Entscheidungsstichwort (Thema)
Tarifbegriff - öffentliches Ehrenamt
Leitsatz (redaktionell)
Die Tätigkeit im Prüfungsausschuß einer Industrie- und Handelskammer ist ein öffentliches Ehrenamt im Sinne des § 33 Abs 1 Nr 1 Buchst b MTL 2.
Normenkette
BAT § 52; IHKG § 3; BBiG § 37; VwVfG § 81; BBG § 5 Abs. 3; BRRG § 3 Abs. 2; VwVfG § 83 Abs. 1; BBG § 6 Abs. 2 Nr. 1; BRRG § 5 Abs. 2 Nr. 1; BBG § 65 Abs. 1 S. 2; MTL § 33 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b; MTL 2 § 33 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b
Verfahrensgang
LAG Niedersachsen (Entscheidung vom 27.07.1989; Aktenzeichen 10 Sa 513/89) |
ArbG Hannover (Entscheidung vom 13.01.1989; Aktenzeichen 10 Ca 445/88) |
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger für seine Tätigkeit im Prüfungsausschuß "Berufskraftfahrer" bei der Industrie- und Handelskammer H unter Fortzahlung des Lohns von der Arbeit freizustellen ist.
Der Kläger ist beim beklagten Land als Kraftfahrer beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft beiderseitiger Tarifbindung der Manteltarifvertrag für die Arbeiter der Länder (MTL II) Anwendung. § 33 MTL II lautet u.a.:
"(1) Der Arbeiter wird in den nachstehenden Fäl-
len, ... unter Fortzahlung des Lohnes, für
die Dauer der unumgänglich notwendigen Abwe-
senheit von der Arbeit freigestellt:
1. zur Erfüllung allgemeiner staatsbürgerli-
cher Pflichten nach deutschem Recht
a) ...
b) zur Ausübung öffentlicher Ehrenämter,
...
c) - f) ..."
Der Kläger ist als Beauftragter der Arbeitnehmer Mitglied dieses Prüfungsausschusses. Er wird acht- bis zehnmal im Jahr zu Abschlußprüfungen geladen. Das beklagte Land stellt ihn zwar für diese Zeiten von der Arbeit frei, weigert sich aber, den Lohn zu zahlen.
Der Kläger hat die Ansicht vertreten, das beklagte Land sei zur Zahlung der Vergütung verpflichtet. Dies folge daraus, daß die Freistellung von der Arbeit zur Ausübung eines öffentlichen Ehrenamtes im Sinne des § 33 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b MTL II erfolge. Darauf, ob diese Tätigkeit außerdem im Sinne von § 33 Abs. 1 Nr. 1 Obersatz MTL II zur Erfüllung allgemeiner staatsbürgerlicher Pflichten nach deutschem Recht ausgeübt werde, komme es nicht an.
Der Kläger hat beantragt
festzustellen, daß das beklagte Land verpflichtet
ist, ihn für die Zeit der Abwesenheit von der Ar-
beit zwecks Tätigkeit im Prüfungsausschuß "Be-
rufskraftfahrer" bei der Industrie- und Handels-
kammer H unter Fortzahlung des Lohns ab-
züglich erhaltenen Lohnersatzes freizustellen.
Das beklagte Land hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es hat gemeint, der Anspruch setze nach dem Tarifwortlaut voraus, daß das öffentliche Ehrenamt in Erfüllung einer allgemeinen staatsbürgerlichen Pflicht ausgeübt werde. Daran fehle es bei der Prüfertätigkeit. Sie sei eine spezielle und berufsbezogene Aufgabe. Außerdem sei es nicht Sache der Arbeitgeberseite, die Entgeltfortzahlung der von den Gewerkschaften benannten Beauftragten sicherzustellen.
Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben der Klage stattgegeben. Mit der Revision verfolgt das beklagte Land seinen Klageabweisungsantrag weiter. Der Kläger bittet um Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat keinen Erfolg. Zu Recht haben die Vorinstanzen der Klage stattgegeben.
I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Mitarbeit im Prüfungsausschuß der Industrie- und Handelskammer sei die Ausübung eines öffentlichen Ehrenamtes. Dies gelte auch für die als Beauftragte der Arbeitnehmer benannten und berufenen Mitglieder des Prüfungsausschusses. Auch komme es nicht darauf an, ob die Tätigkeit im Prüfungsausschuß außerdem als Erfüllung allgemeiner staatsbürgerlicher Pflichten nach deutschem Recht anzusehen sei. Der tarifliche Anspruch sei schon dann gegeben, wenn nur die Ausübung eines öffentlichen Ehrenamtes vorliege. Die in § 33 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a bis f MTL II genannten Fälle ergänzten den Obersatz dieser Vorschrift bzw. würden ihm ausdrücklich gleichgestellt.
