Entscheidungsstichwort (Thema)
Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall: 80 % oder 100 %
Leitsatz (amtlich)
§ 8 Abs. 2.1 des allgemeinverbindlichen Manteltarifvertrages für das Hotel- und Gaststättengewerbe des Landes Schleswig-Holstein vom 15. April 1994 stellt eine konstitutive Regelung zur Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall dar und begründet einen Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts in Höhe von 100 %.
Normenkette
EFZG § 4 Abs. 1 S. 1 in der bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Fassung; MTV für das Hotel- und Gaststättengewerbe des Landes Schleswig-Holstein vom 15. April 1994 § 8 Abs. 2.1; ZPO §§ 543, 551 Nr. 7
Verfahrensgang
Tenor
- Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein vom 7. Mai 1998 – 4 Sa 651/97 – aufgehoben.
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Kiel vom 10. Oktober 1997 – 4 Ca 156 c/97 – abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 54,54 DM brutto nebst 4 % Zinsen auf den sich hieraus ergebenden Nettobetrag seit dem 24. Januar 1997 zu zahlen.
- Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
Der Kläger ist bei der Beklagten als Betriebshandwerker beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet der allgemeinverbindliche Manteltarifvertrag für das Hotel- und Gaststättengewerbe des Landes Schleswig-Holstein vom 15. April 1994 (im folgenden MTV 1994) Anwendung. Dessen § 8 Abs. 2.1 lautet:
“Alle AN haben bei Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit oder Unfall Anspruch auf Bezahlung des vollen Gehaltes bzw. Lohnes entsprechend dem Lohnfortzahlungsgesetz.
Bei Arbeitsunfähigkeit, die auf einen Arbeitsunfall im Sinne der RVO zurückzuführen ist, wird nach Ablauf der Gehalts- bzw. Lohnfortzahlung ein Arbeitgeberzuschuß in Höhe der Differenz zwischen dem Verletztengeld und dem Nettogehalt bzw. -lohn, für die Dauer von 24 Wochen gewährt.”
Der Kläger war im November 1996 an zwei Tagen arbeitsunfähig erkrankt. Die Beklagte leistete Entgeltfortzahlung in Höhe von 80 % des Arbeitsentgelts unter Berufung auf die ab dem 1. Oktober 1996 geltende Fassung des § 4 EFZG.
Der Kläger beansprucht den Differenzbetrag zu 100 % in rechnerisch unstreitiger Höhe. Er hat vorgetragen, in § 8 Abs. 2.1 MTV 1994 sei die Höhe der Entgeltfortzahlung eigenständig geregelt. Der Kläger hat einen entsprechenden Zahlungsantrag gestellt.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, § 8 Abs. 2 Satz 1 MTV 1994 sei eine deklaratorische Regelung, die keine eigene Wirkung entfalte.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger sein Klageziel weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet. Die Vorinstanzen haben die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Kläger kann für die Zeit seiner Arbeitsunfähigkeit Entgeltfortzahlung in voller Höhe verlangen. Dies folgt aus § 8 Abs. 2.1 MTV 1994.
Allerdings rügt die Revision ohne Erfolg Verletzung des § 551 Nr. 7 ZPO. Nach dieser Vorschrift ist eine Gesetzesverletzung stets anzunehmen, “wenn die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist”. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Denn nach § 543 Abs. 1 ZPO kann das Berufungsgericht von der Darstellung der Entscheidungsgründe absehen, soweit es den Gründen der angefochtenen Entscheidung folgt und dies in seinem Urteil feststellt.
Das gilt – wie sich aus der nur für den Tatbestand geltenden Sonderregelung des § 543 Abs. 2 ZPO ergibt – auch dann, wenn gegen das Urteil die Revision stattfindet (BGH Urteil vom 17. Januar 1985 – VII ZR 257/83 – NJW 1985, 1784). Hier hat das Landesarbeitsgericht formuliert, das Arbeitsgericht habe “die Klage mit zutreffender Begründung abgewiesen, auf die zunächst verwiesen” werde (§ 543 Abs. 1 ZPO). Damit hat es festgestellt, daß es den Gründen der angefochtenen Entscheidung folgt.
Das angefochtene Urteil kann auch nicht etwa deshalb als eine Entscheidung ohne Gründe im Sinne des § 551 Nr. 7 ZPO angesehen werden, weil es “ergänzend” auf ein Urteil einer anderen Kammer des Landesarbeitsgerichts hinweist und dieses wörtlich zitiert. Das Gericht kann sein Urteil auf mehrere Begründungen stützen. Eine nicht mit Gründen versehene Entscheidung im Sinne des § 551 Nr. 7 ZPO liegt nur dann vor, wenn das Urteil so mangelhaft ist und mit völlig nichtssagenden Worten oder verworrenen Ausführungen begründet ist, daß von einer nachprüfbaren gedanklichen Deduktion, die die Bezeichnung “Begründung” verdient, nicht mehr gesprochen werden kann (BGH Urteil vom 21. Dezember 1962 – I ZB 27/62 – BGHZ 39, 333, 337). Davon kann hier keine Rede sein.
§ 8 Abs. 2.1 MTV 1994 stellt eine konstitutive Regelung zur Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall dar und begründet einen Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts in Höhe von 100 %.
