Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtliches Gehör bei nachgereichtem Schriftsatz. Nichtzulassungsbeschwerde. Rechtliches Gehör. Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung bei nachgereichtem Schriftsatz
Leitsatz (amtlich)
Im arbeitsgerichtlichen Verfahren haben im Fall eines nachgereichten Schriftsatzes die ehrenamtlichen Richter an der Entscheidung über eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung mitzuwirken.
Orientierungssatz
1. Gem. § 296a ZPO hat das Gericht das Vorbringen in einem nach Schluss der mündlichen Verhandlung nachgereichten Schriftsatz darauf zu prüfen, ob Gründe für eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nach § 156 ZPO gegeben sind. Auch wenn der nachgereichte Schriftsatz nicht mehr bei der Entscheidung über das Urteil Beachtung finden kann, weil das Urteil nach Beratung und Abstimmung bereits gefällt (§ 309 ZPO), aber noch nicht verkündet ist, hat das Gericht weiterhin bis zur Urteilsverkündung eingehende Schriftsätze zur Kenntnis zu nehmen und eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung zu prüfen.
2. An der Entscheidung über die Frage einer Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung wirken die Richter mit, die an der vorangegangenen letzten mündlichen Verhandlung beteiligt waren. Das gilt auch dann, wenn an der mündlichen Verhandlung ehrenamtliche Richter mitgewirkt haben.
3. Nimmt allein der Berufsrichter von nachgereichten Schriftsätzen Kenntnis, wird der Prozesspartei, die diesen Schriftsatz verfasst hat, nicht nur der gesetzliche Richter entzogen, sondern auch rechtliches Gehör versagt.
4. Dass sich die Berufungskammer nach Eingang eines nachgereichten Schriftsatzes unter Einbeziehung der ehrenamtlichen Richter mit der Frage der Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nach § 156 ZPO befasst hat, kann sich aus der Akte oder dem Berufungsurteil ergeben.
Normenkette
ArbGG §§ 72a, 69; GG Art. 103 Abs. 1; ZPO §§ 296a, 156
Verfahrensgang
Tenor
1. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts München vom 29. Mai 2008 – 2 Sa 1120/07 – wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
2. Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 25.564,60 Euro festgesetzt.
Tatbestand
I. Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung, vorläufige Weiterbeschäftigung und einen hilfsweise geltend gemachten Zeugnisanspruch. Zwischen den Parteien steht darüber hinaus in Streit, ob der anhängige Rechtsstreit durch einen im ersten Rechtszug wirksam zustande gekommenen außergerichtlichen Vergleich beendet worden ist. Das Arbeitsgericht hat dies verneint, der Kündigungsschutzklage stattgegeben und den Beklagten zur vorläufigen Weiterbeschäftigung verurteilt. Im Berufungsverfahren wurde am Ende der mündlichen Verhandlung des Landesarbeitsgerichts vom 30. April 2008 Termin zur Verkündung einer Entscheidung auf den 29. Mai 2008 bestimmt. Am 13. Mai 2008 ging beim Landesarbeitsgericht ein Schriftsatz des Klägers vom 8. Mai 2008 ein. Das Landesarbeitsgericht hat mit einem am 29. Mai 2008 verkündeten Urteil das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und festgestellt, dass der zwischen den Parteien in Streit stehende Vergleich zustande gekommen ist. Die Revision hat das Landesarbeitsgericht nicht zugelassen. In seinem Urteil hat das Landesarbeitsgericht den Schriftsatz des Klägers vom 8. Mai 2008 nicht berücksichtigt. Mit seiner Beschwerde begehrt der Kläger die nachträgliche Zulassung der Revision durch das Bundesarbeitsgericht.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist begründet. Der Kläger rügt mit Erfolg eine entscheidungserhebliche Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 72a Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 ArbGG), denn das Landesarbeitsgericht hat nicht unter Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter geprüft, ob der Schriftsatz des Klägers vom 8. Mai 2008 Veranlassung zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung gab.
