Entscheidungsstichwort (Thema)
Lohnfortzahlung bei Alkoholabhängigkeit. Rückfall
Orientierungssatz
1. Gegen den grundsätzlich begründeten Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts, den der aufgrund Alkoholabhängigkeit arbeitsunfähig erkrankte Arbeitnehmer hat, kann der Arbeitgeber einwenden, der Arbeitnehmer habe sich die Krankheit schuldhaft zugezogen. Das Verschulden muß der Arbeitgeber beweisen. Der Arbeitnehmer ist zur Mithilfe bei der Aufklärung aller Umstände verpflichtet, die zu seiner Alkoholabhängigkeit geführt haben (Bestätigung BAG vom 1.6.1983, 5 AZR 536/80 = AP Nr 52 zu § 1 LohnFG).
2. Bei Rügen nach § 286 ZPO muß nach Beweisthema und Beweismittel angegeben werden, zu welchem Punkt das Landesarbeitsgericht zu Unrecht eine Beweisaufnahme unterlassen haben soll. Bei umfangreichen Schriftsätzen ist die vorinstanzliche Fundstelle der Beweisanträge nach Seitenzahl genau anzugeben (Bestätigung BAG vom 8.3.1962, 2 AZR 497/61 = AP Nr 22 zu § 620 BGB Befristeter Arbeitsvertrag).
Normenkette
SGB X § 115 Abs. 1; LFZG § 1 Abs. 1 S. 1; ZPO § 286 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin aus übergegangenem Recht (§ 115 Abs. 1 SGB X) Lohnfortzahlung schuldet.
Bei der Beklagten war seit dem 14. März 1984 der am 24. September 1955 geborene Arbeitnehmer E S (im folgenden: der Versicherte) als Kraftfahrer beschäftigt. Der Versicherte war in der Zeit vom 2. Mai bis zum 14. Juni 1984 arbeitsunfähig krank. Die Erkrankung war zurückzuführen auf übermäßigen Alkoholkonsum (Alkoholintoxikation). Bis zum 11. Mai 1984 wurde der Versicherte stationär behandelt, anschließend wurde eine Langzeittherapie wegen "beginnender Alkoholkrankheit" eingeleitet. Da die Beklagte die Lohnfortzahlung verweigerte, gewährte die Klägerin dem Versicherten für die Dauer von sechs Wochen Krankengeld in Höhe von insgesamt 2.417,50 DM. Wegen dieses Betrages nimmt die Klägerin die Beklagte in Anspruch.
Der Versicherte wurde am 5. Februar 1982 von den Internisten Dr. med. N G "wegen eines chronischen Alkoholismus" ambulant behandelt. Am 20. Dezember 1982 suchte er erstmals die Beratungs- und Behandlungsstelle für Suchtkranke des Caritasverbandes auf. In der Zeit vom 4. bis zum 20. Januar 1983 befand sich der Versicherte in stationärer Behandlung des Internisten Dr. med. N G im St. Rochus-Krankenhaus in D. Es wurde eine Alkoholentgiftungsbehandlung (medikamentöser Alkoholentzug) "bei chronischem Alkoholismus" durchgeführt. Die Schlußdiagnose der Entlassungsnachricht des Krankenhauses gibt an: "O.B.".
Durch schriftliche Erklärung vom 24. August 1984 hat der Versicherte die Klägerin von der Schweigepflicht "bezüglich der Erkrankung vom 2. Mai 1984" entbunden.
Die Klägerin hat vorgetragen, die seit dem 2. Mai 1984 bestehende krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit des Versicherten sei nicht verschuldet. Sie sei darauf zurückzuführen, daß bei dem Versicherten eine krankhafte Alkoholabhängigkeit vorliege. Bei dem Versicherten bestehe eine körperliche und psychische Abhängigkeit vom Alkohol, die es ihm nicht mehr erlaube, aus eigener Willensanstrengung vom Alkohol loszukommen.
