Entscheidungsstichwort (Thema)
Lohnfortzahlung bei Arztbesuch
Normenkette
BGB § 616 Abs. 1
Verfahrensgang
LAG München (Urteil vom 15.01.1990; Aktenzeichen 9 (10) Sa 683/89) |
ArbG München (Urteil vom 16.05.1989; Aktenzeichen 19 Ca 4104/88) |
Tenor
1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgericht München vom 15. Januar 1990 – 9 (10) Sa 683/89 – wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob der Klägerin für die infolge eines Arztbesuches am 3. Dezember 1987 versäumte Arbeitszeit von zwei Stunden und 6 Minuten Anspruch auf Fortzahlung ihrer Vergütung zusteht.
Die Klägerin ist seit 1960 bei der Beklagten als Buchhalterin beschäftigt. Sie ist Betriebsratsvorsitzende. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft organisationszugehörigkeit der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer der obst- und gemüseverarbeitenden Industrie vom 17. Mai 1982 (MTV) Anwendung. Unter Nr. 14 dieses Tarifvertrages ist unter der Überschrift „Entschädigungspflichtige Arbeitsversäumnis”, soweit es hier interessiert, folgendes bestimmt:
„Arbeitsverhinderung im Sinne des § 616 BGB wird wie folgt anerkannt:
…
14.2 |
Beim Aufsuchen eines Arztes, wenn dies während der Arbeitszeit erfolgen muß … für die notwendige Arbeitsversäumnis |
… |
14.16 |
Der Arbeitnehmer hat rechtzeitig um Arbeitsbefreiung in den vorstehenden Fällen nachzusuchen. Ist dieses nicht möglich, so ist unverzüglich nach der Arbeitsversäumnis der Grund der Arbeitsverhinderung anzugeben und nachzuweisen. Bei Arbeitsverhinderung infolge Krankheit finden die gesetzlichen Bestimmungen Anwendung.” |
Die Klägerin hatte einige Tage vor dem 3. Dezember 1987 von der für diesen Tag vorgesehenen ärztlichen Untersuchung ihren Vorgesetzten, den Personalchef der Beklagten, unterrichtet; dieser hatte gegen den vorgesehenen Arztbesuch nichts einzuwenden.
Nach der erfolgten ärztlichen Untersuchung forderte die Entgeltabrechnungsstelle der Beklagten von der Klägerin einen Nachweis darüber, daß dieser Arztbesuch tatsächlich während der Arbeitszeit erfolgen mußte. Hierzu hielt sich die Klägerin unter Hinweis auf Ziffer 14.16 des Manteltarifvertrages für nicht verpflichtet. Daraufhin wurden der Klägerin von der Dezembervergütung 37,78 DM brutto als Entgelt für zwei Stunden und 6 Minuten abgezogen. Die Klägerin hat dies für unberechtigt gehalten und verfolgt den Anspruch auf Zahlung des Kürzungsbetrages im vorliegenden Verfahren. Sie hat die Ansicht vertreten, nach dem Manteltarifvertrag habe ihr nur obgelegen, um Dienstbefreiung nachzusuchen. Das habe sie getan, und die Dienstbefreiung sei ihr auch gewährt worden. Nachträglich könne die Beklagte einen Nachweis nicht mehr fordern.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 37,78 DM brutto nebst 4 % Zinsen seit dem 1. Januar 1988 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, die tariflichen Bestimmungen änderten nichts daran, daß der Arbeitnehmer entsprechend der gesetzlichen Regelung in § 616 BGB den Grund der Verhinderung nachweisen müsse. Der Klägerin sei auch bekannt gewesen, daß die Überprüfung, ob eine entschädigungspflichtige Arbeitsversäumnis im Einzelfall vorliege, von der Entgeltabrechung vorgenommen werde.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Klägerin deren Klagebegehren entsprochen. Mit ihrer Revision erstrebt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage zu Recht mit zutreffenden Erwägungen für begründet angesehen.
