Entscheidungsstichwort (Thema)

Nachträgliche Regelungslücke in Tarifvertrag

 

Orientierungssatz

1. Parallelentscheidung zum BAG-Urteil vom 10.12.1986 - 5 AZR 517/85.

2. Nach § 15 Nr 2 Satz 2 des Manteltarifvertrages für Mitarbeiter im Rheinischen Braunkohlebergbau, gültig ab 1. Dezember 1970 erhält der arbeitsunfähig erkrankte Mitarbeiter von Beginn der 7. bis zum Ende der 13. Woche einen Zuschuß zum Krankengeld, dessen Höhe sich nach dem Unterschiedsbetrag zwischen den Barleistungen der Krankenkasse und den Nettobezügen richtet.

3. Die Belastung des Krankengeldes mit Arbeitnehmerbeiträgen zur Renten- und Arbeitslosenversicherung gemäß § 1385b Abs 1 RVO, § 112b Abs 1 AVG und § 186 Abs 1 AFG, eingeführt mit Wirkung vom 1. Januar 1984 durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 vom 22. Dezember 1983 (BGBl I S 1532), hat zu einer nachträglichen Regelungslücke in § 15 Nr 2 MTV geführt.

4. Die Gerichte können diese Lücke nicht schließen, weil hierfür verschiedene Möglichkeiten in Betracht kommen und es daher den Tarifvertragsparteien überlassen bleiben muß, für welche dieser Lösungsmöglichkeiten sie sich entscheiden.

 

Verfahrensgang

LAG Köln (Entscheidung vom 30.05.1985; Aktenzeichen 10 Sa 194/85)

ArbG Köln (Entscheidung vom 18.12.1984; Aktenzeichen 15 Ca 9115/84)

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Höhe des dem Kläger zustehenden Krankengeldzuschusses.

Der Kläger ist seit 1955 als Arbeitnehmer bei der Beklagten beschäftigt. Für das Arbeitsverhältnis gilt kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Manteltarifvertrag für Mitarbeiter im Rheinischen Braunkohlenbergbau in der seit 1970 gültigen Fassung (im folgenden kurz: MTV). Nach § 15 Nr. 2 Satz 2 MTV erhält der arbeitsunfähig erkrankte Mitarbeiter von Beginn der 7. bis zum Ende der 13. Woche einen Zuschuß zum Krankengeld, dessen Höhe sich nach dem Unterschiedsbetrag zwischen den Barleistungen der Krankenkasse und den Nettobezügen richtet. Das Krankengeld wird bei der Berechnung auch dann zugrundgelegt, wenn der Mitarbeiter im Krankenhaus untergebracht ist (Satz 4).

Das Krankengeld (§ 182 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3, Abs. 4 RVO) unterliegt seit dem 1. Januar 1984 der Beitragspflicht zur Renten- und Arbeitslosenversicherung. Die Beiträge sind je zur Hälfte von den Krankengeldbeziehern und den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung aufzubringen und von der Krankenversicherung an den Rentenversicherungsträger sowie an die Bundesanstalt für Arbeit abzuführen (§ 1385 b Abs. 1 RVO, § 186 Abs. 1 AFG, eingefügt durch Art. 1 Nr. 53, Art. 17 Nr. 30, Art. 39 Abs. 1 des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 vom 22. Dezember 1983, BGBl. I S. 1532). Der Streit der Parteien betrifft vorliegend die Frage, ob bei der Berechnung des Krankengeldzuschusses das um den Beitragsanteil des Arbeitnehmers gekürzte oder aber das ungekürzte Krankengeld zugrundezulegen ist.

