Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Leitsatz (amtlich)
Ein Rechtsanwalt handelt nicht schuldhaft im Sinne von § 85 Abs 2 und § 233 ZPO, wenn er im Einzelfall ausreichende Anweisungen erteilt hat, um den rechtzeitigen Eingang einer Berufungsbegründungsschrift beim Landesarbeitsgericht sicherzustellen.
- Er darf eine Auszubildende beauftragen, die korrigierte Fassung einer Berufungsbegründung noch am gleichen Tage einer ausgebildeten Rechtsanwalts- und Notargehilfin auszuhändigen, wenn die ausgebildete Gehilfin von dieser Anweisung weiß und sie zu überwache hat.
- Er darf eine ausgebildete Rechtsanwalts- und Notargehilfin, die sich als zuverlässig erwiesen hat, mit dem Einwurf einer Berufungsbegründung in den Briefkasten des Landesarbeitsgerichts beauftragen, wenn er die Gehilfin auf die Bedeutung der Frist hingewiesen hatte.
- Auf etwaige allgemeine Mängel bei der Postausgangskontrolle kommt es nicht an, wenn der Rechtsanwalt im Einzelfall zuverlässigen Bürokräften ausreichende Anweisungen für die Behandlung eines Schriftstücks erteilt hatte.
- Der Partei ist die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur dann zu versagen, wenn ein Verschulden von Bevollmächtigten (§ 85 Abs 2 ZPO) nicht ausgeschlossen werden kann. Ist Verschulden eines Bevollmächtigten auszuschließen, geht die Unaufklärbarkeit der Gründe für den verspäteten Zugang eines Schriftsatzes nicht zu Lasten der Partei.
Normenkette
ZPO §§ 233, 85 Abs. 2
Verfahrensgang
LAG Berlin (Urteil vom 18.04.1989; Aktenzeichen 3 Sa 2/89) |
ArbG Berlin (Urteil vom 28.11.1988; Aktenzeichen 5 Ca 202/88) |
Tenor
- Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 18. April 1989 – 3 Sa 2/89 – aufgehoben.
- Dem Kläger wird gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
- Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
- Der Kläger hat die Kosten der Revision und des Wiedereinsetzungsverfahrens zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Berechnung einer Betriebsrente.
Der Kläger war Arbeitnehmer der Beklagten. Er erhält seit dem 1. September 1987 eine monatliche Betriebsrente von 2.794,-- DM. Mit der Klage fordert er weitere 2.114,30 DM monatlich.
Das Arbeitsgericht hat die Klage mit den entsprechenden Zahlungsanträgen abgewiesen. In der Berufungsinstanz hat der Kläger die Berufungsbegründungsfrist versäumt. Die Frist lief am 28. Februar 1989 ab. Die Berufungsbegründung vom 27. Februar 1989 ging erst am 1. März 1989 beim Landesarbeitsgericht ein. Das Landesarbeitsgericht hat den Kläger auf die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist hingewiesen. Der Kläger hat mit dem am 15. März 1989 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz beantragt, ihm gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Das Landesarbeitsgericht hat die Wiedereinsetzung versagt. Es hat die Berufung des Klägers durch Urteil als unzulässig verworfen. Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Bundesarbeitsgericht nachträglich zugelassene Revision des Klägers.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet.
I. Die Begründung, mit der das Landesarbeitsgericht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt hat, überzeugt den Senat nicht. Nach § 233 ZPO ist einer Partei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn sie ohne ihr Verschulden verhindert war, die Frist zur Begründung einer Berufung einzuhalten. Dem Verschulden der Partei steht das Verschulden eines Bevollmächtigten gleich (§ 85 Abs. 2 ZPO).
1. Das Landesarbeitsgericht hat die Auffassung vertreten, ein Prozeßbevollmächtigter handele in jedem Falle schuldhaft, wenn er es an einer zuverlässigen und wirksamen allgemeinen Postausgangskontrolle fehlen lasse. Zwar muß ein gewissenhafter Rechtsanwalt sein Büro und die Arbeitsabläufe klar erkennbar und sachgerecht organisieren (Stein/Jonas/Schumann, ZPO, 20. Aufl., § 233 Rz 204, 215, m.w.N.). Auf etwaige fehlende allgemeine Organisationsvorkehrungen, insbesondere auf eine fehlende Postausgangskontrolle, kommt es jedoch dann nicht an, wenn ein Rechtsanwalt im Einzelfall ausreichende Anweisungen für die Behandlung eines einzelnen Schriftstücks an seine Bürokräfte erteilt hat (vgl. BAG Urteil vom 21. Juli 1975 – 5 AZR 150/75 – AP Nr. 70 zu § 233 ZPO, zu III 1 der Gründe; BAG Beschluß vom 8. Juni 1982 – 7 AZB 3/82 – AP Nr. 6 zu § 233 ZPO 1977, zu 3 der Gründe; BGH Beschluß vom 6. Februar 1985 – IVb ZB 141/84 – VersR 1985, 369 a.E.; BGH Beschluß vom 21. April 1988 – VII ZB 4/88 – VersR 1988, 942; BGH Beschluß vom 21. Juni 1988 – VI ZB 14/88 – NJW 1988, 2804).
