Entscheidungsstichwort (Thema)

Anfrage des Dritten Senats nach § 45 Abs. 3 ArbGG: Bindungswirkung der Entscheidung über die Zulassung der Sprungrevision

 

Leitsatz (amtlich)

 

Orientierungssatz

Der Anfragebeschluß hat sich durch gerichtlichen Vergleich in der Hauptsache erledigt.

 

Normenkette

ArbGG § 76 Abs. 2 S. 1 Nrn. 1-3, Abs. 3, § 72a Abs. 1 Nrn. 1-3, § 45 Abs. 3 S. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Hamburg (Urteil vom 21.02.1995; Aktenzeichen 1 Ca 399/94)

 

Tenor

wird beim Sechsten und Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts angefragt, ob sie an ihrer bisherigen Rechtsprechung festhalten wollen, wonach die Entscheidung des Arbeitsgerichts, die Sprungrevision zuzulassen, insoweit für das Revisionsgericht nicht bindend ist, wie es um die Erfüllung der Voraussetzungen des § 76 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 ArbGG geht.

 

Tatbestand

I. Die Parteien streiten darüber, ob dem klagenden gewerblichen Arbeitnehmer ein Anspruch auf einen Zuschuß zum Kurzarbeitergeld zusteht. Die einschlägigen manteltarifvertraglichen Bestimmungen für die Metallindustrie sehen einen solchen Anspruch ausdrücklich nur für Angestellte vor. Daß dies auch dem Willen der Tarifvertragsparteien entspricht, ist zwischen den Parteien nicht umstritten. Das Arbeitsgericht hat der Klage gleichwohl stattgegeben: Der Tarifvertrag sei wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz nichtig. Die tarifliche Regelung sei zugunsten der Arbeiter “nach oben anzupassen”.

Auf Antrag der Beklagten mit schriftlicher Zustimmung des Klägers hat das Arbeitsgericht die Sprungrevision gegen sein Urteil zugelassen, welche die Beklagte auch eingelegt hat.

 

Entscheidungsgründe

II. Nach der bisherigen ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts müßte die Sprungrevision als unzulässig verworfen werden, weil sie nicht statthaft ist.

1. Im vorliegenden Rechtsstreit geht es nicht um einen der privilegierten Streitgegenstände, bei denen ein Arbeitsgericht nach § 76 Abs. 2 Satz 1 ArbGG die Sprungrevision zulassen kann. Es geht insbesondere nicht um die “Auslegung eines Tarifvertrages”.

§ 76 ArbGG verwendet wörtlich dieselben Formulierungen zur Beschreibung der privilegierten Streitgegenstände wie § 72a Abs. 1 Nrn. 1 bis 3 ArbGG. Es entspricht deshalb allgemeiner Meinung, daß die dort entwickelten Begriffsinhalte auch im Rahmen des § 76 Abs. 2 Satz 1 ArbGG gelten (statt aller: GK-ArbGG-Ascheid, § 76 Rz 8). Hinsichtlich der Bedeutung des Begriffs “Auslegung eines Tarifvertrages” entspricht es aber der bisherigen ständigen Rechtsprechung zu § 72a Abs. 1 Nr. 2 ArbGG, daß hierzu nur die Inhaltsermittlung, nicht die Inhaltskontrolle einer ihrem gewollten Inhalt nach feststehenden Normen anhand höherrangigen Rechts gehört (BAGE 35, 94 = AP Nr. 14 zu § 72a ArbGG 1979 Grundsatz; Beschluß vom 19. Dezember 1991 – 2 AZN 466/91 – AP Nr. 27 zu § 72a ArbGG 1979; Beschluß vom 16. Dezember 1993 – 6 AZN 346/93 – AP Nr. 44 zu § 72a ArbGG 1979 Grundsatz; ebenso: GK-ArbGG-Ascheid, § 72a Rz 17; wohl auch Germelmann/Matthes/Prütting, ArbGG, 2. Aufl., § 72a Rz 8, 12). Da im vorliegenden Fall der von den Tarifvertragsparteien gewollte Ausschluß der Arbeiter aus dem Kreis der Anspruchsberechtigten feststeht, geht es nicht um die Auslegung des Tarifvertrages und damit nicht um einen privilegierten Streitgegenstand.

