Entscheidungsstichwort (Thema)
Ablösung von Tarifverträgen
Orientierungssatz
1. Das die gesamte Rechtsordnung und auch das Recht der Tarifverträge beherrschende Ablösungsprinzip besagt, daß grundsätzlich ein einen bestimmten Komplex insgesamt neu regelnder Tarifvertrag seinen Vorgänger auch ohne besondere Aufhebungsvereinbarung voll ersetzt.
2. Multiplikator für Akkordlohn für Betonierer nach dem Berliner Tarifvertrag über Akkordangelegenheiten vom 6.5.1982.
Normenkette
TVG § 1
Verfahrensgang
LAG Berlin (Entscheidung vom 13.03.1984; Aktenzeichen 3 Sa 133/83) |
ArbG Berlin (Entscheidung vom 27.10.1983; Aktenzeichen 15 Ca 338/83) |
Tatbestand
Der Kläger ist seit 1967 als Betonbauer bei der Beklagten beschäftigt. Er arbeitet im Leistungslohn. Beide Parteien sind Mitglieder der tarifschließenden Verbände des Berliner Baugewerbes.
In den Monaten Mai, Juni und Juli 1983 erzielte der Kläger insgesamt 700,56 Akkordstunden. Die Beklagte rechnete diese Akkordstunden mit 13,20 DM je Stunde ab. Dieser Betrag ist in dem Berliner Tarifvertrag über Akkordangelegenheiten vom 6. Mai 1982 (ATV 1982) als Multiplikator für Betonierarbeiten festgesetzt. Der ATV 1982 war zum 31. März 1983 gekündigt worden. In der Folgezeit ist ein neuer Tarifvertrag über die Neuregelung des Multiplikators für den Klagezeitraum (Mai bis Juli 1983) nicht zustande gekommen.
Der Kläger meint, nach Ablauf des ATV 1982 sei ab 1. April 1983 als Multiplikator für den Akkordlohn bei Betonierarbeiten der Lohn der Berufsgruppe III/2 in Höhe von 14,16 DM heranzuziehen. Dies ergebe sich aus § 9 Ziff. 13 c des Akkordtarifvertrags für Betonbauarbeiten (Rahmenbestimmungen) vom 30. Juni 1958 in der Fassung des Zusatztarifvertrags vom 9. April 1973, gültig ab 1. Februar 1973 (Zusatz-TV). Nach § 9 Ziff. 13 c Zusatz-TV seien die Gesamt-Akkordstunden mit dem jeweils geltenden Tarifstundenlohn des Betonbauers (III b) zu multiplizieren. Die Berufsgruppe III b sei nach Abschluß des Zusatz-TV in die Berufsgruppe III/2 übergeleitet worden. § 9 Ziff. 13 c Zusatz-TV sei nach wie vor in Kraft. Diese Vorschrift sei niemals außer Kraft gesetzt worden, sondern sei zeitweise durch den ATV 1979 und den ATV 1982 verdrängt worden. Der ATV 1979 und der ATV 1982 seien bloße Übergangsregelungen gewesen. Der ATV 1982 wirke nicht nach, da nach seinem Ablauf wieder § 9 Ziff. 13 c Zusatz-TV eingreife. Ein Außerkrafttreten des § 9 Ziff. 13 c Zusatz-TV sei den nach § 7 TVG zuständigen Behörden von den Tarifvertragsparteien nicht mitgeteilt worden.
Nach dem vom Kläger in Anspruch genommenen Multiplikator von 14,16 DM ergibt sich für die Monate Mai bis Juli 1983 eine Restlohnforderung in der rechnerisch unstreitigen Höhe von 672,54 DM brutto.
Der Kläger hat demgemäß beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger
672,54 DM brutto zuzüglich 4 % Zinsen seit
30. September 1983 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen, die Neuregelung der Multiplikatoren im ATV 1982 habe ältere tarifliche Regelungen abgelöst. Nach der Kündigung des ATV 1982 gelte dessen Multiplikatorenregelung kraft Nachwirkung weiter.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Klageantrag unter Beschränkung des Zinsanspruchs auf den Nettobetrag weiter. Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben die Klage mit Recht abgewiesen. Der Kläger kann von der Beklagten nicht die Zahlung von 672,54 DM verlangen. Denn die Beklagte hat im Klagezeitraum die Akkordstunden des Klägers mit dem zutreffenden Multiplikator von 13,20 DM abgerechnet. Dieser Multiplikator ergibt sich aus Ziff. II 1 des Tarifvertrags über Akkordangelegenheiten vom 6. Mai 1982 (ATV 1982), der den Multiplikator für den Akkordtarifvertrag für Betonierarbeiten für die Zeit ab 1. April 1982 ausdrücklich auf 13,20 DM festgesetzt hat. Nach der Kündigung des ATV 1982 zum 31. März 1983 galt der ATV 1982 im Klagezeitraum (Mai bis Juli 1983) kraft Nachwirkung weiter (§ 4 Abs. 5 TVG).