Der Kläger war vom 4. März bis zum 27. August 1984 arbeitsunfähig krank. Bis zum 14. April 1984 zahlte die Beklagte ihm das Arbeitsentgelt weiter. Ab 15. April 1984 erhielt er von der Krankenkasse Krankengeld und von der Beklagten den Krankengeldzuschuß. Die Krankenkasse gewährte ihm das um die Arbeitnehmeranteile zur Renten- und Arbeitslosenversicherung verminderte Krankengeld ("Nettokrankengeld"). Die Beklagte berechnete den Zuschuß zum Krankengeld dagegen wie bisher auf der Grundlage des ungekürzten Krankengeldes ("Bruttokrankengeld"). Dadurch erhielt der Kläger in der Zeit der Zuschußgewährung insgesamt 1.059,50 DM weniger, als er ohne Krankengeldkürzung bezogen hätte. Dieses Ergebnis hält der Kläger für ungerechtfertigt und verlangt von der Beklagten die Zahlung des Unterschiedsbetrages.

Der Kläger hat die Ansicht vertreten, die Beklagte müsse den Krankengeldzuschuß auf der Grundlage des "Nettokrankengeldes" berechnen. Sinn und Zweck der Tarifvorschrift sei es zu verhindern, daß der Arbeitnehmer im Krankheitsfalle einen Verlust an seinem Nettoeinkommen erleide. Die durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 herbeigeführte Verschlechterung dürfe nicht zu Lasten der dem Tarifvertrag unterfallenden Arbeitnehmer gehen.

Der Kläger hat daher beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 1.059,50 DM

zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen: "Barleistung" im Sinne des Manteltarifvertrages bedeute ebenso wie im Sozialversicherungsrecht lediglich "Geldleistung". Das von den Krankenkassen zu zahlende Krankengeld zähle zu den baren Leistungen. Daraus, daß das Krankengeld nicht mehr in voller Höhe an den Versicherten ausbezahlt werde, sondern die Krankenversicherung dessen Beitragsanteil davon einbehalte und abführe, könne nicht hergeleitet werden, daß sich die Barleistung der Krankenkasse entsprechend verringere. "Barleistung" im Sinne der tariflichen Vorschrift sei nicht gleichbedeutend mit "Nettokrankengeld", sondern mit dessen ungekürztem Grundbetrag, der dem Versicherten aus seinem Rechtsverhältnis zu dem Leistungsträger zustehe.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die Klage abgewiesen. Dagegen richtet sich die Revision, mit der der Kläger die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils erstrebt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Die Vorschrift des § 15 Nr. 2 Satz 2 MTV, die allein dafür in Betracht kommt, bietet zur Zeit keine Anspruchsgrundlage für das Klagebegehren. Sie ist seit dem 1. Januar 1984 lückenhaft geworden. Eine ergänzende Lückenausfüllung ist dem Gericht nicht möglich (vgl. die zur Veröffentlichung vorgesehene Entscheidung des Senats vom 10. Dezember 1986 - 5 AZR 517/85 -).

I. Die von den Tarifvertragsparteien in § 15 Nr. 2 Satz 2 MTV verwendeten Begriffe "Zuschuß zum Krankengeld" und "Barleistungen der Krankenkasse" richten sich nach dem Krankenversicherungsrecht.

1. Der Krankengeldzuschuß stellt eine tarifvertragliche Leistung des Arbeitgebers dar, die das Krankengeld als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 182 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 RVO) ergänzen soll. Die tarifvertraglichen Begriffe "Krankengeld" und "Barleistungen" sind dem Krankenversicherungsrecht entnommen. Sie müssen daher auch im sozialversicherungsrechtlichen Sinne verstanden und ausgelegt werden (vgl. zur Auslegung insoweit BAGE 46, 61, 66 = AP Nr. 3 zu § 9 TVG 1969, mit weiteren Nachweisen). Daraus ergibt sich: Mit "Barleistungen der Krankenkasse" sind nicht die Beträge gemeint, die dem Arbeitnehmer tatsächlich zufließen. Vielmehr soll damit unterschieden werden zwischen Geldleistungen einerseits sowie Sach- und Dienstleistungen andererseits als den Leistungsformen im Krankenversicherungsrecht.

