Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsänderung. Zahl der regelmäßig Beschäftigten
Orientierungssatz
1. Maßgebender Zeitpunkt, zu dem die formellen Voraussetzungen des § 111 Satz 1 BetrVG vorliegen müssen, ist der Zeitpunkt, in dem die Beteiligungsrechte des Betriebsrats entstehen. Nicht maßgebend ist der Zeitpunkt der letzten Betriebsratswahl. Deshalb verliert auch ein mehrgliedriger Betriebsrat, der zunächst für Betriebe mit in der Regel mindestens 21 wahlberechtigten Arbeitnehmern zu wählen ist, die Beteiligungsrechte bei Betriebsänderungen, wenn die Arbeitnehmerzahl während der Amtszeit des Betriebsrats nicht nur vorübergehend auf weniger als 21 absinkt.
2. Bei einer Betriebsstillegung kommt nur ein Rückblick auf die bisherige Entwicklung in Frage.
Normenkette
ZPO § 561 Abs. 1; BetrVG § 111 S. 1
Verfahrensgang
LAG Köln (Entscheidung vom 19.10.1983; Aktenzeichen 5 TaBV 23/83) |
ArbG Köln (Entscheidung vom 15.03.1983; Aktenzeichen 4 BV 19/83) |
Gründe
A. Die Parteien streiten darüber, ob der Betriebsrat aus Anlaß der Betriebsstillegung die Aufstellung eines Sozialplans verlangen kann. Das hängt davon ab, ob im maßgebenden Zeitpunkt im Betrieb des Unternehmers in der Regel mehr als 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigt waren.
Der Unternehmer unterhielt seit 1972 in Köln einen Betrieb, in dem im wesentlichen Artikel eines italienischen Unternehmens vertrieben wurden. Er legte diesen Betrieb zum 31. März 1983 still. Die Absicht, den Betrieb stillzulegen, hatte er dem bei ihm gebildeten Betriebsrat am 19. Oktober 1982 mitgeteilt. Zu diesem Zeitpunkt waren im Betrieb des Unternehmers 14 Arbeitnehmer beschäftigt. Auf der Lohnliste war eine weitere Mitarbeiterin aufgeführt, die jedoch niemals im Betrieb des Unternehmers tätig war.
Vor dem 19. Oktober 1982 waren weitere Arbeitnehmer im Betrieb des Unternehmers beschäftigt. Ein Arbeitnehmer war am 30. September 1981 auf eigenen Wunsch ausgeschieden. Zwei weitere Arbeitnehmer, die bis zum 1. Januar bzw. 1. Februar 1982 als Arbeitnehmer beschäftigt waren, wurden aufgrund einer Vertragsänderung als selbständige Handelsvertreter für den Unternehmer tätig.
Wirtschaftliche Schwierigkeiten des Unternehmers waren auch der Grund für Entlassungen von zwei Arbeitnehmern zum 31. März 1982, einem Arbeitnehmer zum 31. Mai 1982 und drei Arbeitnehmern zum 30. Juni 1982. Bei der Kündigung von fünf dieser Arbeitnehmer wurde der Betriebsrat beteiligt; ein Arbeitnehmer schied aufgrund eines Vergleichs aus. Im Protokoll einer Betriebsratssitzung vom 23. April 1982 heißt es dazu:
"Die Vertreter, welche entlassen werden sol-
len, sind die Herren Br , W und
D im Außerdienst. Im Innendienst soll
Herr B entlassen werden.
Die Außendienstmitarbeiter arbeiten nicht
rentabel.
Die frei werdenden Gebiete werden an die ver-
bleibenden Kollegen aufgeteilt.
Sollte die wirtschaftliche Situation besser
werden, wird wieder ein neuer Monteur ein-
gestellt.
In der Zwischenzeit versucht Herr S
die Arbeit zu bewältigen.
Die Zustimmung zu den Kündigungen erfolgte
unter dem Zwang der sonst bevorstehenden
Firmenschließung."
