Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorruhestandsgeld im Beitrittsgebiet
Leitsatz (redaktionell)
Für einen Anspruch auf Vorruhestandsgeld nach der Verordnung der ehemaligen DDR über die Gewährung von Vorruhestandsgeld vom 8. Februar 1990 bedurfte es keiner Vereinbarung zwischen dem Werktätigen und dem Betrieb. Der Anspruch entstand, wenn der Werktätige die persönlichen, gesundheitlichen und betrieblichen Voraussetzungen erfüllte und einen entsprechenden Antrag gestellt hatte.
Hat ein Vorruheständler nach dem 3. Oktober 1990 bei der Bundesanstalt für Arbeit beantragt, Vorruhestandsgeld nach Maßgabe a der Nr 5 der Anl II Kap VIII Sachgeb E Abschn III des Einigungsvertrages zu zahlen, ist der bisherige Arbeitgeber von seinen Verpflichtungen zur Zahlung von Vorruhestandsgeld freigeworden.
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung von Vorruhestandsgeld.
Der 1929 geborene Kläger war vom 17. März 1960 bis 30. September 1990 bei der Beklagten beschäftigt. Am 27. September 1990 schlossen die Parteien eine Vereinbarung über die Gewährung von Vorruhestandsgeld "auf der Grundlage der Verordnung über die Gewährung von Vorruhestandsgeld vom 8.2.1990 (GBl. I, Nr. 7 S. 52 ≪richtig: S. 42≫) und der dazu erlassenen Durchführungsbestimmungen". Darin ist u. a. bestimmt:
"1. Das bisherige Arbeitsverhältnis zwischen
dem Arbeitnehmer und der Schwermaschinenbau
AG bei B wird zum 30.9.1990
aufgehoben.
2. Ausgehend von einem durchschnitt-
lichen monatlichen Nettolohn/
Nettogehalt von 1.498,82 DM
hat der Arbeitnehmer ab 1. Ok-
tober 1990 einen monatlichen
Anspruch auf Vorruhestandsgeld
in Höhe von 1.050,00 DM.
...
5. Das Vorruhestandsgeld wird neu berechnet,
wenn im Betrieb Lohnveränderungen gem. Pa-
ragraph 6 der 5. DB vom 7.3.1985 zur Ver-
ordnung über die Berechnung des Durch-
schnittsverdienstes und über die Lohnzah-
lung (GBl. I Nr. 10, S. 109) eintreten, die
für den Arbeitnehmer bei Fortsetzung seiner
Tätigkeit wirksam geworden wären."
Der Kläger beantragte später bei der Bundesanstalt für Arbeit Gewährung von Vorruhestandsgeld nach der Anl. II Kap. VIII Sachgebiet E Abschn. III Nr. 5 des Einigungsvertrages (EV). Diese Regelungen lauten:
5. Die Verordnung über die Gewährung von Vorruhe-
standsgeld vom 8. Februar 1990 (GBl. I Nr. 7
S. 42) gilt für Arbeitnehmer, die bis zum
Wirksamwerden des Beitritts die Voraussetzun-
gen dieser Verordnung erfüllen, weiter mit der
Maßgabe, daß
a) das Vorruhestandsgeld und die darauf ent-
sprechend den Vorschriften über das Ar-
beitslosengeld zu entrichtenden Sozialver-
sicherungsbeiträge auf Antrag von der Bun-
desanstalt für Arbeit aus Mitteln des Bun-
des gezahlt werden,
b) das Vorruhestandsgeld 65 v. H. des durch-
schnittlichen Nettoarbeitsentgelts der
letzten drei Monate beträgt,
c) die Höhe des Nettoarbeitsentgeltes nach
Buchstabe b) durch die für das in Artikel 3
des Vertrages genannte Gebiet geltende Be-
messungsgrenze in der Arbeitslosenversiche-
rung begrenzt wird,
d) §§ 112 a, 115 des Arbeitsförderungsgesetzes
vom 25. Juni 1969 (BGBl. I S. 582) entspre-
chend anzuwenden sind,
e) eine Neufestlegung des Vorruhestandsgeldes
nach Buchstabe b solange unterbleibt, bis
der nach Buchstabe b festzulegende Betrag
das vor dem Tag des Wirksamwerdens des Bei-
tritts zuletzt gezahlte Vorruhestandsgeld
übersteigt.
Danach erhielt der Kläger kein Vorruhestandsgeld mehr von der Beklagten, sondern nur noch von der Bundesanstalt für Arbeit. Das Vorruhestandsgeld betrug seit dem 1. April 1991 1.122,00 DM, in der Zeit vom 1. Januar 1992 bis 30. Juni 1992 1.442,00 DM und ab 1. Juli 1992 mehr als 1.598,91 DM.
