Entscheidungsstichwort (Thema)
Fortgeltung tariflicher Kündigungsfristen nach der Neuregelung der gesetzlichen Kündigungsfristen durch das Kündigungsfristengesetz?
Normenkette
BGB § 622; AGB-DDR § 55
Verfahrensgang
LAG Berlin (Urteil vom 06.09.1994; Aktenzeichen 5 Sa 58/94) |
ArbG Berlin (Urteil vom 04.03.1994; Aktenzeichen 9 Ca 31332/93) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 6. September 1994 – 5 Sa 58/94 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Zwischen den Parteien besteht Streit über die einschlägige Kündigungsfrist.
Der zur Zeit der Kündigung 44 Jahre alte Kläger war seit 1969 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängern beschäftigt.
Aufgrund beiderseitiger Verbandszugehörigkeit findet auf das Arbeitsverhältnis der Manteltarifvertrag für die Angestellten der Metall- und Elektroindustrie in Berlin und Brandenburg (Tarifgebiet II) vom 10. März 1991 (im folgenden: MTV) Anwendung.
Der MTV enthält in Ziffer 9 folgende Regelungen:
„Ziffer 9.4
Zur Zeit unbesetzt
Nach Außerkrafttreten der gesetzlichen Regelung im Tarifgebiet II gilt folgende Bestimmung:
9.4.
Bei einer Beschäftigung zur vorübergehenden Aushilfe ist die Vereinbarung einer Verkürzung der Kündigungsfrist unter einem Monat nur für die Dauer der ersten drei Monate des Angestelltenverhältnisses zulässig.
…
Ziffer 9.8
Das Beschäftigungsverhältnis kann beiderseits gelöst werden:
Ziffer 9.8.1
Die Kündigungsfrist beträgt mindestens zwei Wochen (entspricht den für das Tarifgebiet II geltenden gesetzlichen Regelungen).
Ziffer 9.8.2
Hat der Arbeitsvertrag in demselben Betrieb oder Unternehmen fünf Jahre bestanden, erhöht sich für die Kündigung durch den Arbeitgeber die Kündigungsfrist auf einen Monat zum Monatsende, hat er zehn Jahre bestanden, erhöht sich die Kündigungsfrist auf zwei Monate zum Monatsende, hat er zwanzig Jahre bestanden, erhöht sich die Kündigungsfrist auf drei Monate zum Ende des Kalendervierteljahres; bei der Berechnung der Beschäftigungsdauer werden Zeiten, die vor Vollendung des 25. Lebensjahres liegen, nicht berücksichtigt (entspricht den für das Tarifgebiet II geltenden gesetzlichen Regelungen).
Ziffer 9.8.3
Für die Kündigung des Arbeitsvertrages durch den Beschäftigten darf arbeitsvertraglich keine längere Frist vereinbart werden, als für die Kündigung durch den Arbeitgeber (entspricht den für das Tarifgebiet II geltenden gesetzlichen Regelungen).
Ziffer 9.8.4
Wird für Berlin und Brandenburg, Tarifgebiet I (ehemals Berlin-West), eine Neuregelung der Kündigungsfristen vereinbart, so gilt diese Regelung auch im Tarifgebiet II (Berlin-Ost und Brandenburg).”
Mit Schreiben vom 20. Oktober 1993, dem Kläger zugegangen am 29. Oktober 1993, hat die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 31. Dezember 1993 gekündigt.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, es müsse die Kündigungsfrist gemäß § 622 BGB n.F. zur Anwendung kommen.
Er hat beantragt
festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 20. Oktober 1993 nicht am 31. Dezember 1993, sondern zum 30. April 1994 beendet ist.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie hat geltend gemacht, der MTV regele die Kündigungsfristen eigenständig und bleibe insoweit auch nach der Neuregelung der gesetzlichen Kündigungsfristen durch das KündFG maßgeblich.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben.
Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
Mit ihrer vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte weiterhin Klageabweisung.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet, weil das Landesarbeitsgericht die einschlägige Kündigungsfrist zutreffend § 622 BGB n.F. entnommen hat.