2. Auch die weitere Begründung des Landesarbeitsgerichts, ein Rechtsanwalt handele schuldhaft, wenn er die Ausführung des Auftrags an eine Auszubildende nicht überprüfe und keine Gegenkontrolle einrichte, kann die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht rechtfertigen. Ein Rechtsanwalt darf einen Auszubildenden bei ausreichender Anweisung und Überprüfung mit der Versendung einer Rechtsmittelschrift beauftragen (BAG Beschluß vom 6. Juli 1972 – 2 AZR 213/72 – AP Nr. 61 zu § 233 ZPO, mit zustimmender Anm. von Schneider; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 46. Aufl., § 233 Anm. 4, Stichwort: Auszubildende). Im vorliegenden Fall wurde die Auszubildende angewiesen, den bereits unterschriebenen und korrigierten Schriftsatz einer Mitarbeiterin zu übergeben. Das ist ein einfacher Vorgang, der ohne große Vorkenntnisse erledigt werden kann. Zudem hat der Prozeßbevollmächtigte die Erledigung des Auftrages durch die ausgebildete Rechtsanwalts- und Notargehilfin, die weitere Mitarbeiterin, überwachen lassen. Er hat diese Mitarbeiterin beauftragt, sich den Schriftsatz von der auszubildenden Mitarbeiterin aushändigen zu lassen.
3. Schließlich hält auch die weitere und vorsorgliche Begründung des Berufungsgerichts einer rechtichen Nachprüfung nicht stand. Das Berufungsgericht meint, es müsse von einem Verschulden des Prozeßbevollmächtigten ausgehen, da sich das Büroversehen nicht aufklären lasse. Die Unaufklärbarkeit eines Sachverhaltes gehe zu Lasten der Partei, die sich darauf berufe.
Das ist nach Auffassung des Senats so nicht richtig. Verschulden des Büropersonals kann weder dem Prozeßbevollmächtigten noch der Partei zugerechnet werden, selbst wenn es sich um grobes oder vorsätzliches Verschulden handeln sollte. Die Zivilprozeßordnung kennt keine dem § 278 BGB (Haftung für das Verschulden von Erfüllungsgehilfen) entsprechende Vorschrift (BGH Urteil vom 24. Juni 1985 – II ZR 69/85 – VersR 1985, 1140; BGH Beschluß vom 26. Februar 1986 – VIII ZB 1/86 – VersR 1986, 702; vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 47. Aufl., § 233 Anm. 4 Stichwort: Rechtsanwalt-Angestellter; Zöller/Stephan, ZPO, 15. Aufl., § 233 Rz 19 f.; Stein/Jonas/Schumann, ZPO, 20. Aufl., § 233 Rz 34; Thomas/Putzo, ZPO, 15. Aufl., § 233 Anm. 4b).
Von diesen Grundsätzen ist der Bundesgerichtshof im Beschluß vom 4. Oktober 1982 (– II ZB 9/82 – VersR 1982, 1167) nicht abgewichen. In diesem Verfahren konnte zwar nicht aufgeklärt werden, warum die Berufung verspätet eingelegt worden war. Die Partei, die um Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Berufungsfrist nachgesucht hatte, hatte jedoch nicht darlegen können, daß die von ihr beauftragten Verkehrsanwälte kein Verschulden traf. Die Unaufklärbarkeit geht deshalb nur dann zu Lasten einer Partei, wenn die Möglichkeit eines Verschuldens der mit der Sache befaßten Prozeßbevollmächtigten oder der Verkehrsanwälte nicht ausgeräumt werden kann.
Danach muß die angefochtene Entscheidung aufgehoben werden.
II. Der Senat kann über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist abschließend zugunsten des Klägers entscheiden (vgl. BAGE 9, 215 = AP Nr. 30 zu § 233 ZPO; 24, 81, 83 = AP Nr. 59, aaO; BAG Urteil vom 21. Juli 1975 – 5 AZR 150/75 – AP Nr. 70 zu § 233 ZPO; Thomas/Putzo, ZPO, 15. Aufl., § 237 Stichwort: Ausnahmen, m.w.N.).
