Entscheidungsstichwort (Thema)

Unstatthafte Revision gegen rechtskräftiges Bezirksgerichtsurteil

 

Leitsatz (amtlich)

Urteile der Bezirksgerichte der früheren Deutschen Demokratischen Republik, die vor Ablauf des 30. Juni 1990 verkündet worden sind, können nicht mit der Revision nach § 72 ArbGG angefochten werden, weil sie bereits mit der Verkündung rechtskräftig geworden sind.

 

Normenkette

Einigungsvertragsgesetz vom 23. September 1990 (BGBl II S. 885) Art. 1; EinigVtr vom 31. August 1990 (BGBl II S. 889, 937) Anl. I Kap. III Sachgebiet A Abschn. III Nrn. 28g, 28i, 28j; GVG-DDR i.d.F. vom 18. Dezember 1987 (GBl-DDR S. 302) § 30 Abs. 4; ZPO-DDR i.d.F. vom 25. März 1982 (GBl-DDR S. 269) § 83 Abs. 1 S. 1, § 147 ff., § 160 ff.; ArbGG § 72

 

Verfahrensgang

BezirksG Magdeburg (Urteil vom 16.05.1990; Aktenzeichen BAB 41/90)

KreisG Schönebeck (Urteil vom 19.03.1990; Aktenzeichen A 5/90)

 

Tenor

  • Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bezirksgerichts Magdeburg vom 16. Mai 1990 – BAB 41/90 – wird auf ihre Kosten als unzulässig verworfen.
  • Ihr Antrag auf Gewährung von Prozeßkostenhilfe wird abgewiesen.
 

Tatbestand

I. Die Klägerin war bei der Beklagten als Außendienstmitarbeiterin bei einer 22-Stunden-Woche beschäftigt. Aufgrund eines ärztlichen Gutachtens vom 1. Oktober 1987 wurde sie ab 1. März 1988 “invalidisiert”, wovon die Beklagte erst im nachhinein erfuhr. Da das ärztliche Gutachten die Feststellung traf, daß eine Änderung der Tätigkeit für die Klägerin erforderlich wäre, bot die Beklagte der Klägerin zunächst unter dem 26. Januar und 28. Juni 1989 einen geänderten Arbeitsvertrag an, später nochmals mit Schreiben vom 22. September 1989. Da die Klägerin die entsprechenden Angebote nicht annahm, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 2. Oktober 1989 zum 31. Oktober 1989 wegen Nichteignung fristgemäß. Der dagegen form- und fristgemäß eingelegte Einspruch wurde von der Konfliktkommission abschlägig beschieden.

Das Kreisgericht Schönebeck hat die dagegen gerichtete Klage mit Urteil vom 19. März 1990, das Bezirksgericht Magdeburg die Berufung mit Urteil vom 16. Mai 1990, welches am selben Tag verkündet wurde, abgewiesen. Mit der beim Bezirksgericht Magdeburg am 10. August 1990 eingegangenen Revision erstrebt die Klägerin die Aufhebung des Beschlusses der Konfliktkommission sowie der Urteile des Kreis- bzw. Bezirksgerichts.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist nicht statthaft.

1. Nach der Anlage I des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 28g (BGBl II 885, 937) werden die am Tag des Wirksamwerdens des Beitritts anhängigen Verfahren in der Lage, in der sie sich befinden, nach den inkraftgesetzten Vorschriften fortgesetzt; nach Nr. 28i (aaO) richtet sich die Zulässigkeit des Rechtsmittels oder Rechtsbehelfs und das weitere Verfahren hierzu nach den inkraftgesetzten Vorschriften, wenn am Tag des Wirksamwerdens des Beitritts ein Rechtsmittel oder Rechtsbehelf bereits eingelegt ist. Über die Zulässigkeit des Rechtsmittels ist unter Berücksichtigung der Lage des Verfahrens nach dem alten Recht der früheren Deutschen Demokratischen Republik nach neuem Recht zu entscheiden (so auch BGH Beschluß vom 18. Dezember 1990 – VI ZR 919/90 – ZIP 1991, 124).

Die Klägerin hat am 10. August 1990 durch ihren Rechtsanwalt beim Bezirksgericht Magdeburg den “Antrag auf Revision” gestellt und begründet. Danach ist das Bundesarbeitsgericht zur Entscheidung zuständig und zwar auch bezüglich der Zulässigkeit der Revision.

2. Die Revision ist unstatthaft, denn das Urteil des Bezirksgerichts Magdeburg ist mit der Verkündung am 16. Mai 1990 rechtskräftig geworden.

a) Bis zum 30. Juni 1990 war das Bezirksgericht als Gericht zweiter Instanz für die Verhandlung und Entscheidung über die Rechtsmittel u.a. der Berufung gegen Urteile der Kreisgerichte auch auf dem Gebiete des Arbeitsrechts gemäß § 30 Abs. 4 GVG-DDR a.F. zuständig. Urteile des Bezirksgerichts als zweiter Instanz wurden bis zum 30. Juni 1990 mit ihrer Verkündung rechtskräftig.