Die Klägerin hat daher beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 2.417,10 DM
nebst 4 % Zinsen seit dem 15. August 1985 zu
zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat bestritten, daß beim Versicherten eine Erkrankung durch chronischen Alkoholismus vorgelegen habe. Nach der Entgiftungsbehandlung im St. Rochus-Krankenhaus sei der Versicherte offensichtlich von seiner Trunksucht geheilt gewesen. Anschließend sei bei ihm auch kein weiterer übermäßiger Alkoholgenuß beobachtet worden. Er habe seine Arbeit als Kraftfahrer ohne Beanstandung erledigt. Die ab 2. Mai 1984 eingetretene Erkrankung beruhe auf einem selbstverschuldeten einmaligen Alkoholexzess.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Dagegen richtet sich die Revision, mit der die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils erstrebt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Es läßt sich gegenwärtig noch nicht abschließend beurteilen, ob dem Versicherten für die Zeit vom 2. Mai bis zum 12. Juni 1984 ein Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle zustand. Die Sache bedarf näherer Aufklärung. Dazu ist die Zurückverweisung an die Vorinstanz erforderlich.
I. 1. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 LFZG behält der Arbeiter den Anspruch auf Arbeitsentgelt bis zur jeweiligen Dauer von sechs Wochen, wenn er seine Arbeitsleistung infolge unverschuldeter Krankheit nicht erbringen kann. Entsprechendes gilt für Angestellte, die Anspruch auf Gehaltsfortzahlung im Krankheitsfalle nach § 616 Abs. 1 Satz 1 BGB, § 63 Abs. 1 Satz 1 HGB oder § 133 c Satz 1 GewO haben. "Schuldhaft" im Sinne dieser Entgeltfortzahlungsbestimmungen handelt der Arbeitnehmer, der in erheblichem Maße gegen die von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse zu erwartende Verhaltensweise verstößt (vgl. statt vieler BAGE 43, 54, 58 = AP Nr. 52 zu § 1 LohnFG, zu I 3 a der Gründe; ferner die zur Veröffentlichung bestimmte Entscheidung des Senats vom 11. November 1987 - 5 AZR 497/86 -, zu I 1 der Gründe, DB 1988, 402; BB 1988, 407).
2. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, bei dem Versicherten liege ein chronischer Alkoholismus mit Krankheitswert vor. Die erfolgreiche Entgiftungsbehandlung und die Entlassung aus dem Krankenhaus mit der Schlußdiagnose "ohne Befund" bedeuteten nicht, daß der Versicherte damals als vom Alkoholismus geheilt habe angesehen werden können. Er sei daher vom 2. Mai 1984 ab aufgrund seines erneuten Alkoholmißbrauchs unverschuldet arbeitsunfähig krank gewesen.
Die dem Arbeitnehmer bei Arbeitsunfähigkeit wegen Alkoholabhängigkeit obliegende Mitwirkungspflicht bei der Aufklärung der Umstände, die zu seiner Erkrankung geführt haben, sei darauf zu beschränken, daß er die behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht entbinde und sich bereiterkläre, die Handlungen vorzunehmen, die für die Erstellung eines Sachverständigengutachtens erforderlich seien. Die Klägerin habe ihrer im zulässigen Umfang zu verlangenden Mitwirkungspflicht genügt, denn sie habe eine Erklärung des Versicherten über die Befreiung von der Schweigepflicht vorgelegt. Es hätte nun der Beklagten oblegen, Beweis für ihre Behauptung anzubieten, daß die Alkoholabhängigkeit ihres früheren Arbeitnehmers selbstverschuldet gewesen sei. Das sei jedoch erstmals in der mündlichen Berufungsverhandlung und damit verspätet geschehen, folglich nicht mehr zu berücksichtigen.
Dieser Begründung kann nicht in allen Teilen gefolgt werden.