1. Der Kläger hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand form- und fristgerecht gestellt (§ 234 Abs. 1 und § 236 Abs. 1 und 2 ZPO). Der bereits am 15. März und damit rechtzeitig eingegangene Antrag enthält die Angabe der die Wiedereinsetzung begründenden Tatsachen.
2. Die vom Prozeßbevollmächtigten des Klägers vorgetragenen Tatsachen rechtfertigen die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hat ausreichende Vorkehrungen getroffen, um den fristgerechten Eingang des Schriftsatzes beim Landesarbeitsgericht zu gewährleisten. Es ist nicht zu beanstanden, wenn er zwei ansonsten zuverlässige Bürokräfte beauftragt, für die Versendung einer bestimmten Rechtsmittelschrift zu sorgen. Damit hatte er für den Einzelfall ausreichende Maßnahmen getroffen. Der Rechtsanwalt darf darauf vertrauen, daß seine Anweisungen von den Mitarbeitern befolgt werden, wenn er diese Mitarbeiter auf die Bedeutung des Fristablaufs hingewiesen hatte und wenn sich die Mitarbeiter bisher als zuverlässig erwiesen hatten (BAG Urteil vom 12. Januar 1966 – 1 AZB 32/65 – AP Nr. 44 zu § 233 ZPO; BGH Beschluß vom 6. Februar 1985 – IVb ZB 141/84 – VersR 1985, 369; Stein/Jonas/Schumann, ZPO, 20. Aufl., § 233 Rz 204, 241, m.w.N.). Nach den Anordnungen des Prozeßbevollmächtigten hatten sich die Mitarbeiterinnen gegenseitig zu überwachen. Anders als in der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 21. April 1988 (– VII ZB 4/88 – VersR 1988, 942) bestand nicht die Gefahr, daß sich eine Mitarbeiterin auf die andere verläßt. Im vorliegenden Fall mußten beide Mitarbeiterinnen aufeinander zugehen.
Auf die Rechtsanwalts- und Notargehilfin, die mit dem Einwurf des Schriftsatzes in den Briefkasten des Landesarbeitsgerichts beauftragt war, durfte sich der Prozeßbevollmächtigte des Klägers verlassen. Er hat die Mitarbeiterin auf die Bedeutung des Fristablaufs hingewiesen. Die Mitarbeiterin hatte sich bei der Besorgung der Post und des Zuganges von Schriftsätzen an die Arbeitsgerichte als zuverlässig erwiesen. Bei diesem Sachverhalt ist ein Verschulden des Prozeßbevollmächtigten selbst auszuschließen.
3. Die die Wiedereinsetzung begründenden Tatsachen hat der Kläger auch glaubhaft gemacht. Das Berufungsgericht hat die Richtigkeit der Behauptungen über Anweisungen und Kontrollen des Prozeßbevollmächtigten nicht angezweifelt. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hat die Richtigkeit der ihn selbst betreffenden Behauptungen anwaltlich versichert. Das steht einer eidesstattlichen Versicherung gleich.
Das Berufungsgericht hat allerdings Zweifel daran geäußert, ob der Schriftsatz auf dem Umweg über die allgemeine Briefannahmestelle der Justizbehörden in Berlin-Charlottenburg seinen Weg zum Landesarbeitsgericht gefunden hat. Diese Zweifel können auf sich beruhen. Es kommt darauf nicht an. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist dem Kläger schon dann zu gewähren, wenn weder ihn noch seinen Prozeßbevollmächtigten ein Verschulden trifft und dies glaubhaft gemacht wird. Auf etwaiges Verschulden des Büropersonals kommt es nicht an.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 238 Abs. 4 ZPO. Danach fallen die Kosten der Wiedereinsetzung dem Antragsteller zur Last, soweit sie nicht durch einen unbegründeten Widerspruch des Gegners entstanden sind. Zu diesen Kosten gehört auch die Revision, in der ausschließlich über die Begründetheit eines Wiedereinsetzungsantrages gestritten wird (vgl. BAGE 24, 75, 81 = AP Nr. 58 zu § 233 ZPO; BAG Urteil vom 21. Juli 1975 – 5 AZR 150/75 – AP Nr. 70 zu § 233 ZPO).
Unterschriften
Dr. Heither, Schaub, Griebeling, Kunze, Dr. Schwarze
Fundstellen
Haufe-Index 841020 |
NJW 1990, 2707 |