Entscheidungsstichwort (Thema)
Ablösung von Tarifverträgen
Orientierungssatz
1. Das die gesamte Rechtsordnung und auch das Recht der Tarifverträge beherrschende Ablösungsprinzip besagt, daß grundsätzlich ein einen bestimmten Komplex insgesamt neu regelnder Tarifvertrag seinen Vorgänger auch ohne besondere Aufhebungsvereinbarung voll ersetzt.
2. Multiplikator für Akkordlohn für Putzer nach dem Berliner Tarifvertrag über Akkordangelegenheiten vom 6.5.1982.
Normenkette
TVG § 1
Verfahrensgang
LAG Berlin (Entscheidung vom 09.04.1984; Aktenzeichen 12 Sa 7/84) |
ArbG Berlin (Entscheidung vom 08.11.1983; Aktenzeichen 11 Ca 779/83) |
Tatbestand
Der Kläger ist seit 1968 als Putzer bei der Beklagten beschäftigt. Er arbeitet im Leistungslohn. Beide Parteien sind Mitglieder der tarifschließenden Verbände des Berliner Baugewerbes.
In den Monaten April und Mai 1983 erzielte der Kläger insgesamt 292,23 Akkordstunden. Die Beklagte rechnete diese Akkordstunden mit 14,08 DM je Stunde ab. Dieser Betrag ist in dem Berliner Tarifvertrag über Akkordangelegenheiten vom 6. Mai 1982 (ATV 1982) als Multiplikator für Putzarbeiten festgesetzt. Der ATV 1982 war zum 31. März 1983 gekündigt worden. In der Folgezeit ist ein neuer Tarifvertrag über die Neuregelung des Multiplikators für den Klagezeitraum (April und Mai 1983) nicht zustande gekommen.
Der Kläger meint, nach Ablauf des ATV 1982 sei ab 1. April 1983 als Multiplikator für den Akkordlohn bei Putzarbeiten der Tarifstundenlohn des Putzers in Höhe von 14,50 DM heranzuziehen. Dies ergebe sich aus Nr. 2 der dritten Protokollnotiz zum Akkordtarifvertrag für Putzarbeiten im Berliner Baugewerbe vom 10. Dezember 1973. Danach seien die Gesamt-Akkordstunden mit dem jeweils geltenden Tarifstundenlohn des Putzers zu multiplizieren. Diese Protokollnotiz sei nach wie vor in Kraft. Sie sei niemals außer Kraft gesetzt worden, sondern sei nur zeitweise durch den ATV 1979 und ATV 1982 verdrängt worden. Der ATV 1979 und der ATV 1982 seien bloße Übergangsregelungen gewesen. Der ATV 1982 wirke nicht nach, da nach seinem Ablauf wieder die angeführte Protokollnotiz eingreife.
Nach dem vom Kläger in Anspruch genommenen Multiplikator von 14,50 DM ergibt sich für die Monate April und Mai 1983 eine Restlohnforderung in der rechnerisch unstreitigen Höhe von 122,74 DM brutto.
Der Kläger hat demgemäß beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 122,74
DM brutto zuzüglich 4 % Zinsen aus dem dar-
aus folgenden Nettobetrag seit 1. September
1983 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen, die Neuregelung der Multiplikatoren im ATV 1982 habe ältere tarifliche Regelungen abgelöst. Nach der Kündigung des ATV 1982 gelte dessen Multiplikatorenregelung kraft Nachwirkung weiter.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Klageantrag weiter. Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben die Klage mit Recht abgewiesen. Der Kläger kann von der Beklagten nicht die Zahlung von 122,74 DM verlangen. Denn die Beklagte hat im Klagezeitraum die Akkordstunden des Klägers mit dem zutreffenden Multiplikator von 14,08 DM abgerechnet. Dieser Multiplikator ergibt sich aus Ziff. II 3 des Tarifvertrags über Akkordangelegenheiten vom 6. Mai 1982 (ATV 1982), der den Multiplikator für den Akkordtarifvertrag für Putzarbeiten für die Zeit ab 1. April 1982 ausdrücklich auf 14,08 DM festgesetzt hat. Nach der Kündigung des ATV 1982 zum 31. März 1983 galt der ATV 1982 im Klagezeitraum (April und Mai 1983) kraft Nachwirkung weiter (§ 4 Abs. 5 TVG).