2. a) Den Begriff "Barleistung" verwendet der Gesetzgeber in § 210 RVO. Nach dieser Vorschrift werden die Barleistungen (ausgenommen das Sterbegeld) mit Ablauf jeder Woche ausgezahlt. Barleistungen bedeutet das gleiche wie "bare Leistungen" im Sinne von § 180 Abs. 1 Satz 2 RVO, wonach die baren Leistungen der Kasse mit Ausnahme des Krankengeldes nach einem Grundlohn bemessen werden. Barleistung ist gleichbedeutend mit Geldleistung im Sinne von § 11 Satz 1 SGB I (vgl. Burdenski in GK-SGB I, 2. Aufl., § 11 Rz 17). Barleistung ist der ältere, Geldleistung der neuere Ausdruck für eine Sozialleistung, die nicht Dienst- oder Sachleistung ist. Gegenwärtig werden im Sozialrecht beide Begriffe noch nebeneinander gebraucht. Der Begriff Geldleistung umfaßt die heute üblich gewordene bargeldlose Überweisung von Sozialleistungen. § 15 Nr. 2 Satz 2 MTV gilt bereits seit dem 1. Dezember 1970, er ist mithin lange vor Inkrafttreten des SGB I vom 11. Dezember 1975 (BGBl. I S. 3015) in das Tarifwerk eingefügt worden. Die Tarifvertragsparteien konnten daher den späteren Sprachgebrauch des SGB I nicht berücksichtigen.

b) Zudem sah die RVO zur wirtschaftlichen Sicherung des arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers früher zwei Arten von Geldleistungen vor: Krankengeld und Hausgeld (§§ 182, 186 RVO in der Fassung des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfalle vom 12. Juli 1961, BGBl. I S. 913). Das Hausgeld bestand in einem Prozentsatz des Krankengeldes und wurde dem Arbeitnehmer bei Krankenhauspflege gewährt. Erst das Zweite Krankenversicherungsänderungsgesetz vom 21. Dezember 1970 (BGBl. I S. 1770) ließ das Hausgeld entfallen und änderte § 186 RVO dahin, daß vom Beginn der Krankenhauspflege an Krankengeld zu zahlen war. Auch der eben erwähnte Umstand (Aufgliederung der Geldleistung in Krankengeld und Hausgeld) erklärt, warum die Tarifvertragsparteien den Krankengeldzuschuß nicht lediglich als Unterschiedsbetrag zwischen Nettobezügen und Krankengeld, sondern zwischen Nettobezügen und "Barleistungen der Krankenkasse" definiert haben (vgl. insoweit auch § 15 Nr. 2 Satz 4 MTV).

c) Seit dem 1. Januar 1984 unterliegt das Krankengeld der Beitragspflicht zur Renten- und Arbeitslosenversicherung. Nach § 1385 b Abs. 1 Satz 2 RVO, § 112 b Abs. 1 Satz 2 AVG und § 186 Abs. 1 Satz 2 AFG tragen der Krankengeldbezieher und der Leistungsträger die Beiträge je zur Hälfte. (Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Beitragsabzugs vgl. BSG Urteil vom 19. Juni 1986 - 12 RK 54/85 -, zur Veröffentlichung vorgesehen.) Bei dieser Neuregelung hat der Gesetzgeber die Vorschriften über das Krankengeld selbst (§ 182 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 RVO) unverändert gelassen. Hieraus folgt, daß der Begriff des Krankengeldes seit dem 1. Januar 1984 in einem zweifachen Sinn zu verstehen ist, als "Bruttokrankengeld" und als "Nettokrankengeld". Das Gesetz trifft diese Unterscheidung jedoch nicht ausdrücklich und regelt auch nicht die Folgerungen, die sich für die Verwendung des Begriffs des Krankengeldes aus der Neuregelung ergeben.