I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, Ziffer 9.8. MTV beinhalte keine eigenständigen Tarifregelungen, sondern gebe lediglich deklaratorisch die Gesetzeslage wieder. Ein etwa abweichender Wille der Tarifpartner habe im Wortlaut des Tarifvertrags keinen Niederschlag gefunden. Zudem ergebe die in Ziffer 9.4 MTV vorsorglich getroffene Regelung keinen Sinn, wenn die in Ziffer 9.8 MTV wiedergegebenen gesetzlichen Kündigungsfristen nach ihrem Außerkrafttreten als autonomes Tarifrecht weiter gälten; offenbar seien die Tarifpartner davon ausgegangen, nach einer gesetzlichen Neuregelung würden längere Kündigungsfristen eingreifen, deren Verkürzung bei Aushilfsarbeitsverhältnissen in Betracht gezogen werden müsse. § 622 BGB n.F. rechtfertige somit die von dem Kläger beantragte Feststellung.
II. Diese Ausführungen sind revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
1. Durch das KündFG blieben abweichende eigenständige tarifliche Regelungen der Kündigungsfristen unberührt. Die Tariföffnungsklausel des § 622 Abs. 4 Satz 1 BGB n.F. ist nicht so zu verstehen, daß lediglich in künftigen Tarifverträgen von den gesetzlichen Kündigungsfristen abgewichen werden kann. Ansonsten wäre im KündFG eine Übergangsregelung nicht nur für allein den gesetzlichen Vorschriften unterfallende Arbeitsverhältnisse, sondern auch für bestehende Tarifverträge mit abweichenden eigenständigen Regelungen der Kündigungsfristen zu erwarten gewesen, welche gerade nicht erfolgt ist. Bestätigt wird dies durch die Gesetzesmaterialien (vgl. den Entwurf eines Gesetzes zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten, RdA 1993, 169, 172 und BT-Drucks. 12/4902 S. 7). Die Fortgeltung verfassungskonformer eigenständiger Tarifregelungen wird auch in der bisherigen Senatsrechtsprechung (vgl. Urteil vom 10. März 1994 – 2 AZR 323/84 (C) – AP Nr. 44 zu § 622 BGB, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen) vorausgesetzt und entspricht der – soweit ersichtlich – einhelligen Auffassung in der Literatur (vgl. Worzalla NZA 1994, 145, 147; Hromadka, BB 1993, 2372, 2375; Arbeitsrechtslexikon-Bengelsdorf, Stand: Februar 1994, 252 Kündigungsfristen; Küttner/Eisemann, Personalhandbuch 1995, 251 Kündigungsfristen Rz 22).
2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. BAGE 40, 102 = AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung; Urteil vom 23. September 1992 – 2 AZR 231/92 – n.v.; Urteil vom 16. September 1993 – 2 AZR 697/92 – AP Nr. 42 zu § 622 BGB, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen; Urteil vom 10. Mai 1994 – 3 AZR 721/93 – AP Nr. 3 zu § 1 TVG Tarifverträge: Verkehrsgewerbe, jeweils mit weiteren Nachweisen) ist bei komplexen Tarifverträgen jeweils durch Auslegung zu ermitteln, inwieweit die Tarifvertragsparteien eine selbständige, d.h. in ihrer normativen Wirkung von der außertariflichen Norm unabhängige eigenständige Regelung treffen wollten. Dieser Wille muß im Tarifvertrag einen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden haben. Das ist regelmäßig anzunehmen, wenn die Tarifvertragsparteien eine im Gesetz nicht oder anders enthaltene Regelung treffen oder eine gesetzliche Regelung übernehmen, die sonst nicht für die betroffenen Arbeitsverhältnisse gelten würde. Für einen rein deklaratorischen Charakter der Übernahme spricht hingegen, wenn einschlägige gesetzliche Vorschriften wörtlich oder inhaltlich unverändert übernommen werden. In einem derartigen Fall ist bei Fehlen gegenteiliger Anhaltspunkte davon auszugehen, daß es den Tarifvertragsparteien bei der Übernahme des Gesetzestextes darum gegangen ist, im Tarifvertrag eine unvollständige Darstellung der Rechtslage zu vermeiden. Sie haben dann die unveränderte gesetzliche Regelung im Interesse der Klarheit und