Der Betriebsrat hat die Auffassung vertreten, die Voraussetzungen für ein Mitbestimmungsrecht nach § 111 Satz 1 BetrVG hätten vorgelegen; im Betrieb seien in der Regel mehr als 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigt gewesen. Die Beschäftigtenzahl am 19. Oktober 1982 sei für den Betrieb nicht kennzeichnend. Noch bei der Betriebsratswahl im Mai 1981 seien 24 Arbeitnehmer im Betrieb tätig gewesen. Alle übrigen zuvor ausgeschiedenen Arbeitnehmer und die auf der Lohnliste aufgeführte Arbeitnehmerin müßten bei der Ermittlung der maßgebenden Zahl berücksichtigt werden. Er hat beantragt
festzustellen, daß im Hinblick auf die Be-
triebsschließung die Einigungsstelle gemäß
§ 111 BetrVG zuständig sei.
Der Unternehmer hat beantragt, diesen Antrag abzuweisen. Er hat die Auffassung vertreten, im Zeitpunkt der Entstehung möglicher Beteiligungsrechte habe die Zahl der zu berücksichtigenden Arbeitnehmer weit unter 20 gelegen.
Das Arbeitsgericht hat den Antrag des Betriebsrats abgewiesen. Seine Beschwerde ist ohne Erfolg geblieben. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt der Betriebsrat seinen Antrag weiter.
B. Die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats ist nicht begründet. Das Landesarbeitsgericht hat den Antrag des Betriebsrats zu Recht abgewiesen. Dem Betriebsrat standen Beteiligungsrechte aus Anlaß der Betriebsänderung nicht zu. Im Betrieb des Unternehmers war im maßgebenden Zeitpunkt nicht die erforderliche Zahl von 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern beschäftigt (§ 111 Satz 1 BetrVG).
I. Der Antrag des Betriebsrats ist zulässig.
1. Zwar bezieht sich der Antrag seinem Wortlaut nach auf die Zuständigkeit einer Einigungsstelle. In der Sache geht es jedoch darum, ob der Betriebsrat aus Anlaß der Betriebsstillegung vom Unternehmer die Aufstellung eines Sozialplans verlangen kann. Mit dem Antrag sollen daher Rechte des Betriebsrats gegenüber dem Unternehmer festgestellt werden.
Das Recht des Betriebsrats, vom Unternehmer die Aufstellung eines Sozialplans verlangen zu können, ist eine der Rechtsfolgen, die eine Betriebsänderung auslösen kann. Die übrigen Rechte, der Anspruch auf Information und Beratung (§ 111 Satz 1 BetrVG) und auf Verhandlungen über einen Interessenausgleich (§ 112 Abs. 1 Satz 1, § 112 Abs. 2 und 3 BetrVG) sind nicht Gegenstand dieses Verfahrens. Der Unternehmer hat die Maßnahme bereits durchgeführt. Der Betriebsrat kann diese Rechte nicht mehr durchsetzen. Er hat sich deshalb darauf beschränkt, sein Recht auf Aufstellung eines Sozialplans feststellen zu lassen. Dabei ist die Einschaltung einer Einigungsstelle nur dann erforderlich, wenn sich die Parteien nicht auf einen Sozialplan einigen können. Insoweit ist der Antrag des Betriebsrats ungenau; er muß in dem eingangs wiedergegebenen Sinne ausgelegt werden.
2. Der Antrag des Betriebsrats ist bestimmt genug. Die Angelegenheit, für die ein Mitbestimmungsrecht in Anspruch genommen wird, wird so genau bezeichnet, daß Zweifel nicht möglich sind.
3. Für die begehrte Entscheidung besteht ein Rechtsschutzinteresse. Die Frage, ob der Betriebsrat aus Anlaß der Betriebsstillegung die Aufstellung eines Sozialplans verlangen kann, kann den Unternehmer veranlassen, mit dem Betriebsrat über die Aufstellung eines solchen Sozialplans zu verhandeln. Eine positive Entscheidung bietet auch die Grundlage für die Tätigkeit einer Einigungsstelle, wenn die Parteien zu keiner Einigung gelangen.
II. Der Antrag des Betriebsrats ist nicht begründet. Die Voraussetzungen, unter denen ein Betriebsrat die Aufstellung eines Sozialplans verlangen kann, sind nicht erfüllt. In dem maßgebenden Zeitpunkt, in dem der Unternehmer die Betriebsänderung - Betriebsstillegung - plante, waren in seinem Betrieb nicht mehr als 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer beschäftigt.