Entgegen der Auffassung des Klägers kann der Multiplikator für die von Mai bis Juli 1983 geleisteten Akkordstunden des Klägers nicht dem § 9 Ziff. 13 c Zusatz-TV entnommen werden. Nach dieser tariflichen Vorschrift sind zwar die ermittelten Gesamt- Akkordstunden mit dem jeweils geltenden Tarifstundenlohn des Betonbauers (III b) zu multiplizieren. § 9 Ziff. 13 c Zusatz-TV ist jedoch durch den Tarifvertrag über Akkordangelegenheiten im Berliner Baugewerbe vom 5. Juni 1979 (ATV 1979) außer Kraft gesetzt worden. Dies ist in dem ATV 1979 zwar nicht ausdrücklich festgelegt worden, folgt jedoch aus dem Gesamtzusammenhang der tariflichen Regelung und dem tariflichen Ablösungsprinzip. In Ziff. I 1 des ATV 1979 ist der Multiplikator für den Akkordtarifvertrag für Betonierarbeiten ab 1. Mai 1979 auf 94 % des Bundesecklohnes (Tariflohn der Gruppe III/2) festgesetzt worden. Ferner enthält Ziff. I 1 Regelungen über die Erhöhung des Multiplikators für die Jahre 1980 bis 1983, wobei bestimmt ist, daß spätestens am 1. Mai 1983 der Multiplikator auf 100 % des Bundesecklohnes (Gruppe III/2) angehoben wird. Der ATV 1979 war nach seiner Ziff. II erstmals zum 30. April 1984 kündbar. Damit enthält der ATV 1979 eine vollständige und abschließende Regelung des Multiplikators für Akkordstunden der Betonierer. Danach sind nach dem sogenannten Ablösungsprinzip (lex posterior derogat legi priori) ältere tarifliche Regelungen über den Multiplikator für Akkordstunden der Betonierer außer Kraft getreten. Das die gesamte Rechtsordnung und auch das Recht der Tarifverträge beherrschende Ablösungsprinzip besagt, daß grundsätzlich ein einen bestimmten Komplex insgesamt neu regelnder Tarifvertrag seinen Vorgänger auch ohne besondere Aufhebungsvereinbarung voll ersetzt (BAG Urteil vom 30. Januar 1985 - 4 AZR 117/83 -, zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen, mit weiteren Nachweisen). Regelt ein Tarifvertrag einen bestimmten Komplex, der nur Teil eines anderen Tarifvertrags ist, insgesamt neu, wird nur der entsprechende Teil des früheren Tarifvertrags voll ersetzt und damit außer Kraft gesetzt. Demgemäß ist durch Ziff. I 1 ATV 1979 auch nur § 9 Ziff. 13 c Zusatz-TV außer Kraft gesetzt worden, während die übrigen Bestimmungen des Zusatz-TV weitergelten.
Den Tarifvertragsparteien ist es zwar unbenommen, vom Ablösungsprinzip abweichende Vereinbarungen zu treffen. Im Interesse der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit bedürfen solche Abweichungen aber besonderer Bestimmtheit und Deutlichkeit (BAG Urteil vom 30. Januar 1985 - 4 AZR 117/83 -, zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen). Aus dem ATV 1979 ist kein Anhaltspunkt dafür zu entnehmen, daß § 9 Ziff. 13 c Zusatz-TV weitergelten oder jedenfalls nach Außerkrafttreten des ATV 1979 seinerseits wieder in Kraft treten soll. Der ATV 1979 ist auch nicht als Übergangslösung oder nur vorübergehend geltende Regelung angelegt. Dagegen spricht schon die vereinbarte lange Laufzeit mit einer erstmaligen Kündigungsmöglichkeit zum 30. April 1984. Es wäre zwar zur Vermeidung von Streitigkeiten zweckmäßig gewesen, wenn die Tarifvertragsparteien ausdrücklich bestimmt hätten, daß § 9 Ziff. 13 c Zusatz-TV mit Inkrafttreten des ATV 1979 außer Kraft tritt. Nach dem Ablösungsprinzip ist dies aber rechtlich nicht erforderlich. Nach dem Ablösungsprinzip ist im Gegenteil zu verlangen, daß Abweichungen von diesem Prinzip, die von den Tarifvertragsparteien gewollt sind, besonders deutlich ihren Niederschlag in der tariflichen Regelung finden. Insoweit ist es auch unerheblich, daß keine der Tarifvertragsparteien dem Tarifregister nach § 7 TVG das Außerkrafttreten des § 9 Ziff. 13 c Zusatz-TV angezeigt hat. Für das Unterlassen der Anzeige können viele Gründe in Betracht kommen, z. B. auch Unkenntnis der Rechtslage. Jedenfalls kann aus dem Unterlassen der Anzeige an das Tarifregister nicht mit hinreichender Deutlichkeit auf den übereinstimmenden Willen der Tarifvertragsparteien geschlossen werden, § 9 Ziff. 13 c Zusatz-TV solle entgegen dem Ablösungsprinzip weiter in Kraft bleiben oder wieder in Kraft treten, wenn der ATV 1979 außer Kraft tritt.
Der ATV 1979 wurde hinsichtlich des Multiplikators für die Akkordstunden der Betonierer durch die Protokollnotiz vom 8. April 1980 ergänzt. Danach wurde für die Zeit ab 1. Mai 1980 ein Multiplikator von 11,93 DM festgelegt, der damit nach dem Ablösungsprinzip den Multiplikator der Ziff. I 1 des ATV 1979 in Höhe von 10,93 DM ersetzte. Der ATV 1979 einschließlich seiner Protokollnotiz wurde dann durch Ziff. VI ATV 1982 ausdrücklich außer Kraft gesetzt. Der ATV 1982 setzte den Multiplikator für Akkordstunden der Betonierer ab 1. April 1982 auf 13,20 DM fest. Diese Regelung trat damit an die Stelle des ATV 1979 in der Fassung der Protokollnotiz vom 8. April 1980. Nach der Kündigung des ATV 1982 zum 31. März 1983 galten für die danach tariflose Zeit kraft gesetzlicher Anordnung die Vorschriften des ATV 1982 weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt wurden (§ 4 Abs. 5 TVG).
Der Kläger hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Revision zu tragen.
Dr. Neumann Dr. Feller Dr. Etzel
Gnade Engert
Fundstellen