Dies folgt aus § 83 Abs. 1 Satz 1 ZPO-DDR a.F. nach dem der Urteilsspruch mit Ablauf der für die Einlegung des Rechtsmittels bestimmten Frist rechtskräftig geworden ist, soweit kein Rechtsmittel eingelegt wurde in Verb. mit §§ 147 ff. ZPO-DDR a.F., in denen kein Rechtsmittel gegen Urteile der zweiten Instanz vorgesehen war. Die Rechtslage entsprach der noch heute gültigen Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland für die Entscheidung des Landgerichts in Zivilsachen als zweiter Instanz (vgl. dazu Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 48. Aufl., § 705 Anm. 1 C a; Zöller/Stöber, ZPO, 16. Aufl. § 705 Rz 6).

b) Die in §§ 160 bis 162 ZPO-DDR a.F. geregelte Kassation war kein Rechtsmittel. Nach § 160 ZPO-DDR a.F. waren vielmehr der Generalstaatsanwalt und der Präsident des Obersten Gerichts befugt, beim Obersten Gericht die Kassation einer “rechtskräftigen Entscheidung oder ihrer Begründung” zu beantragen, ebenso der Staatsanwalt des Bezirks oder der Direktor des Bezirksgerichts beim Bezirksgericht die Kassation einer Entscheidung des Kreisgerichts. Den “Prozeßparteien des früheren Verfahrens” war zwar Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben; sie konnten aber keine Anträge stellen (§ 161 Abs. 1 ZPO-DDR a.F.). Allerdings regten Prozeßparteien, die beim Bezirksgericht unterlegen waren, häufig beim Präsidenten des Obersten Gerichts Kassationen an. Diese Anregungen, die in der ZPO-DDR nirgends erwähnt wurden, waren aber keine Rechtsmittel.

c) Damit entspricht die Rechtslage derjenigen in der Bundesrepublik Deutschland vor dem Inkrafttreten des Arbeitsgerichtsgesetzes 1953. Gegen ein vor dem 1. Oktober 1953 verkündetes Urteil eines Landesarbeitsgerichts fand die Revision – von den Besonderheiten für das Land Rheinland-Pfalz und das frühere Land … Württemberg-Hohenzollern abgesehen – nicht statt, weil das ArbGG vom 3. September 1953 (BGBl. I, S. 1267) nach seinem § 123 erst am 1. Oktober 1953 in vollem Umfang in Kraft trat. Auch § 72 Abs. 1 ArbGG 1953, der bestimmte, unter welchen Voraussetzungen die Revision stattfand, galt erst seit dem 1. Oktober 1953. Die in § 72 Abs. 1 ArbGG 1953 bestimmte Statthaftigkeit der Revision konnte daher nur diejenige Urteile erfassen, die seit dem 1. Oktober 1953 aufgrund einer mündlichen Verhandlung verkündet oder bei einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 128 Abs. 2 ZPO) durch Zustellung der Urteilsformel den Parteien mitgeteilt wurden. Für U rteile, die früher verkündet oder bei Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Zustellung der Urteilsformel früher den Parteien mitgeteilt wurden, war das zur Zeit der Verkündung oder Mitteilung in den einzelnen Ländern geltende Recht maßgebend. Sie blieben unanfechtbar, wenn sie zu diesem Zeitpunkt unanfechtbar waren, und erlangten nicht etwa nachträglich mit dem Inkrafttreten des ArbGG 1953 die Anfechtbarkeit (vgl. dazu nur BAGE 1, 2 = AP Nr. 1 zu § 72 ArbGG 1953; für Berlin BAGE 1, 1 = AP Nr. 1 zu § 122 ArbGG 1953).

III. Die Revision war daher mit der Kostenfolge aus § 97 ZPO als unzulässig zu verwerfen.

Eine Anwendung der Kostenbestimmung nach der Anlage I des Einigungsvertrages Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 28j (aaO) kam nicht in Betracht, da die Revision schon nach dem Recht der DDR gegen vor dem 1. Juli 1990 verkündete Entscheidungen des Bezirksgerichts nicht zulässig war.

IV. Die beantragte Prozeßkostenhilfe konnte der Klägerin wegen fehlender Erfolgsaussicht (§ 114 ZPO) nicht gewährt werden.

 

Unterschriften

Hillebrecht, Triebfürst, Dr. Ascheid

 

Fundstellen

BAGE, 25

BB 1991, 1417

JR 1991, 440

RdA 1991, 319

ZIP 1991, 1103

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