Rz. 21
Von einem unmittelbaren Behinderungsausgleich ist auszugehen, wenn eine bei der Geburt nicht vorhandene oder später verloren gegangene Körperfunktion ganz oder teilweise ersetzt wird. Der unmittelbare Behinderungsausgleich erfolgt beispielsweise durch Hörgeräte (dadurch kann man wieder hören), durch Brillen (dadurch kann man wieder besser sehen) oder durch "Körperersatzstücke" wie z. B. durch Prothesen (dadurch kann man z. B. wieder greifen oder gehen).
Ziel der Versorgung ist das weitestgehende Gleichziehen mit nichtbehinderten Menschen. Es gilt somit das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts. Deshalb kann auch die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig i. S. d. Gleichziehens mit einem gesunden Menschen erreicht ist (z. B. C-Leg II: vgl. BSG, Urteil v. 17.12.2009, B 3 KR 20/08 R Rz. 15; aufwendiges Hörgerät: vgl. BSG, Urteil v. 24.1.2013, B 3 KR 5/12 R; elektrisch betriebene Treppensteighilfe: BSG, Urteil v. 16.7.2014, B 3 KR 1/14 R).
Die Wirtschaftlichkeit eines dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dienenden Hilfsmittels ist grundsätzlich zu unterstellen und erst dann zu prüfen, wenn mindestens 2 tatsächlich gleichwertige, aber unterschiedlich teure Hilfsmittel zur Wahl stehen (vgl. z. B. BSG, Urteil v. 25.6.2009, B 3 KR 2/08 R zur Versorgung mit einer Badeprothese, die bei einem unterschenkelamputierten Menschen dem sicheren Gehen und Stehen in Nassbereichen dient).
Sind unter medizinischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten mehrere Hilfsmittel gleichermaßen geeignet, den behinderungsbedingten Funktionsausgleich zu gewährleisten, steht dem behinderten Menschen ein Wahlrecht bei der Auswahl des zu finanzierenden Hilfsmittels zu (BSG, Urteil v. 3.11.1999, B 3 KR 16/99).
Beinamputierte Leistungsberechtigte haben grundsätzlich z. B. Anspruch auf Versorgung mit einem C-Leg (= intelligent gesteuertes Prothesensystem), sofern sie die Gebrauchsvorteile gegenüber einer konventionellen Prothese ausschöpfen können. Dazu reicht es,
- wenn sich der Betroffene z. B. mit dem C-Leg sicherer und weniger schnell ermüdet fühlt oder
- wenn er sich insbesondere im ausgiebig genutzten großen Garten seines Hauses besser bewegen kann oder
- wenn er weniger hinkt, sein Laufbild verbessert, das Gleichgewicht besser halten und wieder auch alternierend Treppen steigen kann
(LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 9.3.2011, L 9 KR 152/08).
Speziellen Wünschen im Hinblick auf Komfort oder Ästhetik ist nur nachzukommen, wenn der Leistungsberechtigte die Mehrkosten trägt (BSG, Urteil v. 15.3.2018, B 3 KR 18/17 R). Somit kann eine unter vollständigem Haarverlust leidende Frau die Versorgung mit einer Perücke nur in einer Qualität verlangen, die den Verlust des natürlichen Haupthaares für einen unbefangenen Beobachter nicht sogleich erkennen lässt; ein Anspruch auf möglichst vollständige Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes besteht nicht (BSG, Urteil v. 23.7.2002, B 3 KR 66/01 R).