II. 1. Allerdings ist dem Landesarbeitsgericht darin beizupflichten, daß bei dem Versicherten ab 2. Mai 1984 eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit vorgelegen hat, die durch Alkoholabhängigkeit (Alkoholismus) verursacht war. Das Landesarbeitsgericht stützt seine Feststellungen auf die ihm vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen. Das ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Es kann auch nicht angenommen werden, daß der Versicherte nach der "Entgiftungsbehandlung" im Januar 1983 von seiner Abhängigkeit geheilt gewesen ist. Derartige Behandlungen sind im allgemeinen nicht gleichzusetzen mit Entziehungskuren (Entwöhnungskuren), die in Fachkliniken durchgeführt werden und regelmäßig längere Zeit in Anspruch nehmen.
Daß der Versicherte während seines Arbeitsverhältnisses bei der Beklagten, d. h. während eines Zeitraumes von etwa sechs Wochen, nicht durch übermäßigen Alkoholkonsum aufgefallen ist, steht der Feststellung des Landesarbeitsgerichts nicht entgegen. Es entspricht der Lebenserfahrung, daß Alkoholiker ihre Abhängigkeit oft lange Zeit äußerst geschickt vor ihrer Umgebung zu verbergen verstehen.
2. Soweit die Revision die Feststellungen des Landesarbeitsgerichts zur Alkoholabhängigkeit des Versicherten angreift und die Übergehung von Beweisanträgen rügt, bleiben diese Rügen erfolglos, weil sie nicht den Anforderungen entsprechen, die an Verfahrensrügen zu stellen sind.
Bei Rügen nach § 286 ZPO genügt es nicht vorzutragen, das Landesarbeitsgericht habe angetretene Zeugenbeweise nicht berücksichtigt. Es muß vielmehr nach Beweisthema und Beweismittel angegeben werden, zu welchem Punkt das Landesarbeitsgericht zu Unrecht eine Beweisaufnahme unterlassen haben soll. Eine allgemeine Bezugnahme reicht nicht aus, nicht einmal eine solche auf bestimmte Schriftsätze, wenn diese einen größeren Umfang haben oder mehrere Beweisanträge enthalten. Bei umfangreichen Schriftsätzen ist die vorinstanzliche Fundstelle der Beweisanträge nach Seitenzahl genau anzugeben (BAG Urteil vom 23. Februar 1962 - 1 AZR 49/61 - AP Nr. 8 zu § 322 ZPO, zu I der Gründe; BAGE 12, 328, 331 = AP Nr. 22 zu § 620 BGB Befristeter Arbeitsvertrag, zu I 1 a der Gründe).
III. 1. Alkoholabhängigkeit ist eine Krankheit im medizinischen und damit auch im lohnfortzahlungsrechtlichen Sinne. Sie ist rechtlich wie jede andere Krankheit zu behandeln. Gegen den vom Gesetz begründeten Anspruch des aufgrund Alkoholabhängigkeit arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts kann der Arbeitgeber einwenden, der Arbeitnehmer habe sich die Krankheit schuldhaft zugezogen. Das Verschulden des Arbeitnehmers als anspruchshindernden Umstand muß der Arbeitgeber beweisen. Für den Fall einer krankhaften Alkoholabhängigkeit des Arbeitnehmers gilt nichts anderes, abgesehen davon, daß der Arbeitnehmer zur Mithilfe bei der Aufklärung aller Umstände verpflichtet ist, die zu seiner Alkoholabhängigkeit geführt haben. Insoweit wird auf die ausführliche Begründung im Urteil des Senats vom 1. Juni 1983 verwiesen (BAGE 43, 54 = AP Nr. 52 zu § 1 LohnFG, m.w.N.). Hieran wird festgehalten.
2. Das Landesarbeitsgericht wird daher die Sache entsprechend den Grundsätzen aufzuklären haben, die der Senat hierzu in dem erwähnten Urteil vom 1. Juni 1983 aufgestellt hat (BAGE 43, 54, 63, 64 = AP Nr. 52 aaO, zu II 2 und 3 der Gründe).
Dr. Gehring Dr. Olderog Ascheid
Schleinkofer Dr. Koffka
Fundstellen
Haufe-Index 440155 |
EEK, I/935 (ST1-3) |