Übersichtlichkeit deklaratorisch in den Tarifvertrag aufgenommen, um die Tarifgebundenen möglichst umfassend über die zu beachtenden Rechtsvorschriften zu unterrichten (zustimmend Hromadka, a.a.O.; Hergenröder, Anm. zu AP Nr. 40 zu § 622 BGB; Jansen, Anm. zu AP Nr. 42 zu § 622 BGB; Eisemann, a.a.O.). An dieser Rechtsprechung hält der Senat trotz der im Schrifttum geäußerten Kritik (vgl. Wiedemann, Anm. zu AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung; Bengelsdorf, NZA 1991, 121, 126 f.; Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rz 419; Creutzfeldt, AuA 1995, 87 ff.) aus folgenden Gründen fest:
a) Die Rechtsprechung steht nicht im Widerspruch zu der früheren Rechtsprechung des Ersten Senats des Bundesarbeitsgerichts (Urteil vom 5. März 1957 – 1 AZR 420/56 – AP Nr. 1 zu § 1 TVG Rückwirkung und Urteil vom 23. April 1957 – 1 AZR 477/56 – AP Nr. 1 zu § 1 TVG). Die Entscheidungen des Ersten Senats befassen sich überhaupt nicht mit der Frage, nach welchen Kriterien eigenständige Tarifvertragsregelungen von neutralen, bloß deklaratorischen Klauseln zu unterscheiden sind. Im Urteil vom 23. April 1957 wird zwar einzelfallbezogen angenommen, die Urlaubsregelung für die gewerblichen Arbeitnehmer der Metallindustrie und des Metallhandwerks in Hamburg vom 27. März 1951 sei eine eigenständige tarifliche Regelung, abstrakte Grundsätze zu den Unterscheidungskriterien werden aber nicht aufgestellt. Zudem betraf dieses Urteil eine besondere Fallgestaltung: Es ging darin um ein spezielles tarifliches Urlaubsabkommen mit spezifischen Kündigungsvorschriften, nicht um die Übernahme gesetzlicher Vorschriften in ein größeres Tarifwerk. Bei einem solch speziellen Tarifvertrag dürfte sich in der Tat ein Normsetzungswille der Tarifvertragsparteien manifestiert haben und zusätzliche Anhaltspunkte im Tarifvertrag für diesen Willen dürften entbehrlich sein, weil es insoweit ersichtlich nicht um die bloße vollständige Wiedergabe des für die Tarifunterworfenen geltenden Rechts im Zusammenhang mit sonstigen Tarifbestimmungen geht. Dagegen kann bei der Übernahme einzelner gesetzlicher Normen in einen umfangreichen Manteltarifvertrag durchaus ein Normsetzungswille der Tarifvertragsparteien fehlen, was – wie auch die Vertreter der Gegenmeinung einräumen (vgl. Löwisch/Rieble, a.a.O.) – im Einzelfall durch Auslegung zu ermitteln ist. Streit besteht letztlich nur darüber, von welcher Auslegungsregel ausgegangen werden muß.
b) Jedenfalls seit Festigung der kritisierten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, d.h. spätestens seit der Entscheidung vom 28. Januar 1988 (– 2 AZR 296/87 – AP Nr. 24 zu § 622 BGB) spricht eine inhaltliche Übernahme gesetzlicher Regelungen in ein umfassenderes tarifliches Regelwerk gegen einen eigenen Normsetzungswillen der Tarifvertragsparteien, wenn diese einen Hinweis auf die gewollte Eigenständigkeit der Regelung unterlassen. Die Kenntnis der höchstrichterlichen Rechtsprechung kann nämlich von den Tarifvertragsparteien erwartet werden. Deshalb ist auch zu erwarten, daß die Tarifvertragsparteien jedenfalls bei neueren Tarifverträgen dafür Sorge tragen, daß ihr Normsetzungswille im Tarifvertrag einen deutlichen Niederschlag findet, wenn sie mit der partiellen Übernahme von Gesetzesrecht eine eigenständige Tarifregelung beabsichtigen (vgl. auch BAGE 38, 357, 361 = AP Nr. 40 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau). Entgegen der Auffassung von Creutzfeldt (AuA 1995, 87) bedarf dies keiner monströsen Vorspänne oder ausgefeilter Formulierungen. Schon die schlichte Einfügung „unabhängig von der gesetzlichen Regelung” oder „auch bei Änderung der gesetzlichen Regelung” würde z.B. genügen, ebenso eine kurze Anmerkung oder Protokollnotiz, die den Normsetzungswillen dokumentiert.