1. Nach § 296a Satz 1 ZPO können nach Schluss der mündlichen Verhandlung, auf die das Urteil ergeht, Angriffs- und Verteidigungsmittel nicht mehr vorgebracht werden. Nach Satz 2 dieser Bestimmung bleiben allerdings § 139 Abs. 5 und §§ 156, 283 ZPO unberührt. Aus § 296a Satz 1 ZPO folgt nicht, dass das Gericht einen nach Schluss der mündlichen Verhandlung eingereichten Schriftsatz von vornherein unberücksichtigt lassen darf. Das Gericht muss das Vorbringen vielmehr in jedem Fall beachten, insbesondere wenn damit nur Rechtsausführungen nachgeschoben werden (Musielak/Huber ZPO 6. Aufl. § 296a Rn. 4). Es hat darüber hinaus zu prüfen, ob Gründe für eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nach § 156 Abs. 2 ZPO gegeben sind oder ob nach dem Ermessen des Gerichts (§ 156 Abs. 1 ZPO) die mündliche Verhandlung wieder zu eröffnen ist (Stein/Jonas/Leipold ZPO 22. Aufl. § 296a Rn. 22; Zöller/Greger ZPO 27. Aufl. § 296a Rn. 3; Reichold in Thomas/Putzo ZPO 29. Aufl. § 296a Rn. 1). Auch wenn der nachgereichte Schriftsatz nicht mehr bei der Entscheidung über das Urteil Beachtung finden kann, weil das Urteil nach Beratung und Abstimmung bereits gefällt (§ 309 ZPO), aber noch nicht verkündet ist, hat das Gericht weiterhin bis zur Urteilsverkündung eingehende Schriftsätze zur Kenntnis zu nehmen und eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung zu prüfen (BGH 1. Februar 2002 – V ZR 357/00 – NJW 2002, 1426).
2. Über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung hat das Gericht und nicht der Vorsitzende allein zu entscheiden.
a) Ist über das Urteil zu dem Zeitpunkt, in dem sich das Gericht mit dem
Vorbringen aus dem nachgereichten Schriftsatz befasst oder bei ordnungsgemäßem Verfahrensgang zu befassen hätte, noch nicht abschließend beraten und abgestimmt, das Urteil also noch nicht iSd. § 309 ZPO gefällt, dürfen nach dieser Bestimmung an der Entscheidung über die Frage einer Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nur die Richter mitwirken, die an der vorangegangenen letzten mündlichen Verhandlung beteiligt waren. Entsprechendes gilt grundsätzlich, wenn das Urteil bereits gefällt, aber noch nicht verkündet ist. Ist allerdings einer dieser Richter verhindert, ergeht die Entscheidung – ohne Hinzuziehung eines anderen Richters – in der verbleibenden Besetzung der Richterbank. Nur die an der Verhandlung und der nachfolgenden Beratung beteiligten Richter wissen, was von den Parteien vorgetragen und vom Gericht erörtert wurde. Nur sie sind daher zu der nach § 156 ZPO erforderlichen sachgerechten Ermessensausübung – auch im Hinblick auf eine zwingende Wiedereröffnung wegen eines Verfahrensfehlers – in der Lage (BGH 1. Februar 2002 – V ZR 357/00 – NJW 2002, 1426).
b) Der Grundsatz, dass an der Entscheidung über die Frage einer Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung die Richter mitwirken, die an der vorangegangenen letzten mündlichen Verhandlung beteiligt waren, gilt auch dann, wenn an der mündlichen Verhandlung ehrenamtliche Richter mitgewirkt haben (BGH 23. November 2007 – LwZR 5/07 – NJW 2008, 580; grundsätzlich ebenso für das verwaltungsgerichtliche Verfahren: BVerwG 15. Juli 2008 – 8 B 24/08 –; für das arbeitsgerichtliche Verfahren: Germelmann in Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge ArbGG 6. Aufl. § 46 Rn. 40 und § 53 Rn. 24; ErfK/Koch 9. Aufl. § 46 ArbGG Rn. 5; GK-ArbGG/Schütz Stand September 2007 § 53 Rn. 9 f.; HWK/Ziemann 3. Aufl. § 53 ArbGG Rn. 9). Die Kenntnisnahme und Berücksichtigung entscheidungserheblichen Vorbringens wird von allen Richtern gefordert, die an der Entscheidung mitwirken. Da das Berufungsurteil von dem Vorsitzenden der Berufungskammer und den ehrenamtlichen Richtern zu fällen und auch zu unterschreiben ist (§ 69 Abs. 1 ArbGG), die an der dem Urteil zugrunde liegenden mündlichen Verhandlung teilgenommen haben, obliegt es ebenfalls allen Richtern der Berufungskammer, über die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung zu entscheiden.
