Entscheidungsstichwort (Thema)
Teilanfechtung der Wahl der Arbeitnehmervertreter zum Aufsichtsrat nach dem Mitbestimmungsgesetz. öffentliche Stimmenauszählung
Leitsatz (amtlich)
Ein Wahlanfechtungsantrag nach § 22 Abs. 1 MitbestG kann auf einzelne Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmervertreter beschränkt werden, soweit sich der Wahlverstoß ausschließlich bei dem einzelnen Arbeitnehmervertreter auswirkt und die Rechtmäßigkeit der Wahl der übrigen Arbeitnehmervertreter einschließlich der gewählten Ersatzmitglieder unberührt läßt.
Die Vorschriften der 3. WO über die öffentliche Stimmenauszählung gehören zu den wesentlichen Vorschriften eines Wahlverfahrens nach dem MitbestG, auf die eine Anfechtung nach § 22 Abs. 1 MitbestG gestützt werden kann.
Normenkette
MitbestG § 22 Abs. 1; MitbestGWO 3 §§ 49, 53
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Beteiligten zu 6) bis 11) wird der Beschluß des Landesarbeitsgerichts Nürnberg vom 14. Februar 1996 – 4(3) TaBV 15/95 – aufgehoben.
Auf die Beschwerde der Beteiligten zu 6) bis 11) wird der Beschluß des Arbeitsgerichts Nürnberg vom 4. Oktober 1994 – 9 BV 45/94 – abgeändert.
Der Antrag wird als unzulässig zurückgewiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
A. Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit der Wahl einzelner Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat einer Konzernobergesellschaft (Bet. zu 10).
Für deren nach § 5 MitbestG mitbestimmten Aufsichtsrat fanden am 23. und 24. März 1994 die Wahlen der Arbeitnehmervertreter als Urwahlen statt. Zu wählen waren sechs Arbeitnehmervertreter, davon zwei Vertreter von Gewerkschaften. An der Wahl nahmen die Arbeitnehmer der Konzerntochterunternehmen Sch… GmbH & Co. KG (SLG) mit 3.713 Beschäftigten sowie der E… GmbH mit 23 Beschäftigten teil. In dem Unternehmen SLG bestehen Betriebe in N…, P… und U….
Zur Durchführung der Aufsichtsratswahl wurde in N… ein Hauptwahlvorstand gebildet, der zugleich als Unternehmenswahlvorstand der SLG tätig wurde. Daneben bestanden in N…, U…, P… und E… weitere Betriebswahlvorstände. Die Wahl wurde durch Wahlausschreiben des Hauptwahlvorstandes vom 25. Januar 1994 eingeleitet, in dem unter anderem bestimmt war, daß die einzelnen Betriebswahlvorstände die Wahlunterlagen unmittelbar nach Durchführung der Wahl in einem fest verschlossenen Behältnis, Paket oder dergleichen an den Betriebswahlvorstand in N… zum Zwecke der gemeinsamen Stimmauszählung am 29. März 1994 versenden sollen. Dementsprechend versandten die Betriebswahlvorstände die Wahlunterlagen ohne vorherige öffentliche Auszählung. Das Wahlergebnis wurde am 7. April 1994 im Bundesanzeiger veröffentlicht.
Mit einem am 19. April 1994 bei Gericht eingegangenen Antrag haben fünf wahlberechtigte Arbeitnehmer (Bet. zu 1) bis 5) die Wahl der vier unternehmensangehörigen Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer angefochten. Sie haben die Ansicht vertreten, die Wahl sei wegen der Verletzung einer Vielzahl wesentlicher Verfahrensvorschriften unwirksam. Sie beanstanden unter anderem die Vermengung von Wahlvorständen sowie einen Verstoß gegen das Gebot der unverzüglichen öffentlichen Stimmauszählung. Außerdem haben sie geltend gemacht, 30 gekündigte Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnisse erst nach Durchführung der Wahl geendet habe, seien an der Wahl nicht beteiligt worden. Darüber hinaus hätten 1.300 Arbeitnehmer im Außendienst keine vollständigen Wahlunterlagen erhalten. Für die Gesamtheit der Außendienstmitarbeiter habe keine Briefwahl angeordnet werden dürfen.
Die Bet. zu 1) bis 5) haben beantragt
festzustellen, daß die am 23./24. März 1994 stattgefundene Wahl der Arbeitnehmervertreter E…, W…, V… und A… in den Aufsichtsrat unwirksam ist.
Die Bet. zu 6) bis 11) haben beantragt, den Antrag abzuweisen.
Sie haben die Beschränkung der Wahlanfechtung auf einzelne Aufsichtsratsmitglieder für unzulässig gehalten.