c) Dazu kommt, daß die tarifdispositive Gestaltung ansonsten zwingender Gesetze es den Tarifpartnern ermöglichen soll, aufgrund ihrer besonderen Sachkenntnis den Anforderungen der Branche entsprechende, vom Gesetz abweichende Regelungen zu treffen. Auch § 55 Abs. 3 AGB-DDR ließ nicht etwa schlechthin „eigenständige tarifliche Regelungen”, sondern ausdrücklich nur die Vereinbarung kürzerer als der in Abs. 2 genannten Kündigungsfristen durch Tarifvertrag zu. Ob daraus zu folgern wäre, daß die Tarifvertragsparteien dem Gesetz inhaltsgleiches Tarifrecht gar nicht als eigenständige Normen vereinbaren können, mag dahinstehen. Jedenfalls würde die Schaffung konstitutiver gesetzesgleicher Tarifnormen nur im Hinblick auf künftige Gesetzesänderungen Sinn machen, von denen bei Abschluß des Tarifvertrages aber noch gar nicht feststünde, ob und ggf. wie sie wiederum tarifdispositiv gestaltet sein werden. Ein solcher Wille der Tarifvertragsparteien müßte im Tarifvertrag selbst deutlich zum Ausdruck kommen, denn von der gesetzlichen Tariföffnungsklausel machen die Tarifvertragsparteien in solchen Fällen gerade keinen Gebrauch.
d) Mit dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Mai 1990 (– 1 BvL 3/85 – u.a. AP Nr. 28 zu § 622 BGB) läßt sich die Gegenmeinung, im Zweifel sei von der tariflichen Eigenständigkeit der übernommenen Gesetzesnorm auszugehen, nicht begründen. Der Beschluß sagt nichts darüber aus, unter welchen Voraussetzungen tarifliche Bestimmungen als eigenständige Normen angesehen werden können, sondern geht lediglich zutreffend davon aus, einzelne Tarifverträge würden § 622 Abs. 2 BGB a.F. entsprechende Regelungen enthalten. Daß § 622 Abs. 2 BGB a.F. entsprechende Tarifbestimmungen als eigenständige Regelungen gewollt sein können, wurde in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgericht nicht in Zweifel gezogen, sondern mit der für notwendig erachteten Auslegung der einzelnen Tarifverträge gerade vorausgesetzt.
e) Auch das Argument, Tarifverträge seien Kompromißlösungen, wenn sich die Tarifvertragsparteien auf die Übernahme gesetzlicher Regelungen verständigten, wollten sie diese für die Zukunft tarifsicher gestalten, so daß sie Änderungen des Gesetzes überdauerten, überzeugt nicht. Der Kompromiß der Tarifvertragsparteien kann auch darin bestehen, auf eine eigene Regelung zu verzichten und lediglich aus Gründen der Vollständigkeit die gesetzliche Regelung im Tarifvertrag darzustellen.
f) Soweit eingewandt wird, die inhaltliche Aufnahme gesetzlicher Regelungen in einen Tarifvertrag müsse schon deshalb im Zweifel als eigene Normsetzung gewertet werden, weil nur eine solche Sicht der verfassungsrechtlich gesicherten Stellung der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände und ihrer Tarifautonomie gerecht werde, wird verkannt, daß diese Tarifautonomie auch die Freiheit beinhaltet, von einer eigenen Normsetzung abzusehen. Die Mißachtung eines solchen Willens der Tarifvertragsparteien wäre ebenso ein unzulässiger Eingriff in die Tarifautonomie wie umgekehrt die Mißachtung des Normsetzungswillens. In beiden Fällen ist das, was die Tarifvertragsparteien wollten, durch Auslegung der von ihnen vereinbarten Tarifbestimmungen zur Geltung zu bringen, soweit das Gesetz dies zuläßt. Der Hinweis von Bengelsdorf und Creutzfeldt (jeweils a.a.O.), die Tarifvertragsparteien verzichteten mit der Übernahme tarifdispositiver Gesetzesvorschriften auf die ihnen eingeräumte Möglichkeit der tarifvertraglichen Schlechterstellung der betroffenen Arbeitnehmer, ist zwar richtig, schließt es aber nicht aus, daß die Tarifvertragsparteien auf eine eigenständige Regelung überhaupt verzichten wollten.
