988 – eine gerichtliche Kontrolle solcher Verwaltungsentscheidungen (vgl. Brunner, in: Isensee/Kirchhof ≪Hrsg.≫, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 3. Aufl. 2003, § 11 Rn. 88; Hoeck, Verwaltung, Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtsschutz in der Deutschen Demokratischen Republik, 2003, S. 385 ff., 423 ff.). Eine nachteilige Ungleichbehandlung ist dem Versicherten auch im Vergleich zu den Personen entstanden, auf deren Verfahren der Entschädigung von Arbeitsunfällen in der Deutschen Demokratischen Republik Art. 19 EV nicht zur Anwendung kommt, weil vor der Herstellung der Deutschen Einheit keine Entscheidung ergangen ist.
2. Dagegen wird der Versicherte nicht anders behandelt als diejenigen, derem Antrag auf Anerkennung eines Unfalls als Arbeitsunfall die zuständigen Stellen der Deutschen Demokratischen Republik möglicherweise rechtswidrig stattgegeben haben. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gilt der grundsätzliche Ausschluss einer Überprüfung und Abänderung rechtswidriger Sozialverwaltungsakte der Deutschen Demokratischen Republik in gleicher Weise für rechtswidrige, nicht begünstigende wie für rechtswidrige begünstigende Verwaltungsentscheidungen (vgl. Krasney, BG 2001, S. 657 ≪658≫). Deshalb sind Arbeitsunfälle, die auf der Grundlage des Rechts der Deutschen Demokratischen Republik von deren zuständigen Dienststellen vor dem 3. Oktober 1990 anerkannt waren, nicht allein aus Anlass der Überleitung in das gesamtdeutsche Recht von Amts wegen neu festzustellen (vgl. BSGE 76, 124 ≪126≫). Folgerichtig kann auch eine von einem Leistungsträger der Deutschen Demokratischen Republik bindend getroffene Anerkennung eines Unfalls als Arbeitsunfall nicht nach § 48 Abs. 3 SGB X von zukünftigen Erhöhungen der Verletztenrente ausgespart werden (vgl. BSGE 80, 119 ≪122 f.≫).
III.
Die in Frage stehende Ungleichbehandlung ist gerechtfertigt.
1. In der historischen Umbruchsituation nach der Herstellung der Deutschen Einheit musste ein praktikabler Weg des Umgangs auch mit staatlichem Unrecht gefunden werden, das durch Entscheidungen der öffentlichen Verwaltung der Deutschen Demokratischen Republik begründet worden war und das die Bundesrepublik Deutschland zum Zeitpunkt der deutschen Einigung vorfand, ohne dass sie dafür verantwortlich ist oder dafür einzustehen hat (vgl. für den Justizbereich BVerfGE 101, 275 ≪288≫). Der Fortbestand von Verwaltungsentscheidungen ist in Art. 19 EV geregelt. Dabei wurde in Art. 19 Satz 1 EV im Interesse der Rechtssicherheit eine Entscheidung zugunsten der Rechtsbeständigkeit der Verwaltungsentscheidungen der Deutschen Demokratischen Republik getroffen. Diese sind danach über den 3. Oktober 1990 hinaus wirksam, wenn und soweit sie nach der seinerzeitigen Staats- und Verwaltungspraxis der Deutschen Demokratischen Republik ungeachtet etwaiger Rechtsmängel als wirksam angesehen und behandelt wurden (vgl. BVerwGE 104, 186 ≪192≫). Art. 19 Satz 2 EV ermöglicht nach allgemeiner Auffassung die Aufhebung nur solcher Verwaltungsentscheidungen, die mit tragenden rechtsstaatlichen Grundsätzen in einer Weise unvereinbar sind, dass ihr Fortbestand in der Verfassungs- und Verwaltungsrechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland nicht hingenommen werden kann (vgl. Dolzer, in: Isensee/Kirchhof ≪Hrsg.≫, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VIII, 1995, § 195 Rn. 19). Zur rechtlichen Bewältigung einer solchen Situation stehen zudem besondere gesetzliche Regelungen zur Verfügung (vgl. Gesetz über die Aufhebung rechtsstaatswidriger Verwaltungsentscheidungen im Beitrittsgebiet und die daran anknüpfenden Folgeansprüche ≪Verwaltungsrechtliches Rehabilitierungsgesetz – VwRehaG≫ vom 23. Juni 1994 ≪BGBl I S. 1311≫). Es durfte ohne Verstoß gegen das Grundgesetz im Einigungsvertrag davon abgesehen werden, die 40-jährige Verwaltungspraxis der Deutschen Demokratischen Republik am Maßstab der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland aufzuarbeiten.