Man kann über die Richtigkeit dieser Rechtsauffassung streiten. Zwar spricht hierfür die Verwendung des Wortes “Auslegung”. Ein erweitertes, am Sinn und Zweck der Vorschrift orientiertes Verständnis dessen, was hier gemeint ist, ist aber nicht ausgeschlossen. Auslegung eines Tarifvertrages könnte auch die Bestimmung des Inhalts einer Tarifnorm bedeuten, mit dem diese einheitlich von den Normunterworfenen anzuwenden ist. Hierzu gehörte dann auch die Feststellung einer Teilnichtigkeit (oder Gesamtnichtigkeit) einzelner Tarifnormen. Sehr zweifelhaft erscheint es, ob sich aus § 72a Abs. 1 Nr. 1, § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ArbGG ein systematisches Gegenargument gewinnen läßt. Dort wird zwar der Streit von Tarifvertragsparteien u.a. über die Wirksamkeit einzelner Tarifnormen privilegiert. Hieraus kann jedoch nicht zwingend geschlossen werden, daß ein solcher Streit auch nur dann besonders soll behandelt werden können, wenn er von Tarifvertragsparteien ausgetragen wird. Der Bedarf an einheitlicher Rechtsprechung besteht hier wie dort; hier wie dort ist das Revisionsgericht mit seiner besonderen Aufgabenstellung, für Rechtseinheit und Rechtsentwicklung in besonderer Weise Sorge zu tragen, gefragt. Der Senat möchte diese Frage anhand des vorliegenden Falles aber nicht weiter problematisieren, weil eine Änderung dieser Rechtsprechung weitergehende Konsequenzen auch im Bereich des § 72a ArbGG hätte, die erst auszuloten wären.

2. Auf die fehlende Privilegierung des vorliegenden Streitgegenstandes nach § 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ArbGG kommt es in der Revisionsinstanz nur noch an, wenn die Entscheidung des Arbeitsgerichts, die Sprungrevision zuzulassen, überhaupt auf ihre sachliche Rechtfertigung hin überprüft werden kann.