Das Arbeitsgericht hat dem Antrag stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Beschwerden der Beteiligten zu 6) bis 11) zurückgewiesen. Mit ihrer Rechtsbeschwerde verfolgen die Bet. zu 6) bis 11) die Abweisung des Antrags. Die Bet. zu 1) bis 5) beantragen die Zurückweisung der Rechtsbeschwerde. Die beteiligten Gewerkschaften haben keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
B. Die Rechtsbeschwerde der Bet. zu 6) bis 11) ist begründet. Die Vorinstanzen haben die Wahl der vier unternehmensangehörigen Arbeitnehmervertreter zum Aufsichtsrat der Bet. zu 10) zu Unrecht für unwirksam erklärt. Die auf vier Arbeitnehmervertreter beschränkte Anfechtung der Aufsichtsratswahl vom 23./24. März 1994 ist unzulässig. Die Antragsteller haben keine Anfechtungsgründe vorgetragen, für die § 22 Abs. 1 MitbestG eine Teilanfechtung erlaubt.
Die form- und fristgerecht eingelegten Rechtsbeschwerden der Bet. von 6) bis 11) sind statthaft.
Ob an dem Verfahren – wie das Landesarbeitsgericht meint – auch die in dem Unternehmen vertretenen Gewerkschaften zu beteiligen waren, obwohl sie von ihrem Wahlanfechtungsrecht keinen Gebrauch gemacht haben, bedarf keiner Entscheidung. Die beteiligten Gewerkschaften haben keine Anträge gestellt; die von ihnen vorgeschlagenen Wahlbewerber sind von dem Anfechtungsbegehren ausgenommen.
Die Rechtsbeschwerde ist begründet.
- Die formalen Voraussetzungen der Wahlanfechtung sind erfüllt. Die nach § 22 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 MitbestG erforderliche Anzahl der wahlberechtigten Arbeitnehmer des mitbestimmten Unternehmens haben mit dem am 19. April 1994 eingereichten Antrag die mit der Veröffentlichung des Wahlergebnisses im Bundesanzeiger beginnende zweiwöchige Anfechtungsfrist des § 22 Abs. 2 Satz 2 MitbestG gewahrt.
Der Anfechtungsantrag ist unzulässig. Die antragstellenden Arbeitnehmer konnten ihre Wahlanfechtung nicht auf die vier unternehmensangehörigen Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmervertreter beschränken und davon die im gleichen Wahlverfahren gewählten Ersatzmitglieder und Vertreter der Gewerkschaften ausnehmen. Die Vorinstanzen haben verkannt, daß die geltend gemachten Wahlverstöße notwendigerweise die Rechtmäßigkeit der Wahl aller Arbeitnehmervertreter für den mitbestimmten Aufsichtsrat der Bet. zu 10) und der Ersatzmitglieder betreffen würde. Ein darauf beruhender gesetzwidriger Zustand kann durch eine Teilanfechtung nicht beseitigt werden.
Nach § 22 Abs. 1 MitbestG kann die Wahl eines Aufsichtsratsmitglieds oder eines Ersatzmitglieds der Arbeitnehmer angefochten werden. Ihrem Wortlaut nach läßt die Vorschrift sowohl die Anfechtung der Wahl einzelner als auch die aller Arbeitnehmervertreter und der Ersatzmitglieder zu. Nach Sinn und Zweck des Anfechtungsrechts kann der Anfechtungsantrag jedoch nur dann auf einzelne Aufsichtsratsmitglieder beschränkt werden, soweit sich der Wahlverstoß ausschließlich bei ihnen auswirkt und die Rechtmäßigkeit der Wahl der übrigen Arbeitnehmervertreter einschließlich der Ersatzmitglieder unberührt läßt.
Das Anfechtungsrecht nach § 22 Abs. 1 MitbestG dient ebenso wie das Wahlanfechtungsrecht nach § 19 BetrVG der Korrektur eines unter Verletzung von Wahlvorschriften zustande gekommenen Wahlergebnisses. Es zielt darauf ab, die Unwirksamkeit einer Wahl festzustellen, um auf diese Weise eine erneute, den gesetzlichen Vorschriften entsprechende Wahl zu ermöglichen (BAG Beschluß vom 7. Dezember 1988 – 7 ABR 10/88 – AP Nr. 15 zu § 19 BetrVG 1972). Wirkt sich der Wahlverstoß auf die Wahl aller Arbeitnehmervertreter aus, kann ein gesetzmäßiger Zustand nur durch eine Neuwahl nach vorheriger gerichtlicher Feststellung der Unwirksamkeit der Wahl aller Arbeitnehmervertreter einschließlich der nach § 17 Abs. 2 MitbestG mitgewählten Ersatzmitglieder erreicht werden. Ansonsten blieben die von der Wahlanfechtung ausgenommenen, aber gleichwohl verfahrensfehlerhaft gewählten Arbeitnehmervertreter und Ersatzmitglieder im Amt oder würden an die Stelle der mit Feststellung der Unwirksamkeit ihrer Wahl aus dem Aufsichtsrat ausscheidenden Arbeitnehmervertreter treten (Fitting/Wlotzke/Wißmann, MitbestG, 2. Aufl., § 22 Rz 36). Eine dem Sinn des Anfechtungsverfahrens entsprechende Rechtslage kann insoweit mit einer Teilanfechtung nicht erreicht werden. Sie ist nur in den Fällen zulässig, in denen der Anfechtungsgrund auf das jeweilige Aufsichtsratsmitglied oder Ersatzmitglied beschränkt ist, wie zum Beispiel bei einem Verstoß gegen die Wählbarkeit (Fitting/Wlotzke/Wißmann, aaO, § 22 Rz 17; GK-Matthes, MitbestG, § 22 Rz 16; Hanau/Ulmer, MitbestG, § 22 Rz 3).