Diese Ausführungen des Landesarbeitsgerichts sind rechtlich zutreffend. II. Der Kläger hat Anspruch auf bezahlte Freistellung für seine Tätigkeit im Prüfungsausschuß "Berufskraftfahrer" bei der Industrie- und Handelskammer H . Nach § 33 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b MTL II wird der Arbeiter unter Fortzahlung des Lohnes zur Ausübung öffentlicher Ehrenämter freigestellt. Der Kläger übt als Mitglied des Prüfungsausschusses ein öffentliches Ehrenamt aus.
1.a) Die Tarifvertragsparteien haben den Begriff "öffentliches Ehrenamt" nicht definiert.
Da sich aus dem Tarifwortlaut und aus anderen aus dem Tarifvertrag ersichtlichen Gründen nichts Gegenteiliges ergibt, ist davon auszugehen, daß dieser Begriff nach dem Willen der Tarifvertragsparteien in seiner allgemeinen rechtlichen Bedeutung angewendet werden soll (BAG Urteil vom 28. Januar 1977 - 5 AZR 145/76 - AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifverträge: Ziegelindustrie; BAG Urteil vom 9. Juli 1980 - 4 AZR 560/78 - AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Seeschiffahrt; BAGE 42, 272, 277 = AP Nr. 61 zu § 616 BGB und BAG Urteil vom 16. Januar 1985 - 7 AZR 226/82 - AP Nr. 10 zu § 33 BAT).
Ausübung eines öffentlichen Ehrenamtes ist zunächst eine Tätigkeit als Ehrenbeamter im Sinne des § 5 Abs. 3 BBG (§ 3 Abs. 2 BRRG und entsprechende landesrechtliche Vorschriften). Der Kläger ist jedoch nicht durch Aushändigung einer Ernennungsurkunde mit dem in § 6 Abs. 2 Nr. 1 BBG (§ 5 Abs. 2 Nr. 1 BRRG und entsprechende landesrechtliche Vorschriften) vorgeschriebenen Inhalt zum Ehrenbeamten ernannt, sondern gemäß § 37 Abs. 3 Satz 1 BBiG als Mitglied des Prüfungsausschusses berufen worden.
Allerdings ergibt die Auslegung des § 33 Abs. 1 Nr. 1 MTL II, daß die Regelung des Buchst. b auf Ehrenämter in dem genannten statusrechtlichen Sinne nicht beschränkt ist. Sinn und Zweck des § 33 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b MTL II sprechen gegen die Annahme, die Tarifvertragsparteien hätten darauf abgestellt, daß der Arbeiter ein Ehrenamt im statusrechtlichen Sinne ausübt. Denn bei einer solchen Auslegung wäre nicht zu erklären, warum die Tarifnorm die bezahlte Freistellung auf die Ausübung "öffentlicher" Ehrenämter beschränkt hat, zu denen Ehrenämter mit ausschließlich fiskalischen Aufgaben nicht gehören (vgl. dazu Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Bd. I, 8. Aufl., S. 322).
Erfordert somit § 33 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b MTL II nicht die Ausübung eines Ehrenamtes im statusrechtlichen Sinne, so liegt es nahe, für die Ausfüllung des Tarifbegriffs § 81 VwVfG heranzuziehen, der die ehrenamtliche Tätigkeit im Verwaltungsverfahren zum Gegenstand hat. Dort wird unter dem Begriff der ehrenamtlichen Tätigkeit jede unentgeltliche Mitwirkung bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben aufgrund behördlicher Bestellung außerhalb eines haupt- oder nebenberuflichen Dienstverhältnisses verstanden (vgl. Stelkens/Bonk/Leonhardt, Verwaltungsverfahrensgesetz, 3. Aufl., § 81 Rz 6). Damit übereinstimmend wird auch die durch § 65 Abs. 1 Satz 2 BBG aus dem beamtenrechtlichen Rechtsbegriff der Nebentätigkeit ausgenommene "Wahrnehmung öffentlicher Ehrenämter", die - ebenso wie der Tarifbegriff - nicht näher bestimmt ist, als eine Tätigkeit angesehen, die für eine juristische Person des öffentlichen Rechts im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Rechtsverhältnisses ohne Vergütung ausgeübt wird, wobei es darauf ankommt, daß die Tätigkeit durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes als öffentliches Ehrenamt ausgestaltet ist (vgl. Keymer/Kolbe/Braun, Das Nebentätigkeitsrecht in Bund und Ländern, Stand November 1988, § 65 BBG Rz 4). Es ist somit davon auszugehen, daß als öffentliches Ehrenamt im Sinne des § 33 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b MTL II neben einem Ehrenamt im statusrechtlichen Sinne auch eine ehrenamtliche Tätigkeit nach § 81 VwVfG zu verstehen ist.
