BAG, Urteil vom 23.11.2023, 8 AZR 212/22
Leitsatz (amtlich)
Dem persönlichen Anwendungsbereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AGG unterfallen auch Praktikanten, die iSv. § 26 BBiG eingestellt werden, um berufliche Fertigkeiten, Kenntnisse, Fähigkeiten oder berufliche Erfahrungen zu erwerben.
Sachverhalt
Der Kläger ist mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 40 behindert. Er studiert an der Hochschule F im Studiengang Sozialrecht. Im Mai 2020 schrieb die Beklagte ein Förderprogramm für Studierende in den Studiengängen Sozialrecht oder Wirtschaftsrecht aus, in welchem Teilnehmer von der Beklagten mit einem monatlichen Betrag i. H. v. 880,00 EUR brutto gefördert wurden und zudem für Zeiten der betrieblichen Praxis an verschiedenen Einsatzorten der Beklagten eine monatliche Praktikumsvergütung i. H. v. 1.570,00 EUR brutto erhalten sollten. Es wurde in der Stellenausschreibung auszugsweise damit geworben, dass die Teilnehmer u. a. die vorlesungsfreien Zeiten nutzen können, um 1. praktische Erfahrungen zu sammeln, so dass auch die Kenntnisse in den genannten Fachgebieten schrittweise durch praktische Anwendung vertieft werden könnten. Der Kläger bewarb sich am 28.7.2020 um eine Teilnahme an diesem Förderprogramm. Mit Schreiben vom 31.7.2020 beantragte er die Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen nach § 2 Abs. 3 SGB IX. Am 12.8.2020 fand in der Agentur für Arbeit das Auswahlgespräch für das Förderprogramm statt. In diesem Gespräch wies der Kläger auf seine Behinderung hin und erklärte, dass er einen Gleichstellungsantrag gestellt habe. Am 17.8.2020 sagte die Beklagte dem Kläger wegen des Förderprogramms telefonisch ab. Mit Bescheid vom 10.9.2020 wurde der Kläger rückwirkend zum 31.7.2020 einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt.
Der Kläger, der die Auffassung vertreten hat, die Beklagte habe ihn aufgrund seiner Behinderung benachteiligt, machte Entschädigungsansprüche nach dem AGG geltend. Er brachte vor, der persönliche Anwendungsbereich des AGG sei eröffnet, da es sich bei dem ausgeschriebenen Förderprogramm um eine Beschäftigung i. S. d. § 6 Abs. 1 AGG handele. Und da die Beklagte während des Vorstellungsgesprächs über seine Behinderung und das laufende Gleichstellungsverfahren erfahren hatte, sei sie verpflichtet gewesen, die Verfahrensvorschriften zugunsten schwerbehinderter Menschen einzuhalten und die Schwerbehindertenvertretung einzuschalten, was sie jedoch nicht getan hatte.
Die Entscheidung
Die Klage hatte keinen Erfolg.
Das Gericht entschied, dass der Kläger gegen die Beklagte keinen Anspruch auf eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG habe, da er keine Indizien i. S. v. § 22 AGG dafür dargelegt hatte, dass er wegen seiner Behinderung benachteiligt worden war.
Zum persönlichen Anwendungsbereich des AGG urteilte das BAG zwar, dass dieser eröffnet sei; denn Zielsetzung der Richtlinie 2000/78/EG sei es, einen allgemeinen Rahmen zu schaffen, der gewährleiste, dass jeder "in Beschäftigung und Beruf" gleichbehandelt werde (s. u. a. EuGH, Urteil v. 27.4.2023, C-681/21; 28.7.2016, C-423/15). Diesem umfassenden Ziel entsprechend dürften die Begriffe, die in der Umsetzung in nationales Recht den Anwendungsbereich dieser Richtlinie festlegten, nicht eng ausgelegt werden. Danach fielen, so das Gericht weiter, unter den Begriff der "Berufsbildung" i. S. v. § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AGG nicht allein Personen, die eine Berufsausbildung i. S. d. Berufsbildungsgesetzes absolvierten, sondern auch Personen i. S. v. § 26 BBiG, die eingestellt seien, um berufliche Fertigkeiten, Kenntnisse, Fähigkeiten oder berufliche Erfahrungen zu erwerben, insbesondere Praktikanten.
Und darum handele es sich im vorliegenden Fall. Aus der Stellenbeschreibung werde deutlich, dass für die vorlesungsfreien Zeiten ein bezahltes Praktikum und damit eine Tätigkeit "in Beschäftigung und Beruf" angeboten worden sei. Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus dem Umstand, dass die von der Beklagten ausgeschriebene Förderung auch einen monatlichen Förderbetrag i. H. v. 880,00 EUR brutto für Zeiten des Studiums außerhalb der betrieblichen Praxis umfasste; denn nach der Ausschreibung der Beklagten seien die Praktikumsphasen während der vorlesungsfreien Zeit untrennbar mit der rein finanziellen Förderung in den Vorlesungszeiten verbunden, sodass das Förderprogramm insgesamt als Beschäftigungsverhältnis i. S. v. § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AGG anzusehen sei.
Der Kläger hatte gegen die Beklagte jedoch keinen Anspruch auf eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG, da er keine Indizien i. S. v. § 22 AGG dafür dargelegt hatte, dass er wegen seiner Behinderung benachteiligt worden war. Nach Auffassung des Gerichts sei die Beklagte während des laufenden Gleichstellungsverfahrens nicht verpflichtet gewesen, im Bewerbungsverfahren die Verfahrensvorschriften zugunsten von schwerbehinderten und diesen gleichgestellten Menschen aus § 164 Abs. 1 Satz 4, § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX einzuhalten. Etwas anderes ergebe sich nach Auff...