Entgegen der Auffassung des Klägers kann der Multiplikator für die von April bis Mai 1983 geleisteten Akkordstunden des Klägers nicht der dritten Protokollnotiz zum Akkordtarifvertrag vom 10. Dezember 1973 entnommen werden. Nach Nr. 2 dieser Protokollnotiz sind zwar die ermittelten Gesamt-Akkordstunden mit dem jeweils geltenden Tarifstundenlohn des Putzers zu multiplizieren. Die Protokollnotiz ist jedoch durch den Tarifvertrag über Akkordangelegenheiten im Berliner Baugewerbe vom 5. Juni 1979 (ATV 1979) insoweit außer Kraft gesetzt worden. Dies ist in dem ATV 1979 zwar nicht ausdrücklich festgelegt worden, folgt jedoch aus dem Gesamtzusammenhang der tariflichen Regelung und dem tariflichen Ablösungsprinzip. In Ziff. I 5 des ATV 1979 ist als Multiplikator für den Akkordtarifvertrag für Putzarbeiten der Tariflohn des Putzers der Gruppe III/2 festgesetzt und für die Zeit ab 1. Mai 1979 mit 12,07 DM beziffert worden. Der ATV 1979 war ferner nach seiner Ziff. II erstmals zum 30. April 1984 kündbar. Damit enthält der ATV 1979 eine vollständige und abschließende Regelung des Multiplikators für Akkordstunden der Putzer. Danach sind nach dem sogenannten Ablösungsprinzip (lex posterior derogat legi priori) ältere tarifliche Regelungen über den Multiplikator für Akkordstunden der Putzer außer Kraft getreten. Das die gesamte Rechtsordnung und damit das Recht der Tarifverträge beherrschende Ablösungsprinzip besagt, daß grundsätzlich ein einen bestimmten Komplex insgesamt neu regelnder Tarifvertrag seinen Vorgänger auch ohne besondere Aufhebungsvereinbarung voll ersetzt (BAG Urteil vom 30. Januar 1985 - 4 AZR 117/83 -, zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen, mit weiteren Nachweisen). Regelt ein Tarifvertrag einen bestimmten Komplex, der nur Teil eines anderen Tarifvertrags ist, insgesamt neu, wird nur der entsprechende Teil des früheren Tarifvertrags voll ersetzt und damit außer Kraft gesetzt. Demgemäß ist durch Ziff. I 5 ATV 1979 auch nur Nr. 2 der 3. Protokollnotiz außer Kraft gesetzt worden, während die übrigen Bestimmungen des Akkordtarifvertrags weitergalten.
Den Tarifvertragsparteien ist es zwar unbenommen, vom Ablösungsprinzip abweichende Vereinbarungen zu treffen. Im Interesse der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit bedürfen solche Abweichungen aber besonderer Bestimmtheit und Deutlichkeit (BAG Urteil vom 30. Januar 1985 - 4 AZR 117/83 -, zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen). Aus dem ATV 1979 ist kein Anhaltspunkt dafür zu entnehmen, daß Nr. 2 der 3. Protokollnotiz zum Akkordtarifvertrag vom 10. Dezember 1973 weitergelten oder jedenfalls nach Außerkrafttreten des ATV 1979 seinerseits wieder in Kraft treten soll. Der ATV 1979 ist auch nicht als Übergangslösung oder nur vorübergehend geltende Regelung angelegt. Dagegen spricht schon die vereinbarte lange Laufzeit mit einer erstmaligen Kündigungsmöglichkeit zum 30. April 1984. Es wäre zwar zur Vermeidung von Streitigkeiten zweckmäßig gewesen, wenn die Tarifvertragsparteien ausdrücklich bestimmt hätten, daß Nr. 2 der 3. Protokollnotiz zum Akkordtarifvertrag vom 10. Dezember 1973 mit Inkrafttreten des ATV 1979 außer Kraft tritt. Nach dem Ablösungsprinzip ist dies aber rechtlich nicht erforderlich. Nach dem Ablösungsprinzip ist im Gegenteil zu verlangen, daß Abweichungen von diesem Prinzip, die von den Tarifvertragsparteien gewollt sind, besonders deutlich ihren Niederschlag in der tariflichen Regelung finden. Insoweit ist es auch unerheblich, daß keine der Tarifvertragsparteien dem Tarifregister nach § 7 TVG das Außerkrafttreten von Nr. 2 der 3. Protokollnotiz zum Akkordtarifvertrag vom 10. Dezember 1973 angezeigt hat. Für das Unterlassen der Anzeige können viele Gründe in Betracht kommen, z. B. auch Unkenntnis der Rechtslage. Jedenfalls kann aus dem Unterlassen der Anzeige an das Tarifregister nicht mit hinreichender Deutlichkeit auf den übereinstimmenden Willen der Tarifvertragsparteien geschlossen werden, Nr. 2 der angeführten Protokollnotiz solle entgegen dem Ablösungsprinzip weiter in Kraft bleiben oder wieder in Kraft treten, wenn der ATV 1979 außer Kraft tritt.
Der ATV 1979 wurde hinsichtlich des Multiplikators für die Akkordstunden der Putzer durch die Protokollnotiz vom 8. April 1980 ergänzt. Danach wurde für die Zeit ab 1. Mai 1980 ein Multiplikator von 12,99 DM festgelegt, der damit nach dem Ablösungsprinzip den Multiplikator der Ziff. I 5 des ATV 1979 in Höhe von 12,07 DM ersetzte. Der ATV 1979 einschließlich seiner Protokollnotiz wurde dann durch Ziff. VI ATV 1982 ausdrücklich außer Kraft gesetzt. Der ATV 1982 setzte den Multiplikator für Akkordstunden der Putzer ab 1. April 1982 auf 14,08 DM fest. Diese Regelung trat damit an die Stelle des ATV 1979 in der Fassung der Protokollnotiz vom 8. April 1980. Nach der Kündigung des ATV 1982 zum 31. März 1983 galten für die danach tariflose Zeit kraft gesetzlicher Anordnung die Vorschriften des ATV 1982 weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt wurden (§ 4 Abs. 5 TVG).
Der Kläger hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Revision zu tragen.
Dr. Neumann Dr. Feller Dr. Etzel
Engert Gnade
Fundstellen