a) Dies entspricht für den hier interessierenden Bereich des § 76 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 ArbGG der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (Urteil vom 16. November 1982 – 3 AZR 177/82 – BAGE 40, 355, 357 = AP Nr. 8 zu § 42 SchwbG, zu I 2 der Gründe; Beschluß vom 12. Februar 1985 – 3 AZR 335/82 – AP Nr. 4 zu § 76 ArbGG 1979, zu 2b der Gründe; Urteil vom 12. Januar 1989 – 8 AZR 251/88 – BAGE 60, 362, 363 = AP Nr. 14 zu § 50 BAT zu A der Gründe; Urteil vom 15. Oktober 1992 – 6 AZR 349/91 – AP Nr. 19 zu § 17 BAT, zu I der Gründe). Die Vorschrift des § 76 Abs. 2 Satz 2 ArbGG, wonach der Beschluß, mit dem die Sprungrevision zugelassen wird, für das Revisiongericht bindend ist, ist nach dieser Rechtsprechung einschränkend auszulegen. Die Bindung erstreckt sich nach dieser Auffassung nur auf die Feststellung des Arbeitsgericht, die Sache habe grundsätzliche Bedeutung. Das Revisionsgericht soll aber unabhängig von § 76 Abs. 2 Satz 2 ArbGG voll überprüfen können, ob das Arbeitsgericht die Sprungrevision auch für einen der in § 76 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 ArbGG abschließend aufgezählten privilegierten Streitgegenstände zugelassen hat. Eine Zulassung der Revision in den Fällen, in denen das Gesetz die Sprungrevision nicht kenne, also in allen Fällen, die nicht unter die aufgezählten Streitgegenstände passen, sei unwirksam. Hieran sei das Bundesarbeitsgericht nicht gebunden. Zur Begründung wird ein Vergleich zu § 72 Abs. 3 i.V.m. § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG herangezogen: Das Landesarbeitsgericht, das bereits bei einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache die Revision zulassen dürfe und an deren Entscheidung das Revisionsgericht gebunden sei, habe weitergehende Befugnisse bei der Zulassung der Revision. Dies wirke sich auch bei dem Umfang der Bindung des Revisionsgerichts an die Zulassungsentscheidung aus. Die übereinstimmende Formulierung von § 76 Abs. 2 Satz 2 und § 72 Abs. 3 ArbGG lasse den Schluß zu, daß das Bundesarbeitsgericht in beiden Fällen nur an die Feststellung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache durch das zulassende Gericht gebunden sei. Die Literatur hat sich dieser Rechtsauffassung im wesentlichen angeschlossen, wobei weitgehend auf eine eigene Begründung verzichtet wird (Germelmann/Matthes/Prütting, ArbGG, 2. Aufl., § 76 Rz 20; Grunsky, ArbGG, 7. Aufl., § 76 Rz 3; GK-ArbGG-Ascheid, § 76 Rz 15; Hauck, ArbGG, § 76 Rz 7; Schaub, Arbeitsrechtliche Formularsammlung und Arbeitsgerichtsverfahren, § 108 II 3d; Ascheid, Urteils- und Beschlußverfahren im Arbeitsrecht, Rz. 1303).

b) Nach Auffassung des erkennenden Senats sollte diese von ihm selbst begründete Rechtsprechung aufgegeben werden. Sie ist weder aus dem Wortlaut des § 76 Abs. 2 ArbGG, noch aus dem systematischen Zusammenhang des Gesetzes ableitbar. Sie dient auch nicht dem Interesse der Parteien.

§ 76 Abs. 2 ArbGG bestimmt in seinem ersten Satz, wann die Sprungrevision zuzulassen ist, nämlich (a) bei grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache und (b), wenn sie einen der privilegierten Tatbestände des § 76 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 ArbGG betrifft. In Satz 2 desselben Absatzes heißt es dann ohne jede Einschränkung, daß das Bundesarbeitsgericht an die Zulassung gebunden sei. Die gesetzliche Vorschrift knüpft weder durch ihre Stellung im Gesetz, noch durch ihre Formulierung in irgendeiner Weise nur an die Feststellung der Zulassungsvoraussetzung (a) an. Schon dies spricht für eine umfassende Bindung des Revisionsgerichts.

Der Vergleich mit § 72 Abs. 3, Abs. 2 Nr. 1 ArbGG hilft nicht weiter. Die These, die geringeren Anforderungen, die an das zulassende Gericht bei der Zulassungsentscheidung gestellt würden, müßten sich bei der Intensität von deren Überprüfung auswirken, ist keine Begründung, sondern eine Wiederholung des bereits gefundenen Ergebnisses. Die stärkere Bindung des Arbeitsgericht hat ihren guten Grund, weil Sprungrechtsbehelfe nur in möglichst geringem Umfang eingesetzt werden sollten. Sie bedeutet aber nicht, daß den Arbeitsgerichten nur nach Überprüfung zugetraut werden kann, unter die Streitgegenstände des § 76 Abs. 2 Satz 1 ArbGG subsumieren zu können. Wäre es dem Gesetzgeber darum gegangen, durch eine weitere Überprüfung seitens des Revisionsgerichts sicherzustellen, daß möglichst wenige Sprungrechtsbehelfe eingelegt werden, hätte es viel näher gelegen, die “grundsätzliche Bedeutung” durch das Revisionsgericht überprüfen zu lassen. Diese Möglichkeit hat der Gesetzgeber aber unbestritten nicht eröffnet.