Vor dem Inkrafttreten des Entgeltfortzahlungsgesetzes am 1. Juni 1994 gab es für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter und Angestellte unterschiedliche Rechtsgrundlagen. In den alten Bundesländern galt für Arbeiter das “Gesetz über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle (Lohnfortzahlungsgesetz)” vom 27. Juli 1969, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Dezember 1988. Angestellte hatten nach § 616 Abs. 2 BGB, § 63 HGB und § 133c GewO Anspruch auf Gehaltsfortzahlung im Krankheitsfall.
Durch das Entgeltfortzahlungsgesetz vom 26. Mai 1994 wurde die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter und Angestellte auf eine einheitliche gesetzliche Grundlage gestellt. Dabei blieb die Höhe des fortzuzahlenden Entgelts zunächst unverändert. Durch das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25. September 1996 (BGBl. I S. 1476) wurde die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall herabgesetzt. Sie betrug nach der bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Fassung des § 4 Abs. 1 Satz 1 EFZG “80 vom Hundert des dem Arbeitnehmer bei der für ihn maßgebenden regelmäßigen Arbeitszeit zustehenden Arbeitsentgelts”. Bestehende tarifliche Regelungen wurden durch die gesetzliche Neuregelung nicht aufgehoben. Der Gesetzgeber des arbeitsrechtlichen Beschäftigungsförderungsgesetzes wollte in bestehende Tarifverträge nicht eingreifen (BT-Drucks. 13/4612, S. 2; Buchner, NZA 1996, 1177, 1179 f.).
Die Auslegung ergibt, daß der Manteltarifvertrag 1994 die Höhe der Entgeltfortzahlung eigenständig regelt.
- In diesem Zusammenhang finden die Grundsätze über die Auslegung des normativen Teils von Tarifverträgen Anwendung. Diese folgen den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien ist über den reinen Wortlaut hinaus zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Lassen sich auch so zuverlässige Auslegungsergebnisse nicht gewinnen, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge auf weitere Anhaltspunkte zurückgreifen.
Der Senat hat einen tariflichen Anspruch auf Fortzahlung von 100 % des Arbeitsentgelts dann bejaht, wenn die Tarifvertragsparteien eine umfassende, rechnerisch lückenlose Regelung über die Bemessung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall getroffen haben, sie also nicht nur Rechnungsmethode und -grundlagen, sondern auch das Ergebnis der Berechnung vorgegeben haben. Solche Formulierungen lauten etwa, daß der Arbeitnehmer im Krankheitsfall Anspruch auf 1/22 des Monatsverdienstes oder 1/65 des durchschnittlichen Vierteljahresverdienstes hat (BAG Urteile vom 26. August 1998 – 5 AZR 769/97 –, zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen und – 5 AZR 740/97 –, zur Veröffentlichung vorgesehen).
Der Wille zur Schaffung einer eigenständigen Regelung zur Höhe der Entgeltfortzahlung kann aber auch in anderen Formulierungen zum Ausdruck kommen. Nach § 8 Abs. 2.1 Unterabs. 1 MTV 1994 haben “alle Arbeitnehmer bei Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit oder Unfall Anspruch auf Bezahlung des vollen Gehaltes bzw. Lohnes entsprechend dem Lohnfortzahlungsgesetz”. Hierdurch wird zwar einerseits auf das Lohnfortzahlungsgesetz verwiesen, andererseits aber auch hervorgehoben, daß das “volle” Gehalt bzw. der “volle” Lohn zu zahlen ist. Damit sind die Tarifvertragsparteien hinsichtlich der Höhe der Entgeltfortzahlung über eine bloße inhaltsgleiche Wiedergabe der zur Zeit des Tarifvertragsabschlusses geltenden Gesetzeslage hinausgegangen. Läßt sich bei der Formulierung, bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit sei das Gehalt bzw. der Lohn “fortzuzahlen” oder “weiterzuzahlen”, immerhin noch die weitere Frage stellen, in welcher Höhe das Entgelt fortzuzahlen ist, so ist dies bei der Formulierung “Anspruch auf Bezahlung des vollen Gehaltes bzw. Lohnes” nicht mehr der Fall. Arbeitnehmer und Arbeitgeber konnten den hier anwendbaren Manteltarifvertrag auch nach der Herabsetzung der Höhe der Entgeltfortzahlung durch das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25. September 1996 nur dahin verstehen, daß Entgeltfortzahlung in voller Höhe, also in Höhe von 100 % zu leisten war.
Der Zusatz “entsprechend dem Lohnfortzahlungsgesetz” ergänzt die eigenständige tarifliche Regelung zur Höhe der Entgeltfortzahlung hinsichtlich der weiteren Anspruchsvoraussetzungen, der Dauer der Entgeltfortzahlung und der Berechnungsmethode. Aus dem tariflichen Gesamtzusammenhang und der Tarifgeschichte läßt sich keine andere Auslegung herleiten.
Unterschriften
Griebeling, Reinecke, Kreft, Ackert, Dittrich
Fundstellen
Haufe-Index 872370 |
BB 1999, 1768 |
DB 1999, 2169 |
NZA 1999, 1288 |
SAE 2000, 82 |
AP, 0 |