Im Betrieb der Beklagten war nach dem Ausscheiden des Klägers ein zwischen dem Verband der Metall- und Elektroindustrie in Berlin und Brandenburg e. V. und der Industriegewerkschaft Metall abgeschlossener Gehaltstarifvertrag vom 27. November 1990 anzuwenden. Danach ist der Nachfolger des Klägers in die Gehaltsgruppe G 5, Stufe 2 mit Gruppenleiterzuschlag eingestuft worden.
Der Kläger hat gemeint, die Beklagte sei Schuldner seines vertraglichen Anspruchs i. H. von 70 % seines monatlichen Nettoarbeitsentgelts geblieben. Die Zahlung der Bundesanstalt für Arbeit sei als Leistung eines Dritten auf seinen Anspruch lediglich anzurechnen. Die im Betrieb der Beklagten eingetretenen tariflichen Lohnerhöhungen seien zu seinen Gunsten zu berücksichtigen. Die Beklagte schulde ihm Vorruhestandsgeld unter Berücksichtigung der hypothetischen Einstufung, die nach G 5 Stufe 2 des Gehaltstarifvertrages vom 27. November 1990 vorzunehmen gewesen wäre, wenn er weiter gearbeitet hätte. Ab April 1991 hätte er einen Nettogehaltsanspruch von 1.915,48 DM und ab 1. April 1992 von 2.284,13 DM gehabt.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 1.969,47 DM
nebst 4 % Zinsen aus 875,32 DM seit Rechtshängig-
keit der Klage sowie weiteren 4 % Zinsen aus
einem Betrag von 218,83 DM jeweils seit dem
1. September 1991, 1. Oktober 1991, 1. November
1991, 1. Dezember 1991, 1. Januar 1992 zu zahlen
und klageerweiternd im Wege der Anschlußberufung
die Beklagte zu verurteilen, an ihn weitere
156,89 DM netto nebst 4 % Zinsen seit dem 1. Mai
1992,
156,89 DM netto nebst 4 % Zinsen seit dem 1. Juni
1992,
156,89 DM netto nebst 4 % Zinsen seit dem 1. Juli
1992 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat sie abgewiesen und die Anschlußberufung zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Revision, mit der er seine vorinstanzlichen Klageziele weiterverfolgt. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinerlei Ansprüche auf Zahlung von Vorruhestandsgeld.
I. Der Kläger hat gegen die Beklagte ab 1. Oktober 1990 einen Anspruch auf Zahlung von Vorruhestandsgeld erworben. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen und der Revision beruhte dieser Anspruch allerdings nicht auf einer schuldrechtlichen Vereinbarung der Parteien.
1. Die Verordnung über die Gewährung von Vorruhestandsgeld vom 8. Februar 1990 (GBl. I S. 42) sah bis zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland für die Begründung des Anspruchs keine Vereinbarung des Werktätigen mit seinem Betrieb vor. Erfüllte er die persönlichen, gesundheitlichen und betrieblichen Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 VO, so mußte er lediglich einen Antrag an seinen Betrieb richten, um den Anspruch auf Vorruhestandsgeld entstehen zu lassen, § 2 Abs. 2 Satz 1 VO. Die Rechtslage war vergleichbar mit der Rechtslage nach dem Tarifvertrag über den Vorruhestand im Baugewerbe (VRTV-Bau) in der bis zum 14. November 1988 geltenden Fassung. Auch dort entstand der Anspruch, wenn der Arbeitnehmer bestimmte versicherungsrechtliche Voraussetzungen erfüllt und den Beginn des Vorruhestandes beim Arbeitgeber schriftlich beantragt hatte, § 2 Abs. 1, § 4 Abs. 1 bis 4 VRTV-Bau. Eine das Vorruhestandsverhältnis begründende schriftliche Vereinbarung der Arbeitsvertragsparteien war in keinem Fall vorgesehen (Senatsurteil vom 28. Juli 1992 - 9 AZR 509/90 - AP Nr. 14 zu § 2 VRG auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen; Senatsurteil vom 15. Juni 1993 - 9 AZR 102/92 - ZIP 1993, 1480).