1.a) Das Landesarbeitsgericht ist davon ausgegangen, daß der Anspruch sich aus § 616 Abs. 1 BGB in Verb. mit den Bestimmungen in Ziffer 14 des Manteltarifvertrages vom 17. Mai 1982 ergibt. Mit den tariflichen Bestimmungen haben die Tarifvertragsparteien zunächst nur die Vorschrift des § 616 Abs. 1 BGB insofern konkretisiert, als sie die Fälle näher beschrieben haben, in denen davon auszugehen ist, daß der zur Dienstleistung Verpflichtete für eine verhältnismäßig nicht erhebliche Zeit durch einen in seiner Person liegenden Grund ohne sein Verschulden an der Dienstleistung verhindert ist. Nach Wortlaut und Sinn des Tarifvertrages kann daher nicht davon ausgegangen werden, daß – was zulässig gewesen wäre – § 616 Abs. 1 BGB durch tarifliche Bestimmungen abbedungen und ersetzt wurde. Auch das Landesarbeitsgericht hat entgegen der Ansicht der Revision nicht angenommen, daß § 616 BGB abbedungen worden sei. Denn in dem angefochtenen Urteil ist an zwei Stellen ausgeführt, daß die Arbeitsverhinderung nach allgemeinen Grundsätzen nachzuweisen sei, wenn der Arbeitgeber dies bei rechtzeitigem Nachsuchen der Arbeitsbefreiung verlange.
b) Zu den in Ziffer 14 des Manteltarifvertrages genannten Verhinderungsfällen gehört das Aufsuchen eines Arztes, wenn dies während der Arbeitszeit erfolgen muß. Die Klägerin hat geltend gemacht, daß diese Voraussetzungen vorlagen. Von der Beklagten ist dies nicht bestritten worden, noch hat das Landesarbeitsgericht festgestellt, daß die genannte tarifliche Voraussetzung für eine Entschädigungspflicht der Arbeitsversäumnis nicht vorgelegen hat.
2. Dem Landesarbeitsgericht ist darin zu folgen, daß die Klägerin die für die Vergütungspflicht erforderlichen Schritte unternommen hatte, indem sie vor dem Arztbesuch den Personalleiter der Beklagten um Arbeitsbefreiung aus dem genannten Anlaß gebeten und diese erhalten hatte. Entgegen der Ansicht der Beklagten war die Klägerin unter den gegebenen Umständen nicht verpflichtet, nach dem Arztbesuch gegenüber der Entgeltberechnungsstelle nachzuweisen, daß der Arztbesuch während der Arbeitszeit erforderlich war.
a) Der Manteltarifvertrag enthält in Ziffer 14.16 eine Regelung darüber, welche Verpflichtungen dem Arbeitnehmer für die Freistellung von der Arbeitsleistung in den in den Ziffern 14.1 bis 14.15 genannten Verhinderungsfällen obliegen. Satz 1 schreibt vor, daß der Arbeitnehmer rechtzeitig um Befreiung nachzusuchen hat. In Satz 2 ist vorgesehen, daß, wenn der Arbeitnehmer nicht vor dem Ereignis um Befreiung nachsuchen kann, er unverzüglich nach der Arbeitsversäumnis den Grund der Arbeitsverhinderung anzugeben und nachzuweisen hat. Aus dieser Regelung hat das Landesarbeitsgericht mit Recht gefolgert, daß die Nachweispflicht dem Arbeitnehmer von vornherein nur obliegt, wenn er nicht zuvor um Arbeitsbefreiung nachsuchen konnte. Soweit der Arbeitnehmer vor dem Verhinderungsfall um die Arbeitsbefreiung nachsucht, hat er dabei nicht ohne weiteres einen Nachweis für das Vorliegen des Verhinderungsfalles mitzuliefern. Vielmehr hat bei solcher Anzeige der Arbeitgeber zu prüfen und zu entscheiden, ob er aufgrund der Mitteilung die Arbeitsbefreiung gewährt. Geschieht dies, so geht die geschehene Arbeitsfreistellung einher mit dem Anspruch auf Vergütung für die Arbeitsversäumnis. Entgegen der Ansicht der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht aber bei rechtzeitiger Mitteilung von dem Verhinderungsfall dem Arbeitgeber nicht die Möglichkeit abgeschnitten, bei Zweifel an dem Vorliegen des Verhinderungsfalles von dem Arbeitnehmer entsprechende Nachweise zu verlangen.
b) Die vom Landesarbeitsgericht vorgenommene Auslegung der tariflichen Regelung ist auch sinnvoll: Bei rechtzeitiger Mitteilung kann der Arbeitgeber abwägen, ob er die Voraussetzungen für die Arbeitsbefreiung für gegeben ansehen will. In einer Reihe der im Manteltarifvertrag aufgeführten Verhinderungsfälle (etwa Aufsuchen des Arztes nach Arbeitsunfall, Aufsuchen einer Arbeitsstelle nach Kündigung, Arbeitsjubiläum) ist es dem Arbeitgeber ohne weiteres möglich, zu beurteilen, ob der Verhinderungsfall vorliegt. In diesen Fällen noch besondere Nachweise von dem Arbeitnehmer zu erwarten, wäre entbehrlicher und überflüssiger Formalismus. Die Tarifvertragsparteien sind aber ersichtlich davon ausgegangen, daß auch in anderen Fällen die bloße Mitteilung durch den Arbeitnehmer ausreichen kann, um dem Arbeitgeber zu ermöglichen, über die Arbeitsbefreiung zu entscheiden. Jedenfalls ist ihm durch den Tarifvertrag und die vom Landesarbeitsgericht vorgenommene Auslegung nicht die Möglichkeit abgeschnitten, im Einzel fall auch bei vorheriger Unterrichtung durch den Arbeitnehmer einen Nachweis darüber zu verlangen, ob die Voraussetzung für die Arbeitsbefreiung vorliegt.
