Rz. 7
Der Ausnahmekatalog in Abs. 2 enthält eine abschließende Aufzählung, die keine weiteren Ausnahmen erlaubt (BSG vom 9.3.1978, 2 RU 99/77, SozR 1200 § 34 Nr. 3). Auch eine analoge Anwendung auf andere Tatbestände ist nicht möglich. Es liegt im Ermessen der Behörde, ob sie in den in Abs. 2 aufgeführten Fällen von einer Anhörung absieht. Diese verfahrensmäßige Ermessensentscheidung unterliegt hinsichtlich der in den Tatbeständen des Abs. 2 enthaltenen unbestimmten Rechtsbegriffe der vollen gerichtlichen Nachprüfung.
Rz. 8
Bei der Notwendigkeit einer sofortigen Entscheidung wegen Gefahr im Verzug oder im öffentlichen Interesse (Abs. 2 Nr. 1) ist eine Anhörung entbehrlich. Gefahr im Verzug liegt dann vor, wenn durch die vorherige Anhörung auch bei kürzester Anhörungsfrist ein Zeitverlust einträte, der mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Folge hätte, dass der Zweck der zu treffenden Regelung nicht mehr zu erreichen wäre. Dabei gebietet es jedoch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, insbesondere das darin zum Ausdruck kommende Übermaßgebot, die ohne vorherige Anhörung getroffene Regelung auf die keine Verzögerung erlaubenden Maßnahmen zu beschränken. Das öffentliche Interesse i. S. v. Abs. 2 Nr. 1 verlangt eine aus sachlichen Gründen bestehende besondere Dringlichkeit, die den sofortigen Erlass eines eingreifenden Verwaltungsaktes notwendig macht. Dieses öffentliche Interesse muss über das allgemeine öffentliche Interesse an dem Erlass des Verwaltungsaktes hinausgehen, da die Regelung ansonsten leerliefe.
Rz. 8a
Zu den Fristen gemäß Abs. 2 Nr. 2 gehören gesetzliche und behördliche Fristen. Ob auch vereinbarte Fristen erfasst werden, ist streitig (bejahend: Vogelsang, in: Hauck/Haines, SGB X, § 24 Rz. 26; Franz, in: juris PK-SGB X, § 24 Rz. 43; verneinend: Siefert, in: von Wulffen/Schütze, SBG X, § 24 Rz. 24). Von Bedeutung sind hier Verjährungs- und Ausschlussfristen. Ob auch die Frist gemäß § 62 Abs. 2 Satz 1 SGB VII unter Abs. 2 Nr. 2 fällt, ist ebenfalls streitig (vgl. verneinend BSG, Urteil v. 11.12.1980, 2 RU 7/79; offen gelassen BSG, Urteil v. 5.2.2008, B 2 U 6/07 R, SozR 4-1300 § 41 Nr. 1).
Rz. 8b
Durch die Verwertung der Angaben eines Beteiligten (Abs. 2 Nr. 3) in seinem Sinne sind dessen Rechte ohnehin ausreichend gewahrt. Damit dient die Vorschrift der Verfahrensökonomie; denn eine erneute Anhörung würde lediglich zu einer bloßen Wiederholung der vom Versicherten zuerst gemachten Angaben führen. Will die Behörde den Verwaltungsakt neben den Angaben des Beteiligten jedoch auf weitere Tatsachen stützen, ist die Anhörung durchzuführen.
Rz. 9
Allgemeinverfügungen (Abs. 2 Nr. 4) sind Verwaltungsentscheidungen, die sich zur Regelung einer konkreten Situation an einen aus dieser Situation heraus bestimmbaren Personenkreis richten. Sie gelten als Verwaltungsakte (§ 31 Satz 2). Da nur der Personenkreis und nicht die betroffenen Einzelpersonen vorher bestimmt werden können, ist eine vorherige Anhörung praktisch nicht durchführbar.
Ein Verwaltungsträger darf von der Anhörung eines Beteiligten wegen des Erlasses von gleichartigen Verwaltungsakten in größerer Zahl(Nr. 4 Alt. 2) nur dann absehen, wenn er zu einem bestimmten Zeitpunkt schematische Regelungen gegenüber einer Vielzahl von Adressaten treffen muss, die deren Rechte ausschließlich nach einer für alle identischen Rechtsänderungsformel berühren, z. B. Rentenanpassungsbescheide nach gesetzlichen Rentenerhöhungen, Beitragsbescheide nach satzungsmäßigen Beitragssatzänderungen (BSG, Urteil v. 26.9.1991, 4 RK 4/91, BSGE 69 S. 250).
Rz. 10
Abs. 2 Nr. 5 erfasst die Anpassung einkommensabhängiger Leistungen an die geänderten Verhältnisse. Einkommensabhängige Leistungen sind Sozialleistungen, die in Abhängigkeit von vorhandenem Einkommen und Vermögen gezahlt werden sowie solche, bei denen Einkommen angerechnet wird, z. B. Leistungen nach dem SGB II, SGB XII, Wohngeld, Arbeitslosengeld bei Anrechnung von Nebeneinkommen, Kürzung des Krankengeldes gemäß § 50 Abs. 2 SGB V, Anrechnung gemäß § 93 SGB VI. Die Regelung findet nur auf Anpassungsbescheide Anwendung und scheidet deshalb bei vollständiger Aufhebung oder Rücknahme aus. Bei einer Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs. 3 SGB II ist Abs. 2 Nr. 5 nur erfüllt, soweit es sich um eigenes Einkommen desjenigen handelt, gegenüber dem die Anpassung der einkommensabhängigen Leistungen erfolgt. Daraus folgt, dass gegenüber dem Mitglied der Bedarfsgemeinschaft, dessen Einkommen angerechnet wird, nicht angehört werden muss; gegenüber den übrigen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft hingegen schon (BSG, Urteil v. 4.6.2014, B 14 AS 2/13 R, SozR 4-4200 § 38 Nr. 3).
Rz. 11
Maßnahmen der Verwaltungsvollstreckung (Abs. 2 Nr. 6) können nicht selten durch vorherige Anhörung des Vollstreckungsschuldners vereitelt werden, weshalb von einer vorherigen Anhörung abgesehen werden kann. Der Vollstreckungsschuldner kann seine Rechte im Vollstreckungsverfahren ) wahren. Unter die Vorschrift fallen die reinen Vollstreckungsakte, wie z. B. Pfändungs- und Üb...