2. Angesichts dessen kommt der "Vereinbarung" des Klägers mit der Beklagten für das Entstehen des Anspruchs auf Vorruhestandsgeld keine konstitutive Bedeutung zu. Sie stellt vielmehr nur den schriftlich festgehaltenen Antrag des Klägers nach § 2 Abs. 2 Satz 1 VO dar und enthält daneben u. a. die Klarstellung über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses, die Berechnung des Vorruhestandsgeldes und den Hinweis auf die Dynamisierung. Das hat die Revision verkannt. Sie geht zu Unrecht ohne weiteres davon aus, daß dem ursprünglichen Anspruch des Klägers eine schuldrechtliche Vereinbarung zugrunde liegt, wie die Umschreibung des Streits zu Beginn der Revisionsbegründung und deren weiterer Inhalt zeigt.
Der "Vereinbarung" der Parteien kann auch nicht eine zweite von den Voraussetzungen der Verordnung unabhängige Schuldverpflichtung der Beklagten entnommen werden. Die Auslegung des Landesarbeitsgerichts, der Text spiegele wieder, daß sich die Ansprüche und Verpflichtungen der Parteien aus dieser Vereinbarung vom 27. September 1990 nur nach der Verordnung und ihren Durchführungsbestimmungen richteten, darüber hinaus aber keine von dem Inhalt der Verordnung abweichende oder darüber hinausgehende Verpflichtung eingegangen werden sollte, ist angesichts des eindeutigen Wortlauts zutreffend. Hiergegen wendet sich der Kläger auch nicht.
II. Mit den Inkrafttreten des Einigungsvertrages ist die das Vorruhestandsverhältnis regelnde normative Rechtsgrundlage der DDR nicht aufgehoben worden. Sie gilt vielmehr für Arbeitnehmer, die bis zum Wirksamwerden des Beitritts die Voraussetzungen der Verordnung erfüllen, mit den fünf Maßgaben der Buchst. a) bis e) der Anl. II Kap. VIII Sachgeb. E Abschn. III Nr. 5 des EV weiter.
1. Das hat zunächst zur Folge, daß für die Arbeitnehmer, die nach dem 3. Oktober 1990 im Beitrittsgebiet in den Vorruhestand gehen wollten und schon vorher die Voraussetzungen dafür erfüllt hatten, nicht die Bestimmungen des Vorruhestandsgesetzes vom 13. April 1984 (BGBl. I S. 601) anzuwenden waren, sondern weiter die durch den Einigungsvertrag modifizierten Bestimmungen der Verordnung vom 8. Februar 1990.
2. Auch für die bereits im Vorruhestand befindlichen ehemaligen Arbeitnehmer ermöglichen die Bestimmungen des Einigungsvertrages, auf Antrag das Vorruhestandsgeld von der Bundesanstalt für Arbeit zu beziehen. In diesem Fall tritt ein gesetzlich vorgesehener Schuldnerwechsel ein. An die Stelle eines arbeitsrechtlichen Anspruchs tritt ein sozialrechtlicher Anspruch (BSG Urteile vom 1. Juni 1994 - 7 RAr 14/94 -, - 7 RAr 48/93 - und - 7 RAr 118/93 - zur Veröffentlichung bestimmt). Der nach den Bestimmungen der Verordnung vom 8. Februar 1990 begründete Anspruch des Arbeitnehmers gegen seinen früheren Arbeitgeber geht unter (BSG Urteil vom 1. Juni 1994 - 7 RAr 14/94 -). Der bisherige arbeitsrechtliche Schuldner wird von seinen Leistungspflichten frei. So verhielt es sich im Fall des Klägers, der von der Möglichkeit des EV Gebrauch gemacht hat. Entsprechend sind nachfolgende Änderungen im Vergütungsgefüge der Arbeitnehmer seines ehemaligen Arbeitgebers ohne Bedeutung. Inwieweit sie auf den sozialrechtlichen Anspruch des Klägers Einfluß haben, obliegt nicht der Beurteilung durch die Gerichte für Arbeitssachen, sondern der Bewertung durch die Sozialgerichte.
3. Auf die Rechtsausführungen der Revision über eine statische oder eine dynamische Verweisung in einer "Vorruhestandsvereinbarung" kommt es daher nicht an.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Dr. Leinemann Düwell Dörner
Hans Volpp Dr. Michels
Fundstellen
Haufe-Index 441764 |
BAGE 00, 00 |
BAGE, 303 |
BB 1994, 1640 |
BB 1995, 98 |
BB 1995, 98-99 (LT1) |
DB 1995, 636 (LT1) |
NZA 1995, 790 |
NZA 1995, 790-791 (LT1) |
ZAP-Ost, EN-Nr 101/95 (L) |
AP § 1 TVG Vorruhestand (LT1), Nr 21 |
AR-Blattei, ES 1750 Nr 19 (LT1) |
NJ 1995, 168 (L) |
RAnB 1995, 127 (L) |