1. Maßgebender Zeitpunkt, zu dem die formellen Voraussetzungen des § 111 Satz 1 BetrVG vorliegen müssen, ist der Zeitpunkt, in dem die Beteiligungsrechte des Betriebsrats entstehen. Nicht maßgebend ist - entgegen der Ansicht des Betriebsrats - der Zeitpunkt der letzten Betriebsratswahl. Deshalb verliert auch ein mehrgliedriger Betriebsrat, der zunächst für Betriebe mit in der Regel mindestens 21 wahlberechtigten Arbeitnehmern zu wählen ist, die Beteiligungsrechte bei Betriebsänderungen, wenn die Arbeitnehmerzahl während der Amtszeit des Betriebsrats nicht nur vorübergehend auf weniger als 21 absinkt. Diese Rechtsfrage hat der Senat bereits entschieden (vgl. BAG 42, 1, 8 = AP Nr. 7 zu § 113 BetrVG 1972, zu II 1 der Gründe; zustimmend Dietz/Richardi, BetrVG, 6. Aufl., § 111 Rz 10; Fitting/Auffarth/Kaiser, Betriebsänderung, Sozialplan und Konkurs, § 111 BetrVG Rz 4; Galperin/Löwisch, BetrVG, 6. Aufl., § 111 Rz 3). Die abweichende Auffassung des Betriebsrats ist mit dem Wortlaut des § 111 Satz 1 BetrVG nicht zu vereinbaren. Hätte der Gesetzgeber jedem mehrgliedrigen Betriebsrat die Beteiligungsrechte bei Betriebsänderungen einräumen wollen, hätte er auf die Größe des Betriebsrats und nicht auf die Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer abgestellt. So sind die Voraussetzungen des Mitbestimmungsrechts für den Zeitpunkt zu ermitteln, in dem sie entstehen. Deshalb kann auch einem Betriebsobmann (§ 9 BetrVG) das Mitbestimmungsrecht nach §§ 111 ff. BetrVG zustehen, wenn nach der letzten Betriebsratswahl die Zahl der regelmäßig beschäftigten wahlberechtigten Arbeitnehmer auf mehr als 20 angestiegen ist, ohne daß die Voraussetzungen für eine Neuwahl nach § 13 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG gegeben sind (Fitting/Auffarth/Kaiser, aaO, § 111 Rz 4).
Entstanden sind die Beteiligungsrechte des Betriebsrats in dem Augenblick, in dem der Unternehmer verpflichtet war, den Betriebsrat über die geplante Betriebsänderung zu unterrichten (§ 111 Satz 1 BetrVG). Dies war der 19. Oktober 1982. Tatsächlich hat der Unternehmer den Betriebsrat an diesem Tage von der geplanten Betriebsänderung unterrichtet. Dafür, daß der Unternehmer den Entschluß, seinen Betrieb stillzulegen, schon wesentlich früher gefaßt hätte, sind Anhaltspunkte nicht ersichtlich.
2. Für diesen Zeitpunkt ist die Zahl der wahlberechtigten Arbeitnehmer zu ermitteln, die "in der Regel" beschäftigt werden. Der Zeitpunkt ist demnach nicht im Sinne eines Stichtags zu verstehen. Es kommt nicht auf die Zahl der "zufällig" zu diesem Zeitpunkt beschäftigten Arbeitnehmer an. Maßgebend ist vielmehr die Zahl der Arbeitnehmer, die für den Betrieb im allgemeinen kennzeichnend ist. Dabei hat eine vorübergehende Erhöhung der Personalstärke infolge außergewöhnlichen Arbeitsanfalls ebenso außer Betracht zu bleiben wie eine vorübergehende Verringerung der Belegschaft wegen eines zeitweiligen Arbeitsrückgangs (vgl. BAG 42, 1, 8 = AP Nr. 7 zu § 113 BetrVG 1972, zu II 1 der Gründe).