2. Das materielle Unfallversicherungsrecht der Deutschen Demokratischen Republik entsprach zwar weithin dem Recht der Bundesrepublik Deutschland. Es gab jedoch auch Unterschiede, etwa in Bezug auf die Bemessung des Grades des Körperschadens (vgl. BTDrucks 12/405, S. 116). Wäre Art. 19 EV dahingehend auszulegen, dass alle von den zuständigen Stellen der Deutschen Demokratischen Republik im Rahmen der Unfallversicherung getroffenen Entscheidungen über die Anerkennung und Entschädigung als Arbeitsunfall einer Überprüfung auf der Grundlage des Rechts der Deutschen Demokratischen Republik oder auf der Grundlage des gesamtdeutschen Rechts unterliegen, wäre diese Aufgabe in einem unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit vertretbaren Zeitrahmen nicht zu leisten gewesen. Die Gesetzesbegründung zum Renten-Überleitungsgesetz spricht von etwa 300.000 übernommenen Entschädigungsfällen und einer nicht unerheblichen Zahl von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, die weit zurücklägen und zur Prüfung und gegebenenfalls Anerkennung noch anstünden (vgl. BTDrucks 12/405, S. 116). Auch der Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften hat in seinem Rundschreiben VB 85/92 vom September 1992 – worauf das Bundessozialgericht hingewiesen hat (vgl. BSGE 80, 119 ≪124≫) – als Ergebnis eines Informations- und Erfahrungsaustausches seiner Mitgliedsberufsgenossenschaften festgestellt, es würde an der erforderlichen Gutachterkapazität fehlen, um eine größere Zahl der übergeleiteten etwa 300.000 Fälle auf die Richtigkeit der seinerzeit vorgenommenen Bemessung des Körperschadens oder auf die Richtigkeit der Kausalitätsbeurteilung zwischen versicherter Tätigkeit und Körperschaden zu beurteilen. Dabei sind die Fälle noch nicht berücksichtigt, in denen eine Überleitung – wie bei den Rentenfällen – nicht stattfinden konnte, weil in der Deutschen Demokratischen Republik der Unfall nicht als Arbeitsunfall anerkannt worden war.
Das Bundessozialgericht durfte daher Art. 19 EV die Entscheidung entnehmen, die verfügbare Verwaltungs- und Sachverständigenkapazität auf die Bearbeitung der noch nicht bestandskräftig entschiedenen Schadenssachverhalte zu konzentrieren, die sich in der Deutschen Demokratischen Republik ereignet hatten. Das Abstellen auf den Gesichtspunkt der Verwaltungspraktikabilität (vgl. dazu BTDrucks 12/405, S. 116) kommt im vorliegenden Fall nicht in Konflikt mit verfassungsrechtlichen Prinzipien. Die Frage der verfassungsrechtlich gebotenen Reaktion einer Verwaltungsrechtsordnung auf die Verletzung tragender rechtsstaatlicher Grundsätze im Sinne des Art. 19 Satz 2 EV stellt sich im vorliegenden Fall nicht. Es geht um die fachlich-medizinisch zutreffende Bewertung eines körperlichen Schadens als Folge eines Arbeitsunfalls. Aus dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) kann zwar unter bestimmten Voraussetzungen eine verfassungsrechtliche Pflicht zum Ausgleich von Schäden folgen, die durch rechtswidriges Verhalten einer nicht an das Grundgesetz gebundenen Staatsgewalt entstanden sind (vgl. BVerfGE 102, 254 ≪298≫). Für die Annahme einer solchen Ausgleichspflicht ist im vorliegenden Fall jedoch nichts ersichtlich. Zutreffend hat das Bundessozialgericht in der mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidung darauf hingewiesen, dass die gesundheitliche Beeinträchtigung des Versicherten von seiner Krankenversicherung und der gesetzlichen Rentenversicherung aufgefangen wurde. Im Übrigen ist dem Grundgesetz keine allgemeine Verpflichtung der vollziehenden Gewalt zu entnehmen, rechtswidrig belastende und rechtswidrig begünstigende Verwaltungsakte unbeschadet des Eintritts ihrer formellen Bestandskraft von Amts wegen oder auf Antrag des Adressaten aufzuheben oder abzuändern (vgl. BVerfGE 20, 230 ≪235≫; 27, 297 ≪309 f.≫; 59, 128 ≪166 ff., 171≫; BVerfG, Urteil vom 24. Mai 2006 – 2 BvR 669/04 –, NVwZ 2006, S. 807 ≪810≫).
3. Es gibt auch hinreichende Sachgründe dafür, dass Art. 19 EV nicht auf Verfahren der Anerkennung von Arbeitsunfällen in der Deutschen Demokratischen Republik zur Anwendung kommt, über die vor der deutschen Einigung noch nicht entschieden worden ist. Art. 19 EV befasst sich ausschließlich mit bereits getroffenen Verwaltungsentscheidungen der Deutschen Demokratischen Republik. Es ist sein legitimes Ziel, grundsätzlich eine Kontinuität der durch Verwaltungsentscheidungen im Beitrittsgebiet begründeten Rechtsverhältnisse – zu Gunsten und zu Lasten der Beteiligten – zu sichern. Die durch diese Grundentscheidung geschonte Arbeitskapazität der Sozialverwaltung konnte der Bearbeitung der noch offenen Fälle zugute kommen.
Unterschriften
Papier, Steiner, Hohmann-Dennhardt, Hoffmann-Riem, Bryde, Gaier, Eichberger, Schluckebier
Fundstellen
Haufe-Index 1722766 |
BVerfGE 2007, 302 |