Die von dem Antragssteller geltend gemachte Wahlanfechtung stellt die Rechtmäßigkeit der Wahl aller Arbeitnehmervertreter und der Ersatzmitglieder in Frage.
- Nach dem Vorbringen der Antragsteller ist die Feststellung des Wahlergebnisses unter Verletzung wesentlicher Vorschriften über das Wahlverfahren erfolgt. Nach § 49 Abs. 1, § 53 Abs. 1 der hier maßgeblichen 3. WO MitbestG hat der Betriebswahlvorstand unverzüglich nach Abschluß der Stimmabgabe die Auszählung der Stimmung öffentlich vorzunehmen. Dazu hat er nach Öffnung der Wahlurne die Stimmzettel den Wahlumschlägen zu entnehmen und für jeden Wahlgang gesondert die auf jeden Wahlvorschlag entfallenden Stimmen zusammenzuzählen. Gegen diese Bestimmungen haben die Betriebswahlvorstände nach dem vom Landesarbeitsgericht festgestellten Sachverhalt verstoßen, weil sie entsprechend dem Wahlausschreiben des Hauptwahlvorstandes verfahren sind und die Stimmenauszählung nicht selbst am Wahltag unverzüglich nach Wahlschluß vorgenommen haben, sondern die Wahlunterlagen zum Zwecke der gemeinsamen Stimmauszählung nach N… versandten.
Das in § 49 Abs. 1, § 53 Abs. 1 der 3. WO MitbestG normierte Gebot der unverzüglichen und öffentlichen Stimmauszählung soll den wahlberechtigten Arbeitnehmern den ungehinderten Zugang zum Ort der Stimmenauszählung ermöglichen, um dem Verdacht oder der Durchführung einer Manipulation des Wahlergebnisses durch Änderung, Verlust oder Austausch von Stimmzetteln vorzubeugen. Stimmzettel, die nicht betriebsöffentlich der Wahlurne entnommen und anschließend zum Zwecke der späteren Auszählung an einen anderen Ort versandt werden, sind dem Zugriff Dritter ausgesetzt, die auf das Wahlergebnis durch Wegnahme oder Hinzufügen von Stimmzetteln Einfluß nehmen können. Für das Vorliegen dieses Wahlverstosses ist nicht entscheidend, ob eine Manipulation an den nicht unverzüglich ausgezählten Stimmzetteln festgestellt werden kann. Es genügt, daß infolge des Verfahrensverstosses eine Lage geschaffen wurde, in der ein solcher Eingriff möglich war.
Bei den Regelungen der 3. WO MitbestG zur öffentlichen Stimmauszählung handelt es sich um wesentliche Vorschriften über das Wahlverfahren i.S.d. § 22 Abs. 1 MitbestG (vgl. Fitting/Wlotzke/Wißmann, aaO, § 22 Rz 22). Sie sind zwingend und belassen dem Hauptwahlvorstand keinen Entscheidungsspielraum.
Auch eine Kausalität zwischen dem Wahlverstoß und der Beeinflussung des Wahlergebnisses liegt vor. Da sämtliche Betriebswahlvorstände verfahrensfehlerhaft verfahren sind, läßt sich eine Änderung oder die Beeinflussung des Wahlergebnisses nicht ausschließen.
- Dieser Wahlfehler stellt jedoch die gesetzmäßige Zusammensetzung der gesamten Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat in Frage. Die auf einen Teil der Arbeitnehmervertreter beschränkte Anfechtung ist demnach unzulässig. Auf die weiteren von den Antragstellern gemachten Wahlverstöße kommt es nicht mehr an. Auch sie würden sich, soweit sie vorlägen und begründet wären, auf die Rechtmäßigkeit der Wahl jedes Arbeitnehmervertreters oder zumindest auf die des Ersatzmitglieds auswirken.
Unterschriften
Dörner, Steckhan, Schmidt, Koch, Seiler
Fundstellen
Haufe-Index 893920 |
BAGE, 117 |
DB 1998, 139 |
FA 1998, 30 |
NZA 1998, 162 |
SAE 1998, 233 |