b) Die Tätigkeit des Klägers als Mitglied des Prüfungsausschusses erfüllt die Voraussetzungen des so auszulegenden Tarifbegriffs.
Die Industrie- und Handelskammer ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts (§ 3 Abs. 1 IHK-Ges.). Der Prüfungsausschuß ist ihr Organ. Er nimmt innerhalb seiner gesetzlichen Zuständigkeit nach §§ 34 ff. BBiG öffentlich-rechtliche Aufgaben wahr und wird hoheitlich tätig. Dies gilt auch für den Kläger, der als Mitglied des Prüfungsausschusses an dessen Entscheidungen mitwirkt. Diese Tätigkeit übt der Kläger ehrenamtlich aus (§ 37 Abs. 4 BBiG), da er kein Entgelt im eigentlichen Sinne erhält, sondern nur eine Entschädigung für Zeitversäumnis und Auslagen.
Unerheblich für den tariflichen Anspruch ist, daß der Kläger dem Prüfungsausschuß als von der Gewerkschaft vorgeschlagener "Beauftragter der Arbeitnehmer" angehört (§ 37 Abs. 2 BBiG). Das folgt bereits aus dem Aufgaben- und Pflichtenstatus, den der Kläger durch die Berufung zum Mitglied des Prüfungsausschusses erlangt, und der es ausschließt, den Kläger als einen Interessenvertreter der Arbeitnehmerseite anzusehen. Voraussetzung für die Berufung sind Sachkunde und Eignung (§ 37 Abs. 1 Satz 2 BBiG). Dadurch soll gewährleistet werden, daß das Mitglied die Prüfung mit dem durch § 35 BBiG vorgeschriebenen Inhalt durchführt und seine Bindung an diese Rechtsgrundlage beachtet. Prüfer, die diesen Anforderungen nicht genügen, dürfen nicht berufen werden, auch dann nicht, wenn sie nach § 37 Abs. 3 Satz 2 BBiG vorgeschlagen sind. Berufene Mitglieder haben ihre Tätigkeit gewissenhaft und unparteiisch auszuüben (§ 83 Abs. 1 VwVfG). Da unterstellt werden muß, daß die Mitglieder des Prüfungsausschusses im Regelfall diesem Pflichtenstatus gerecht werden, können sie nicht mit der Begründung, sie seien Beauftragte der Arbeitnehmer, aus dem Regelungsbereich des § 33 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b MTL II ausgenommen werden.
2. Entgegen der Ansicht der Revision und eines Teils der Literatur (vgl. Scheuring/Steingen, MTB II, Stand 1. September 1991, § 33 Erl. 8 b; Clemens/Scheuring/Steingen/Wiese, BAT, Stand August 1991, § 52 Erl. 4; Böhm/Spiertz/Sponer/Steinherr, BAT, Stand Oktober 1991, § 52 Rz 18) setzt der Anspruch nicht voraus, daß das öffentliche Ehrenamt außerdem in Erfüllung allgemeiner staatsbürgerlicher Pflichten gemäß § 33 Abs. 1 Nr. 1 Obersatz MTL II wahrgenommen wird.