Diese den Betrieb kennzeichnende Zahl der beschäftigten Arbeitnehmer kann nach der Rechtsprechung des Senats durch einen Rückblick auf die bisherige personelle Entwicklung des Betriebs in der Vergangenheit und durch eine Einschätzung der zukünftigen Entwicklung ermittelt werden. Bei einer Betriebsstillegung kommt allerdings nur ein Rückblick auf die bisherige Entwicklung in Frage (vgl. BAG 28, 203, 211 = AP Nr. 1 zu § 8 BetrVG 1972, zu III 3 c der Gründe; BAG 42, 1, 8 = AP Nr. 7 zu § 113 BetrVG 1972, zu II 1 der Gründe).
3. Von diesen Grundsätzen ist auch das Landesarbeitsgericht ausgegangen. Es hat zutreffend auf den Zeitpunkt der Entstehung der Beteiligungsrechte nach §§ 111, 112 BetrVG abgestellt. Unstreitig waren zu diesem Zeitpunkt - Oktober 1982 - nur 14 Arbeitnehmer im Betrieb beschäftigt.
Das Landesarbeitsgericht hat weiter - rückblickend - die den Betrieb kennzeichnende Zahl der beschäftigten wahlberechtigten Arbeitnehmer ermittelt. Danach waren - auf der Grundlage des unstreitigen Sachverhalts - im Jahre 1982 zu keinem Zeitpunkt mehr als 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer im Betrieb beschäftigt. Daraus folgt: Eine Zahl von mehr als 20 wahlberechtigten Arbeitnehmern war für den Betrieb im Zeitpunkt der Entstehung der Beteiligungsrechte nicht mehr kennzeichnend. Im einzelnen gilt:
a) Der Beurteilung des Senats unterliegt das Parteivorbringen, das aus dem Tatbestand des angefochtenen Beschlusses ersichtlich ist. Tatsachen, die als unstreitig wiedergegeben werden, müssen auch vom Senat als unstreitig behandelt werden (§ 92 Abs. 2 ArbGG in Verb. mit § 561 Abs. 1 ZPO).
b) Unter den für den Betriebsrat günstigsten Voraussetzungen können nur noch die sechs Arbeitnehmer hinzugerechnet werden, die zum 31. März, 31. Mai und 30. Juni 1982 ausgeschieden waren. Das wären dann - zusammen mit den im Oktober 1982 beschäftigten Arbeitnehmern - insgesamt 20 Arbeitnehmer. Beteiligungsrechte des Betriebsrats könnten deshalb nur entstanden sein, wenn weitere Arbeitnehmer berücksichtigt werden müßten.
Das ist nicht der Fall. Der Arbeitnehmer, der schon zum 30. September 1981 ausgeschieden war, kann die für den Oktober 1982 kennzeichnende Zahl der wahlberechtigten Arbeitnehmer nicht mehr beeinflussen. Das gleiche gilt für die Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnisse Anfang 1982 in die Rechtsverhältnisse eines selbständigen Handelsvertreters umgewandelt worden waren. Dies war eine auf Dauer angelegte Maßnahme, die sich auf die für den Betrieb kennzeichnende Zahl der Arbeitnehmer auswirkte. Das sieht auch der Betriebsrat ein. Die Rechtsbeschwerde will diese früheren Arbeitnehmer nicht mehr berücksichtigt wissen.
Auch die Arbeitnehmerin, die zwar auf der Lohnliste aufgeführt war, aber zu keinem Zeitpunkt ("niemals") im Betrieb des Unternehmers tätig war, darf nicht berücksichtigt werden. Daß diese Arbeitnehmerin niemals im Betrieb tätig war, ist nach dem Tatbestand des angefochtenen Beschlusses unstreitig. Entgegenstehende Behauptungen des Betriebsrats in der Rechtsbeschwerde sind unbeachtlich.
Unbeachtlich sind auch die Rügen des Betriebsrats, wonach weitere Arbeitnehmer eingestellt worden seien. Unstreitig haben diese Arbeitnehmer andere ursprünglich im Betrieb beschäftigte Arbeitnehmer ersetzt. Die Zahl der Arbeitsplätze ist damit gleichgeblieben.
Dr. Kissel Dr. Heither Matthes
Moser Blanke
Fundstellen