g) Zutreffend ist zwar, daß die angegriffene Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts einen Vergleich der Tarifbestimmungen mit den einschlägigen gesetzlichen Regelungen erfordert. Creutzfeldt (AuA 1995, 87, 88) hat deshalb unter Hinweis auf Wiedemann/Stumpf (TVG, 5. Aufl., § 1 Rz 115) eingewandt, die Normadressaten könnten nicht danach unterscheiden, woher die Tarifvertragsparteien ihr Normgut beziehen, weshalb bei der Auslegung von Tarifverträgen und der Zuschreibung (oder Verneinung) von Normsetzungswillen der Vertragsparteien nicht auf Faktoren zurückzugreifen sei, die nicht unmittelbar aus dem Tarifvertragstext entnehmbar seien. Insoweit handelt es sich jedoch um einen Zirkelschluß, weil die Normqualität, die gerade geklärt werden soll, bereits vorausgesetzt wird. Es geht zunächst noch nicht um Normauslegung, sondern um die Vorstufe der Auslegung eines Tarifvertragstextes zur Feststellung oder Widerlegung der Normqualität. Dabei darf nicht die Unkenntnis der gesetzlichen Regelung bei den Adressaten unterstellt, sondern es muß im Gegenteil von deren Gesetzeskenntnis ausgegangen werden; die Adressaten des Tarifvertrags sind nämlich zugleich auch den allgemeinen Gesetzen unterworfen und jede rechtsstaatliche Ordnung geht davon aus, daß der Bürger die verfassungsgemäß beschlossenen und verkündeten Gesetze grundsätzlich zu kennen hat.
h) Zuzugeben ist allerdings, daß im Fall einer lediglich deklaratorischen Übernahme von gesetzlichen Regelungen in Tarifverträge die bezweckte Übersichtlichkeit und Vollständigkeit verfehlt wird, wenn das Gesetz geändert oder für verfassungswidrig erklärt wird (vgl. LAG Köln Urteil vom 29. Mai 1991 – 5 Sa 3/91 – LAGE § 622 BGB Nr. 19; eingehend Creutzfeldt, a.a.O.). Dies ändert freilich nichts daran, daß im Fall der inhaltlichen Übernahme gesetzlicher Regelungen ein Normsetzungswille der Tarifvertragsparteien fehlen kann und daß dies dann aus Gründen der Tarifautonomie zu respektieren ist.
Der im eher seltenen Fall einer Gesetzesänderung entstehenden Unklarheit können die Tarifvertragsparteien relativ leicht entgegenwirken, sei es durch – wohl auf das Datum der Gesetzesänderung auch rückwirkend mögliche – Änderung des Tarifvertrages, die bei Einigkeit der Tarifvertragsparteien in der Regel weitaus rascher und mit geringerem Aufwand zu bewerkstelligen ist, als eine Gesetzesänderung im förmlichen Gesetzgebungsverfahren, sei es durch ein Rundschreiben an die Mitglieder, wie es im vorliegenden Zusammenhang die IG Metall in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen – allerdings im Sinne einer Fortgeltung des Tarifrechts – durch Schreiben vom 20. Oktober bzw. vom 3. November 1993 getan hat.
3. Vorliegend haben die Tarifvertragsparteien die im Tarifgebiet damals geltende gesetzliche Regelung der Kündigungsfristen des § 55 AGB-DDR inhaltlich übernommen, weshalb die Annahme einer eigenständigen Tarifregelung voraussetzen würde, daß ein evtl. Normsetzungswille der Tarifvertragsparteien im Tarifvertrag einen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden hätte. Das ist, wie das Landesarbeitsgericht zutreffend erkannt hat, nicht der Fall.
a) Die bloße Anpassung der Wortwahl und der Bezifferung der Absätze an das im Tarifvertrag Gebräuchliche ist für die Frage der Eigenständigkeit der Bestimmungen über die Kündigungsfristen ohne Bedeutung, ebenso die Voranstellung des Einleitungssatzes „Das Beschäftigungsverhältnis kann beiderseits gelöst werden:”. Maßgebend ist insoweit nicht die Übernahme der exakten Wortwahl und äußeren Form des Gesetzes, sondern die Übernahme von dessen Inhalt.