Der Revision ist zuzugeben, daß die Tätigkeit des Klägers als Mitglied des Prüfungsausschusses diese Voraussetzung nicht erfüllen würde. Allgemeine staatsbürgerliche Pflichten sind Pflichten, die jeder Staatsbürger zu erfüllen hat (vgl. BAG Urteil vom 9. März 1983 - 4 AZR 62/80 - AP Nr. 60 zu § 616 BGB). Die Ausübung eines öffentlichen Ehrenamtes als Mitglied des Prüfungsausschusses "Berufskraftfahrer" bei der Industrie- und Handelskammer erfüllt diese Voraussetzungen nicht. Diese Aufgabe kann nicht jeder Staatsbürger erfüllen. Vielmehr ist dazu Sachkunde und Eignung für die Mitwirkung im Prüfungswesen erforderlich (§ 37 Abs. 1 BBiG). Darüber hinaus muß das Mitglied grundsätzlich Beauftragter der Arbeitgeber oder Arbeitnehmer sein (§ 37 Abs. 2 und 5 BBiG). Aus dem Nichtvorliegen einer allgemeinen staatsbürgerlichen Pflicht kann jedoch nicht gefolgert werden, daß dem Kläger ein Anspruch auf bezahlte Freistellung nicht zusteht. Die Tarifvertragsparteien haben neben der Grundnorm des § 33 Abs. 1 Nr. 1 MTL II die besonderen Tatbestände (Buchstaben a bis f) geregelt. Aus dieser Tarifsystematik hat der Vierte Senat des Bundesarbeitsgerichts (vgl. Urteil vom 9. März 1983, aaO) bei Anwendung der in Aufbau und Wortlaut identischen Tarifbestimmung des § 52 BAT geschlossen, daß die Tarifvertragsparteien den Begriff der Erfüllung allgemeiner staatsbürgerlicher Pflichten durch die Untergliederungen a bis f erläutert und ergänzt haben. Dem folgt der erkennende Senat auch hinsichtlich der Regelung in § 33 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b MTL II. Daraus ergibt sich, daß es für die Frage, ob der Tarifbegriff "Ausübung eines öffentlichen Ehrenamtes" erfüllt ist, auf die Voraussetzungen des Obersatzes (Erfüllung allgemeiner staatsbürgerlicher Pflichten) nicht mehr ankommt.
Die Tarifvertragsparteien haben in § 33 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b MTL II einen bezahlten Freistellungsanspruch bei Ausübung eines öffentlichen Ehrenamtes gewährt. Damit haben sie diesen besonderen Tatbestand geregelt, der, wie die vorliegende Fallgestaltung zeigt, auch gegeben sein kann, wenn es nicht um die Erfüllung allgemeiner, sondern besonderer staatsbürgerlicher Pflichten geht. Die Tarifvertragsparteien haben dadurch die Grundnorm des § 33 Abs. 1 Nr. 1 Obersatz MTL II ergänzt und die besonderen staatsbürgerlichen Aufgaben den allgemeinen staatsbürgerlichen Pflichten ausdrücklich gleichgestellt. So sind sie auch in einem Teil der übrigen Regelungen (z.B. Buchstaben e und f) verfahren. Wenn die Tarifvertragsparteien einen Anspruch auf bezahlte Freistellung auf die Fälle der Erfüllung allgemeiner staatsbürgerlicher Pflichten hätten beschränken wollen, hätte die Grundnorm genügt. Die besonderen Tatbestände a bis f wären überflüssig gewesen und hätten ganz entfallen können (vgl. z.B. § 10 Ziff. 1 Buchst. a MTV-TÜV vom 11. Februar 1977). Auch folgt daraus, daß die Tarifvertragsparteien darauf verzichtet haben, die besonderen Tatbestände a bis f mit "insbesondere" oder "z.B." einzuleiten, daß sie die Grundnorm des § 33 Abs. 1 Nr. 1 MTL II durch die Nr. 1 Buchst. b nicht nur erläutert haben.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Dr. Peifer Dr. Jobs Dr. Armbrüster
Femppel Müller-Lücking
Fundstellen
Haufe-Index 440805 |
BAGE 69, 13-18 (LT1) |
BAGE, 13 |
BB 1992, 1140 |
BB 1992, 1140-1141 (LT1) |
DB 1992, 691-692 (LT1) |
EBE/BAG 1992, 47-48 (LT1) |
EzB BBiG § 37, Nr 32 (LT1) |
NZA 1992, 464 |
NZA 1992, 464-466 (LT1) |
RdA 1992, 157 |
ZAP, EN-Nr 391/92 (S) |
ZTR 1992, 203-204 (LT1) |
AP § 33 MTL II (LT1), Nr 3 |
AR-Blattei, ES 1550.9 Nr 70 (LT1) |
EzBAT § 52 BAT, Nr 17 (LT1) |
GdS-Zeitung 1992, Nr 9, 16 (KT) |
MDR 1992, 590-591 (LT1) |
PersR 1992, 474-476 (ST1-3) |
PersV 1996, 232 (L) |
ZfPR 1992, 83 (L) |