c) Nimmt allein der Berufsrichter von nachgereichten Schriftsätzen Kenntnis, wird der Prozesspartei, die diesen Schriftsatz verfasst hat, nicht nur der gesetzliche Richter entzogen (BGH 23. November 2007 – LwZR 5/07 – NJW 2008, 580), sondern auch rechtliches Gehör versagt (BVerwG 15. Juli 2008 – 8 B 24/08 –). Denn das Gebot zur Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet das Gericht, dh. die an der Entscheidung des Rechtsstreits beteiligten Richter, die Ausführungen der Prozessparteien zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Hierdurch soll sichergestellt werden, dass die erlassene Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (BVerfG 27. Februar 1980 – 1 BvR 277/78 – BVerfGE 53, 219). Dem steht nicht ohne Weiteres entgegen, dass die Pflicht des Gerichts, Anträge und Ausführungen der Verfahrensbeteiligten bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen, nicht besteht, soweit Vorbringen nach den Prozessvorschriften ausnahmsweise unberücksichtigt bleiben muss oder kann. In diesen Fällen liegt ein Verstoß gegen das Gebot zur Gewährung rechtlichen Gehörs vor, wenn das Gericht aus Gründen von der Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung abgesehen hat, die bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich sind (BVerfG 7. Juni 1991 – 2 BvR 747/91 – WuM 1991, 465). Dass sich die Berufungskammer nach Eingang eines nachgereichten Schriftsatzes unter Einbeziehung der ehrenamtlichen Richter mit der Frage der Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nach § 156 ZPO befasst hat, kann sich aus der Akte oder dem Berufungsurteil ergeben.
3. Gemessen an diesen Anforderungen hat das Landesarbeitsgericht das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt.
a) Der Akte ist nicht zu entnehmen, dass der Schriftsatz des Klägers vom 8. Mai 2008 den ehrenamtlichen Richter jemals zur Kenntnis gelangte. Der Vorsitzende der Berufungskammer hat den nach Schluss der mündlichen Verhandlung vom 30. April 2008 am 13. Mai 2008 eingegangenen Schriftsatz des Klägers ausweislich der Akten am 26. Mai 2008 zur Kenntnis genommen. Es ist nicht ersichtlich, dass das Urteil nach Eingang dieses Schriftsatzes beraten wurde. Zum Beratungstermin enthält die Akte keinerlei Angaben. Insbesondere der am 29. Mai 2008 verkündete und von allen Richtern unterzeichnete Tenor enthält keine Datumsangabe. Naheliegend ist daher, dass die Beratung im Anschluss an die mündliche Verhandlung vom 30. April 2008 erfolgte.
b) Das Berufungsurteil verhält sich nicht zu dem Schriftsatz des Klägers vom 8. Mai 2008. Im Urteilstatbestand wird auf den Schriftsatz vom 8. Mai 2008 nicht Bezug genommen. Er wird auch im Übrigen nicht erwähnt. Die Entscheidungsgründe enthalten keinerlei Ausführungen dazu, dass die Berufungskammer eine Entscheidung nach § 156 ZPO überhaupt erwogen hat, obwohl der Schriftsatz des Klägers vom 8. Mai 2008 im Hinblick auf § 154 Abs. 2 BGB wesentliche Ausführungen zur Frage der Wirksamkeit des in Streit stehenden Vergleichsabschlusses enthält. Das Landesarbeitsgericht hat damit den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.
4. Die Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist entscheidungserheblich. Nach den Darlegungen der Beschwerde ist nicht auszuschließen, dass das Landesarbeitsgericht anders entschieden hätte, wenn es die Wirksamkeit des Vergleichsabschlusses unter Berücksichtigung von § 154 Abs. 2 BGB geprüft hätte.
5. Der Senat macht zur Verfahrensbeschleunigung von der Möglichkeit Gebrauch, unter Aufhebung des Urteils des Landesarbeitsgerichts gem. § 72a Abs. 7 ArbGG den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Das Landesarbeitsgericht wird dabei auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
III. Die Wertfestsetzung beruht auf § 63 GKG.
Unterschriften
Fischermeier, Linck, Spelge, Spiekermann, Matiaske
Fundstellen
Haufe-Index 2119565 |
BAGE 2010, 89 |
DB 2009, 576 |