b) Auch der jeweilige Klammerzusatz „entspricht den für das Tarifgebiet II geltenden gesetzlichen Regelungen” setzt keine eigenständige Tarifnorm voraus. Der Hinweis, daß ein vorausgehender Tariftext dem Gesetz entspricht, belegt eher, daß die Parteien auf das Fehlen eines eigenen Normsetzungswillens hinweisen wollen, jedenfalls besagt das in dem Wort „entsprechen” enthaltene vergleichende Element nicht, der Text des Tarifvertrages habe über die inhaltliche Übereinstimmung hinausgehend wie das Gesetz Normqualität.
c) Die in Ziffer 9.8.4 MTV vorgesehene Anpassung des Tarifrechts im Fall einer Neuregelung der Kündigungsfristen im Tarifgebiet I (ehemals Berlin-West) kann weiterhin erfolgen, läßt aber nicht auf einen Normsetzungswillen der Tarifvertragsparteien für die übernommenen gesetzlichen Kündigungsfristen schließen. § 55 AGB-DDR entsprach den für das Tarifgebiet I vereinbarten Kündigungsfristen ebensowenig wie § 622 Abs. 2 BGB n.F. Es mag das Motiv der Tarifvertragsparteien für die inhaltliche Übernahme von § 55 AGB-DDR gewesen sein, daß die relativ kurzen Fristen die für unvermeidbar gehaltenen Personalreduzierungen größeren Umfangs erleichterten. Diese Motivation hat aber im Tarifvertrag keinen hinreichend deutlichen Ausdruck gefunden. Ebensogut kann das Motiv gewesen sein, daß die Tarifvertragsparteien mit § 55 AGB-DDR, der nicht zwischen Arbeitern und Angestellten unterschied, eine verfassungskonforme gesetzliche Regelung vorfanden, die es ihnen ermöglichte, vorerst von einer eigenständigen Regelung abzusehen und die anstehende gesetzliche Neuregelung abzuwarten. Daß die Kündigungsfristen, wie sie im Tarifvertrag wiedergegeben werden, eine Änderung nur im Falle der Neuregelung der Kündigungsfristen im Tarifgebiet I erfahren sollten, läßt sich Ziffer 9.8 MTV und den im Zusammenhang stehenden Regelungen weder dem Wortlaut nach noch sonst entnehmen.
d) Die Auslegung der Tarifbestimmungen als deklaratorische Übernahme der gesetzlichen Kündigungsfristen wird entgegen der Ansicht der Beklagten durch den systematischen Zusammenhang nicht widerlegt, sondern bestärkt. Wären die inhaltlich dem AGB-DDR entnommenen Kündigungsfristen eigenständiges Tarifrecht, so würde gemäß Ziffer 9.4 MTV nach dem Außerkrafttreten des AGB-DDR für länger als drei Monate beschäftigte Aushilfskräfte eine Mindestkündigungsfrist von einem Monat gelten, für ständig beschäftigte Arbeitnehmer in den ersten fünf Jahren des Arbeitsverhältnisses dagegen lediglich eine Mindestfrist von zwei Wochen. Daß dies tatsächlich der Wille der Tarifvertragsparteien war, erscheint ausgeschlossen. Vielmehr gingen diese offensichtlich davon aus, die zu erwartende gesetzliche Neuregelung werde eine Mindestkündigungsfrist von einem Monat nicht unterschreiten.
e) Gerade der Umstand, daß die Tarifvertragsparteien um die bevorstehende gesetzliche Neuregelung der Kündigungsfristen wußten, hätte eine Klarstellung im Tarifvertrag dahin erwarten lassen, die kurzen Fristen des AGB-DDR sollten auch nach dieser Neuregelung mit absehbar längeren Kündigungsfristen fortgelten, wenn dies denn der Wille der Tarifvertragsparteien gewesen wäre. Jedenfalls läßt sich, wie dargelegt, aus der bloßen Übernahme des damals geltenden Gesetzesrechts in den Tarifvertrag nicht schon auf einen solchen Willen der Tarifvertragsparteien schließen.
Unterschriften
Etzel, Bröhl, Fischermeier, Rupprecht, Dr. Roeckl
Fundstellen