II. In § 15 Nr. 2 MTV ist seit dem 1. Januar 1984 eine nachträgliche Regelungslücke entstanden.

Es kann davon ausgegangen werden, daß die Tarifvertragsparteien bei der im Jahre 1970 getroffenen Vereinbarung des § 15 Nr. 2 MTV mit geringfügigen Veränderungen in der Höhe des Krankengeldes gerechnet haben. Derartige Veränderungen entsprechen der Erfahrung des Arbeitslebens. Die Belastung des Krankengeldes mit Arbeitnehmeranteilen für Renten- und Arbeitslosenversicherung bedeutet jedoch eine grundlegende Änderung des Krankenversicherungsrechts. Sie war für die Tarifvertragsparteien im Jahre 1970 nicht vorhersehbar, so daß für sie damals kein Anlaß bestand, die Frage zu regeln, ob bei der Berechnung des vom Arbeitgeber zu gewährenden Zuschusses von dem "Bruttokrankengeld" oder von dem "Nettokrankengeld" auszugehen sei. In § 15 Nr. 2 MTV ist folglich seit dem 1. Januar 1984 insoweit eine nachträgliche Regelungslücke entstanden. Anders als bei bewußten Tariflücken kommt in derartigen Fällen eine Lückenausfüllung durch Urteil grundsätzlich in Betracht (vgl. statt vieler BAGE 47, 61, 67 = AP Nr. 95 zu §§ 22, 23 BAT 1975). Vorliegend sind die Gerichte jedoch nicht befugt, die Regelungslücke im Wege einer ergänzenden Auslegung zu schließen, weil den Tarifvertragsparteien hierfür verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen und sie sich aufgrund ihrer Tarifhoheit für eine hiervon selbst entscheiden müssen. Ein Tätigwerden der Gerichte bedeutete, daß sie verfassungswidrig in die Tarifautonomie eingriffen (vgl. BAGE 36, 218, 225, 226 = AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten).

III. Folgende Möglichkeiten einer Ergänzung des Manteltarifvertrages bestehen, denen die Gerichte nicht vorgreifen dürfen:

1. Sieht man als entscheidenden Gesichtspunkt an, daß der Arbeitnehmer nach Sinn und Zweck des § 15 Nr. 2 MTV auch nach Wegfall der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle seinen Nettolohn durch Krankengeld und einen entsprechenden Zuschuß des Arbeitgebers behalten soll, dann müßte die Neuregelung vorsehen, daß der Zuschuß zum Nettokrankengeld zu zahlen ist. Auf der anderen Seite ließe sich an den Grundsatz anknüpfen, daß gesetzliche Lasten, die dem Arbeitnehmer auferlegt sind, auch von diesem getragen werden müssen. Ein Anhalt dafür findet sich schon in der bisherigen tariflichen Regelung insofern, als die auf den Zuschuß entfallende Lohnsteuer (§ 2 Abs. 3 Nr. 3 LStDVO) vom Arbeitnehmer allein zu tragen ist. Legte man dieses Prinzip zugrunde, wäre der Zuschuß nach dem Bruttokrankengeld zu bemessen. Schließlich wäre daran zu denken, die vom Gesetz neu geschaffene Belastung des Arbeitnehmers zwischen den Arbeitsvertragsparteien aufzuteilen, wobei sich wiederum verschiedene Möglichkeiten der Verteilung der Beitragslast ergeben, auch in der Weise, daß die Anspruchsdauer oder der anspruchsberechtigte Personenkreis verändert würden. Jede dieser Möglichkeiten erfordert eine ergänzende rechtspolitische Entscheidung, die von den Tarifvertragsparteien zu treffen ist (vgl. dazu auch BAGE 41, 161 = AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Besitzstand).

2. Es muß daher den Tarifvertragsparteien überlassen bleiben, durch entsprechende Vereinbarung diejenige Lösung auszuhandeln, die nach ihren Vorstellungen im Hinblick auf den Zweck der Regelung am besten geeignet ist, die entstandene Lücke zu schließen. Da die Tarifvertragsparteien in der Lage sind, den Tarifvertrag rückwirkend auf den Zeitpunkt zu ergänzen, zu dem die Neuregelung des Krankenversicherungsrechts in Kraft getreten ist, war die Klage noch nicht endgültig, sondern nur als zur Zeit unbegründet abzuweisen.

Dr. Gehring Dr. Olderog Ascheid

Liebsch Pallas

 

Fundstellen

Dokument-Index HI440343

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