Ein systematischer Gesichtspunkt kommt hinzu: Hat das Arbeitsgericht eine von der belasteten Partei beantragte Zulassung der Sprungrevision – nach einiger Zeit – durch Beschluß abgelehnt, so ist in aller Regel die Berufungsfrist verstrichen, es stellt sich die Frage, ob nach dem den Antrag zurückweisenden Beschluß des Arbeitsgerichts die – oder eine neue – Berufungsfrist zu laufen beginnt. Diese Frage hat das Gesetz in § 76 Abs. 3 ArbGG ausdrücklich bejaht. Wäre es dem Gesetzgeber darum gegangen, daß die Zulassungsentscheidung des Arbeitsgerichts durch die Revisionsinstanz ganz oder teilweise überprüft werden soll, hätte es auf der Hand gelegen, die Regelung des § 76 Abs. 3 ArbGG auch auf den Fall zu erstrecken, daß das Revisionsgericht nachträglich von einer Unstatthaftigkeit der – vom Arbeitsgericht zugelassenen – Sprungrevision ausgeht. Daß dies nicht geschehen ist, spricht dafür, daß der Gesetzgeber von einer umfassenden Bindung des Revisionsgerichts an die Zulassungsentscheidung des Arbeitsgerichts ausgegangen ist. Sieht man dies anders, muß man nach einer Verwerfung der Sprungrevision über eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder eine analoge Anwendung des § 76 Abs. 3 ArbGG helfen. Dabei ist es sicherlich nicht ganz unproblematisch, davon auszugehen, daß die in erster Instanz unterlegene Partei durch eine Entscheidung des Arbeitsgerichts, nämlich die zulassende Sprungrevision, gehindert war, rechtzeitig Berufung einzulegen, obwohl die belastete Partei nach der Zulassung der Sprungrevision die freie Wahl hat, ob sie Sprungrevision oder Berufung einlegen will.

Auch dann, wenn man in Zukunft von einer umfassenden Bindung des Bundesarbeitsgerichts durch die Zulassungsentscheidung des Arbeitsgerichts ausgeht, ist nicht zu befürchten, daß es zu einer Vielzahl von – im Prinzip unerwünschten – Sprungrevisionen kommen wird. Voraussetzung für die Einlegung einer Sprungrevision ist ja nicht nur, daß das Arbeitsgericht die Voraussetzungen des § 76 Abs. 2 Satz 1 ArbGG als erfüllt ansieht; insoweit kann wohl unterstellt werden, daß dies regelmäßig sorgfältig überprüft wird. Voraussetzung ist darüber hinaus, daß beide Parteien auf eine zweite Tatsacheninstanz verzichten.

c) Der Dritte Senat möchte aus den genannten Gründen die zitierte Rechtsprechung aufgeben, grundsätzlich jede Überprüfung der Zulassungsentscheidung durch das Arbeitsgericht gem. § 76 Abs. 2 Satz 2 ArbGG unterlassen und die ihm vorliegende Sprungrevision als zulässig ansehen.

III. Der Senat sieht sich an einer solchen Entscheidung durch die zitierten Urteile des Sechsten und Achten Senats gehindert. Entscheidungen anderer Senate, in denen ausdrücklich zum Umfang der Bindung des Bundesarbeitsgerichts an die Zulassungsentscheidung des Arbeitsgerichts nach § 76 Abs. 2 Satz 1 ArbGG Stellung genommen worden ist, sind dem Senat nicht bekannt geworden.

Beim Sechsten und Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts wird deshalb angefragt, ob sie an ihrer bisherigen Rechtsprechung festhalten, oder sich der hier vertretenen Auffassung anschließen. Eine Durchschrift dieses Beschlusses wird den übrigen Senaten des Bundesarbeitsgerichts zur Kenntnisnahme zugeleitet.

 

Unterschriften

Dr. Heither, Kremhelmer, Bepler

 

Fundstellen

Haufe-Index 872468

NZA 1997, 231

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