Nur wenn der Arbeitnehmer sich erst nachträglich auf eine Arbeitsversäumnis aus einem der in Ziffer 14 genannten Gründe beruft, verlangt der Tarifvertrag auch den unbedingten Nachweis darüber, daß die Arbeitsverhinderung vorgelegen hat. Das ist verständlich, weil zunächst der Arbeitgeber grundsätzlich von einem unentschuldigten Fernbleiben des Arbeitnehmers ausgehen mußte und deshalb von dem Arbeitnehmer zu erwarten ist, daß er ohne besondere Aufforderung nachweist, daß ein Fall der Arbeitsverhinderung im Sinne des Tarifvertrages vorgelegen hat.
c) Mit dieser Wertung über die Auslegung des Tarifvertrages durch das Landesarbeitsgericht befindet sich der Senat in Übereinstimmung mit seiner in der Entscheidung vom 24. Juni 1990 – 5 AZR 314/89 –, wenn auch zu einem anderen Tarifvertrag, vertretenen Auffassung. Der dort zu beurteilende Tarifvertrag enthielt zur Verdienstfortzahlung in seinem § 10 Nr. 1 folgende Regelung:
„Ist der Arbeitnehmer durch Krankheit oder sonstige unvorhergesehene Ereignisse an der Arbeitsleistung verhindert, so ist dem Arbeitgeber unverzüglich unter Angabe von Gründen Mitteilung zu machen. Seine Nachweispflicht bleibt davon unberührt.”
Hierzu hat der Senat ausgeführt, aus Satz 2 der vorgenannten Bestimmung folge eine Nachweispflicht, wenn beim Arbeitgeber nach der zunächst nur erforderlichen Mitteilung Zweifel bestehen, ob der angegebene Verhinderungsfall vorliegt. Obgleich der vorliegende Tarifvertrag im Zusammenhang mit der Mitteilung vom Verhinderungsfall vor seinem Eintritt keine Aussage zu einer allgemeinen Nachweispflicht enthält, hat das Landesarbeitsgericht jedoch eine solche mit Recht für den Fall bejaht, daß beim Arbeitgeber Zweifel am Vorliegen des Verhinderungsfalles bestehen und er deshalb zunächst die Arbeitsbefreiung nicht erteilen kann und will.
d) Hier hat der Personalchef der Beklagten nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts sich mit dem Fernbleiben der Klägerin am 3. Dezember wegen eines Arztbesuches einverstanden erklärt. Damit war die Klägerin von der Arbeitspflicht an diesem Tage aus dem genannten Grunde befreit. Die Arbeitsversäumnis war nach der tariflichen Regelung in Ziffer 14 entschädigungspflichtig.
III. Soweit die Beklagte sich darauf beruft, sie habe generell verlangt, daß auch bei rechtzeitiger Arbeitsbefreiung gegenüber ihrer Entgeltberechnungsstelle das Vorliegen des Verhinderungsgrundes nachgewiesen werde, steht das dem Klageanspruch nicht entgegen. Mit dieser Regelung wären die Arbeitnehmer gegenüber dem Tarifvertrag schlechter gestellt worden. Nach dem Tarifvertrag war bei Freistellung vor dem Verhinderungsfall von dem Arbeitnehmer nicht auch ohne besondere Anforderung ein Nachweis über den Verhinderungsfall zu erbringen. Letzteres ist nach Ziffer 14.16 nur bei nachträglicher Entschuldigung erforderlich. Das Verlangen der Beklagten stellte deshalb eine ungünstigere Regelung gegenüber dem dar, was nach dem Tarifvertrag erforderlich ist. Nach § 4 Abs. 3 TVG ist die den Arbeitnehmer gegenüber dem Tarifvertrag benachteiligende vertragliche Regelung unwirksam.
Unterschriften
Dr. Thomas, Dr. Gehring, Dr. Olderog, Werner, Dr. Hirt
Fundstellen